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Sex

Wir brauchen eine neue Männlichkeit

Warum Männer einen neuen Bezug zu ihrer Sexualität bitter nötig haben und wieso sie vom Feminismus profitieren können.

Immer öfter höre ich von meinen männlichen Freunden, dass ihr Interesse an kommerziellen Pornos abnimmt. Diese Jungs gehören zur ersten Generation, die mit akzeptablem Internetanschluss ins Teenageralter startete und mit dem Aufkeimen ihrer Lust erste Klickversuche im Universum der Mainstreampornografie unternahm. Sie mussten sich also nicht erst überlegen oder gar experimentieren, wie das mit dieser feuchtfröhlichen Sache in etwa ablaufen könnte. Sie wurden von Pornhub aufgeklärt, bevor sie überhaupt den ersten Zungenkuss erlebt hatten. Ganze 91 % der männlichen Jugendliche gaben einer Studie der Zürcher Fachstelle für Sexualerziehung an, Pornografie zu konsumieren. Diese jungen Männer bekamen die Antworten auf ihren Fragenkomplex zur Sexualität auf einem trügerischen Silbertablett serviert. Der via Internet vermittelte Sex ist denkbar einfach: Grosser Penis, harter Penis, Frau, die schon willig ist oder grobschlächtig willig gemacht werden muss, stöhnende Frau. Orgasmus, natürlich mit Ejakulation. Volle Pulle, am besten ins Gesicht. Für jemanden, der mit der Mainstream-Pornografie aufgewachsen ist, sind Sex und Porno kaum mehr auseinanderzuhalten.

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Laut einer Studie der Niedersächsischen Landesmedienanstalt könnten Pornos die Vorstellung junger Menschen von Sex sowie ihr Wertverständnis beeinflussen. Möglicherweise werden bestimmte sexuelle Muster durch die ständige Wiederholung in den Filmen auch im Gehirn programmiert. Für die Entwicklung eigener sexueller Fantasien ist bei jungen Menschen kaum noch Raum. Die Drehbücher der Pornos dienen ihnen als Vorbild, wie die Studie ausführt. Wie die Befragung der Jugendlichen ergeben hat, dienen Pornos ausser der Erregung vor allem zum Angeben und zum Lernen über Sexualität.

Unser VICE-Autor, der beim Porno-Dreh mit Bonnie Rotten dabei war, berichtet von professioneller und äusserst mechanischer Arbeit, bei der es nicht um Lust, sondern um die Bewirtschaftung einer Geldmaschinerie geht. Porno-Sex ist eher Sport, bestehend aus viel Schweiss und noch mehr Körperflüssigkeiten. Am Set arbeiten Menschen, die dafür verantwortlich sind, dass alles schön steif bleibt und die Penisse auf Kommando wieder ihre Arbeit aufnehmen können. Auch wenn Jungs aus meiner Generation von Müttern erzogen wurden, die ihnen hoffentlich liebevoll erklärt haben, dass Pornografie kaum etwas mit "echtem Sex" zu tun hat—wirklich geglaubt hat das kaum einer von ihnen, da Klassenkameraden und Nachbarskinder in ihren wilden Räubergeschichten vom Gegenteil berichteten.

Dieser Generation Männer wurde von Anfang an eingeimpft, was sie zu wollen haben. So steht kaum ein heterosexueller Mann dazu, gerne einmal analen Sex mit einem männlichen Partner ausprobieren zu wollen. Teenager werfen sich nach wie vor Wörter wie "Schwuler" als Schimpfwort an den Kopf. Kaum ein Hetero-Mann kann öffentlich sagen: "Ich stehe auf deutlich ältere Frauen." Oder auf Dicke. Oder darauf, dass man mir den Hintern versohlt oder mich meine Ehefrau mit dem Strap-On penetriert. Das gesellschaftliche System gibt vor, dass all diese Dinge kein "normaler" Mann will. So haben Jungs gelehrt, das zu wollen, was die kommerzielle Pornoindustrie als normal propagiert. Denn Jungen wollen zu normalen—das heisst akzeptierten—Männern heranwachsen. Wie jeder Mensch akzeptiert werden will.

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Gleichzeitig wird diesen Jungs erzählt, dass Frauen auf Dildos stehen, dass wir—wenn wir "zickig" sind—einfach mal wieder genommen werden müssen und ganz grundsätzlich sowieso immer weniger Lust haben als Männer. Jungs und Mädels werden gleichermassen in solche Vorstellungs-Korsette geschnürt. In diesem Korsett brav agierend, schlagen sich also die Jungen ihre nicht normkonformen Wünsche aus dem Kopf und unterdrücken jede Abweichungen von der akzeptierten Norm (so wie auch Frauen jedes Intim-Haar ins Nirwana verbannen oder ihre inneren Schamlippen chirurgisch verkleinern lassen).

Wenige dieser Jungs wachsen zu Männern heran, die sich trauen, einzufordern, was sie wirklich wollen. Gestern Abend sass ich mit einem Bekannten bei einem Glas Wein zusammen. Er ist schwul und hat es nicht so sehr mit Beziehungen. "Drei meiner aktuellen Lover sind verheiratet und haben Kinder", bestätigt er meinen Verdacht. Wer sich im Geheimen ausleben muss, hat etwas zu verlieren. Seine Liebhaber treffen sich heimlich mit ihm und spielen ihren Frauen ein stereotypes Familienleben vor. Aber auch in einer funktionierenden Hetero-Ehe trauen sich kaum Männer, jene Bedürfnisse zu artikulieren, welche nicht als klassisch männlich gelten.

