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Wie schaffen es gerade Mafiosi, so lange unterzutauchen?

Die meisten Verbrecher werden früher oder später gefasst, aber vor allem Mitglieder der italienischen Mafia schaffen es, jahrzehntelang im Untergrund zu bleiben.
Whitey Bulger, die Vorlage für den Bösewicht in Departed – Unter Feinden, 2011 nach seiner Festnahme. Foto Wikimedia Commons / U.S. Marshals Service

Whitey Bulger, die Vorlage für den Bösewicht in Departed – Unter Feinden, 2011 nach seiner Festnahme. Foto Wikimedia Commons / U.S. Marshals Service

Immer mal wieder geht den Strafverfolgungsbehörden ein Mitglied eines italienischen Verbrechenssyndikats ins Netz, das sich seit vielen Jahren auf der Flucht befindet. Eigentlich alle von ihnen gehören zu einer der drei großen Organisationen: der ehemals dominanten Cosa Nostra, der aufstrebenden 'Ndrangheta und der verlässlichen Camorra. Und sie tauchen überall auf der Welt auf: auf abgelegenen Bauernhöfen in Italien (wo ein Boss der Cosa Nostra sich 43 Jahre lang verstecken konnte, bis er 2006 gefasst wurde), in anständigen englische Vororten oder in Recife, Brasilien, wo die dortige Polizei letzten Monat den jüngsten großen Fang gemacht hat: einen Camorra-Boss, der es geschafft hatte, mit neuem Gesicht und neuem Namen eine neue Familie zu gründen—und das für 28 Jahre.

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Wenn du öfters von solchen Langzeit-Flüchtigen liest, dann bekommst du schnell den Eindruck, dass es eigentlich keine große Sache sein kann, so lange unter dem Radar zu bleiben.

Für fast alle anderen Verbrecher sind aber selbst zehn Jahre auf der Flucht etwas unglaublich Außergewöhnliches. Als es US-Beamten 2011 endlich gelang, den berühmt-berüchtigten Bostoner Gangster James „Whitey" Bulger zu verhaften—der Vorlage für Jack Nicholsons Rolle in Departed – Unter Feinden—galt es als großes Wunder, dass er es geschafft hatte, 16 Jahre lang unentdeckt zu bleiben. Diese 16 Jahre waren aber letztendlich auch nur ein Bruchteil von dem, was der eine oder andere flüchtige Mafiosi schafft.

Natürlich schafft es nicht jeder Mafioso, sich über so einen langen Zeitraum dem langen Arm des Gesetzes zu entziehen. 2014 zum Beispiel wurden in Italien weit über 100 Mitglieder der 'Ndrangheta festgenommen. Und nicht jeder Mafioso versucht sich seiner Strafe zu entziehen, indem er flieht und eine neue Identität annimmt. 2011 wurde ein Mitglied der 'Ndrangheta festgenommen, das in einem luxuriös ausgestatteten Bunker auf einem Schrottplatz versucht hatte auszuharren, bis der Trubel um ihn wider abgeflaut war.

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Nichtsdestotrotz fragt man sich allein bei der schieren Zahl von Mafiosi, die es schaffen so lange auf der Flucht zu bleiben, ob diese nicht einfach besser im Verstecken sind als andere Kriminelle—und wenn ja, warum?

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Um herauszufinden, warum wir so viele Geschichten über Mafiosi hören, die seit Jahrzehnten auf der Flucht sind, habe ich mich mit Howard Blum in Verbindung gesetzt. Blum ist ein ehemaliger Investigativ-Journalist der New York Times und Autor des Buches Gangland: how the FBI Broke the Mob, in dem es vor allem um John Gotti, einem Mitglied der amerikanisch-italienischen Gambino-Mafia und seine Flucht vor dem Gesetz geht. Um auch noch etwas über flüchtige Kriminelle zu erfahren, die nicht zur Mafia gehören, habe ich Richard Lehr kontaktiert—einem ehemaligen Investigativ-Journalisten des Boston Globe und Autor der Bücher Black Mass: Der Pate von Boston, The Underboss: The Rise and Fall of a Mafia Family und Whitey: the Life of America's Most Notorious Mob Boss.

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VICE: Ist die italienische Mafia besser als andere kriminelle Vereinigungen darin, Menschen über so lange Zeit im Untergrund verschwinden zu lassen oder außerhalb des Landes zu befördern?
Richard Lehr: Sie verfügt in der Tat über eine Organisationsstruktur, die viele andere Kriminelle nicht haben. Viele flüchtige Normalverbrecher sind auf sich allein gestellt. Das war auch der Fall bei Whitey Bulger. Die Mafia verfügt aber definitiv über eine gute internationale Vernetzung. Wenn also jemand fliehen muss, kann er in irgendeinem fremden Dorf auftauchen und dort ein neues Leben anfangen.