Foto von Digboston | Flickr | CC BY 2.0

Männern wurde beigebracht, dass ihre Sexualität bedrohlich ist. Sie hätten einen dominanteren Sexualtrieb als die Frau, seien vielmehr Opfer ihrer Triebe. Einen Monat keinen Sex zu haben, drückt dementsprechend stark auf das eigene Ego und lässt Männergruppen scharenweise in Clubs durchdrehen. Der Zustand "Underfucked" ist in solchen Kreisen eine akzeptierte Ausrede fürs "Druck abbauen"—dumme Anmachen und Po-Grapscher inklusive.

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Männer haben das Gefühl eingeimpft bekommen, ein Recht auf die Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse zu haben. Noch in den 60er-Jahren galt das "Vernachlässigen der ehelichen Pflichten" als Scheidungsgrund. Auf Gesetzesebene ist dieses patriarchale Artefakt zwar seit einigen Jahrzehnten abgeschafft, doch die Realität in Schweizer Schlafzimmern sieht oft anders aus. In gewisser Weise verstehen es Männer deshalb—wenn auch unbewusst—oft als Pflicht ihrer Partnerinnen, mit ihnen zu schlafen. Sex ist demnach etwas, was sie bekommen. Etwas, was ihre Partnerinnen ihnen geben.

Ein kleines Beispiel: Dass die Partnerin zum Orgasmus kommt, ist vielen Männern wichtig, um sich selbst als guten Liebhaber zu verstehen. Es geht hierbei vielmehr um das Ego des Mannes, als um den eigentlichen Höhepunkt der Frau. Dementsprechend schlechte Liebhaber gibt es auch: Wenn der Mann früher zum Abschluss kommt als seine Partnerin, ist dann oft Game over. Nur weil "er" nicht mehr steht, muss das aber nicht bedeuten, dass frau nicht auf ihre Kosten kommen kann. Habt ihr euch einmal überlegt, wie es sich anfühlen würde, wenn ihr kurz vor dem Orgasmus steht und eure Partnerin mit den Worten "Danke Schatz, ich bin gekommen. Ich liebe dich." von euch runterklettert, und einschläft?

Für die nicht allzu empathischen Zeitgenossen: Es fühlt sich scheisse an. Ich käme mir benutzt vor, wenn mein Partner sich befriedigt zusammenrollt und dankbar wohlig wegpennt. Eine logische Konsequenz wäre, dass ich je länger je weniger Lust hätte, mit einem solchen Partner zu schlafen. Der Sex wird so also tatsächlich zu einem Gegenstand, der dem Mann gegeben wird und nichts, was man gemeinsam erlebt und teilt.

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Nicht selten höre ich von männlichen Bekannten Sätze wie: "Meine Freundin lässt mich nicht ran." Genau das verschafft Frauen Macht über seine Sexualität und verunmöglicht eine Sexualität auf Augenhöhe. Es gilt als normal, dass Männer Frauen erobern, sie zu Sex drängen und überreden. Im besten Fall verführt der Mann die Frau. Im schlechtesten vergewaltigt er sie.

Foto von Digboston | Flickr | CC BY 2.0

Frauen wird von klein auf vermittelt, dass Sex Macht ist. Macht, die sie über Männer haben können, solange dieses ungleiche Verlangen nach Koitus aufrecht erhalten wird. Dieser Logik folgend sollte sich eine Frau also nicht zu leicht hergeben, er soll sie begehren, er soll das Bedürfnis haben, etwas bei ihr "bekommen" zu können.

Empfindet die Frau aber selbst Lust und verleiht sie dieser Ausdruck, dann verspielt sie diese höchste Karte. Wer rumvögelt, verliert dadurch sein Druckmittel. Also wird Mädchen beigebracht, dass Sex etwas bleiben muss, auf das sich die Frau einlässt. Etwas, was sie für ihren Mann tut. Frauen, die Sex für sich beanspruchen, gelten noch immer als nymphoman und als Schlampen. Sex als Druckmittel zu verwenden, ist in unserer westlichen Gesellschaft für Frauen hingegen akzeptiert. Männer und Frauen befinden sich, wenn es um Sex geht, noch tief in Geschlechterrollen.

Die Ziele der Gleichberechtigungsbewegung sind eben genau deshalb nicht nur auf Frauen ausgerichtet. Auch Männer können davon profitieren, dass sich alle Menschen aus geschlechterspezifischer Unterdrückung befreien. Wer seine Kinder nicht mehr in Korsette stecken möchte, hat jetzt die Möglichkeit, diese abzulegen und sich Gedanken über echte Freiheit zu machen. Erst am 27. April dieses Jahres hat der Schweizer Nationalrat darüber entschieden, frischgebackenen Vätern keinen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub zu gewähren. Haben Männer kein Recht darauf, ihre Kinder aufwachsen zu sehen? Ist es die Pflicht eines "echten" Mannes, seine Familie alleine ernähren zu müssen?

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Feminismus sollte endlich als gemeinsame Bemühung in Richtung Gleichberechtigung verstanden werden. Insofern können und sollen Männer Feministen sein und dabei helfen, dass dieses Wort nicht mehr so fürchterlich nach Kampf schmeckt. Denn es geht nicht um einen Kampf von Frauen gegen Männer. Erst das sexistische System macht uns zu Gegenparteien. Nun geht es darum, dass jeder Mensch zu dem Menschen werden kann, der er werden will. Die Geschlechterbesessenheit schwächt uns alle.

Nadja auf Twitter: @NadjaBrenn

VICE Schweiz auf Twitter: @ViceSwitzerland


Titelbild von Digboston | Flickr | CC BY 2.0