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William Blum: Ich glaube nicht, dass es einen bestimmten Teil in diesen Organisationen gibt, der nur darauf ausgelegt ist, Leute verschwinden zu lassen. Es gibt zwei Dinge: Einmal ist da der gesunde Menschenverstand. Natürlich änderst du dein Aussehen und hältst dich von den Leuten fern, mit denen du früher immer zusammen warst. Zum anderen wirst du es, falls dich doch jemand ausfindig machen sollte, mit Einschüchterungen versuchen. Du arbeitest mit Furcht.

Warum ist es so schwer für normale Verbrecher, alle Verbindungen zu kappen und einfach abzuhauen?
Blum: Ich würde sagen, dass das eine bestimmte psychische Stärke ist, über die manche Menschen verfügen. Die können ihre Vergangenheit einfach hinter sich lassen. Die können jegliche Verbindungen zu ihrer Familie einfach so kappen. Sie könne auch alle Verbindungen zum Mob trennen und isoliert leben. Wenn du es schaffst, das Gangsterleben an den Nagel zu hängen, hast du auch eine wesentlich bessere Chance, mit deiner neuen Identität durchzukommen.

Lehr: Das ist eine der schwersten Hürden für jeden, der auf der Flucht ist. Und es ist schon wirklich beachtlich, wenn es irgendjemand geschafft hat, 20 oder 30 Jahre so zu leben. Vor allem wenn du bedenkst, dass die früher alle mal hohe Positionen hatten.

Wenn du auf der Flucht bist, musst du nicht nur deine ganzen Verbindungen kappen, du musst auch noch einen Weg finden, um [dein Ego] runterzukriegen—oder andere Mittel und Wege zu finden, deine egomanische Ader zu befriedigen. Würdest du eine Untersuchung machen, kämst du wahrscheinlich zu dem Ergebnis, dass viele dieser Leute ziemlich schnell gefasst werden. Sie wissen eben nicht genau, was sie tun. Die wissen nicht, was sie machen sollen, wenn sie nicht mehr an der Straßenecke in ihrer alten Nachbarschaft stehen. Sie rufen also ihre alten Freunde an und bitten die um Hilfe. Und dann haben sie die US Marshals an der Backe. Es braucht schon eine Menge Disziplin unterschiedlichster Art, um so etwas durchzuziehen.

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Warum ist die Mafia so erfolgreich darin, Leute hervorzubringen, die es wirklich schaffen, all ihre Verbindungen zu kappen und dann Jahre oder sogar Jahrzehnte im Untergrund zu leben?
Blum: Ich würde sagen, dass die Organisationsstruktur eine Rolle dabei spielt. Es ist die Mafia und du hast eine bestimmte Position in der Mafia. Es ist deine Identität als Mafioso, die dich zum Teil der Gruppe macht. Du bist ein Soldat. Du bist ein Capo. Du bist jemand in dem Regime. Sobald du dich selbst von dieser Gruppe trennst, sobald du nicht mehr diese Identität hast, definierst du dich neu. Und du lebst dann diese neue Definition von dir.

Du bist vielleicht noch immer ein harter Hund, aber eben nicht mehr der harte Hund der Mafia. Du hast keine anderen Mafiosi mehr, die dir den Rücken stärken. Du lebst also vorsichtiger und bescheidener.

Wie schaffen es Mafiosi, so weit zu fliehen und dann ohne ihre Gangs zu überleben?
Blum: Leute, die Zugriff auf irgendwelche Geldmittel haben, kommen weiter und können länger im Versteck überleben.

Lehr: [Whitey] wusste, dass er wahrscheinlich eines Tages untertauchen muss. Also versteckte er Geld in Schließfächern. Wenn du es schlau angehst, planst du für solche Eventualitäten vor. [In der Mafia] können sie dir, wenn du einen Weg findest und noch angesehen bist, aushelfen und dir alles besorgen, was du brauchst.

Von den nicht-Mafiosi haben das aber nicht viele. Die sind auf sich allein gestellt. Und es ist riskant und dumm, seine alten Nachbarn anzurufen und zu sagen, „Hey, ich brauch etwas Unterstützung."

Noisey: Nur weil du der Pate gesehen hast, bist du nicht in der Mafia.

Wie außergewöhnlich ist es für den Durchschnittsverbrecher, über Jahrzehnte dem Gesetz zu entfliehen?
Lehr: Ich habe keine Zahlen oder Daten, aber aus meiner Erfahrung mit den US Marshals, deren Job es ist, Flüchtige zu finden, würde ich sagen, dass [Bulger] zu einer absoluten Minderheit von Leuten gehört, die es schaffen so lange auf freiem Fuß zu bleiben, ohne irgendwelchen Mist zu bauen.

Wie viele seit langer Zeit gesuchte Verbrecher und Mafiosi sind momentan auf der Flucht?
Blum: Ich glaube, es sind ziemlich viele. Je länger du von Zuhause weg bist, desto besser kommst du damit durch—wenn du [dein altes Leben] nicht zu sehr vermisst. Letztendlich können viele von ihnen aber einfach nicht ändern, wer sie sind.