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DIE LITERATURAUSGABE 2014

Wir schauen die Bäume an

Es ist 1:57 Uhr. Millie Anthony liegt im Bett. Das Zimmer ist still. Ihre Augen sind offen. Jeff, neben ihr, schläft. „Wir schauen wieder die Bäume an“, sagt sie.

Dann tritt er fest in die Bremse. Die Hinterräder drehen durch. Schneiden in das Gras. Bringen Schlamm zum Vorschein. Er wird hier wieder parken. Genau hier. Sitzt. Das ist nur ein Manöver, denkt er, ein Transport. Keine große Sache. Bereitet sich darauf vor. Auf das Graben. Schließlich steigt er aus. Geht zum Kofferraum. Nimmt eine Taschenlampe heraus. Dann einen Feldstecher, hängt ihn sich um den Hals. Nimmt eine kleine Kamera heraus. Steckt sie in seine Tasche. Nimmt ein Buch heraus, Vögel in Nordamerika: Ein Führer zur Artenbestimmung in der Natur. Nimmt die alte Schaufel in die andere Hand. Schließt den Kofferraum. Blickt sich genau um. Nimmt die Kamera raus. Fotografiert vor sich. Ost. Süd. Und West. Steckt sie wieder ein. Geht in den Wald. Es ist grau. Am Himmel ist ein Splitter des Mondes zu sehen. Es riecht gut. Hie und da fliegen Vögel durch die Bäume. Ringeltauben wahrscheinlich. Flattern.

Jeff geht an 36 Kiefern vorbei. 14 Eichen. Acht Scharlach-Eichen. 24 Eiben. All diese Nummern und Baumarten schreibt er in ein Notizbuch. Im Licht der Taschenlampe. Er wird diesen Ort wieder finden müssen. Er bleibt stehen. „Okay“, sagt er. Und beginnt, das Grab zu schaufeln. Millie ist im Schlafzimmer. Sie hat geduscht. Nasses Haar. Nackt. Vor dem Spiegel stehend. Starrt in ihr Gesicht. Auf ihren Körper. Auf sich selbst. Sie fährt mit ihrem Daumen sanft über die blasse, mehr als 10 Zentimeter lange Narbe, die von ihrem Schlüsselbein zur Brust führt. Franks Narbe. Vom vierten Mal Schläge. Dem letzten Mal. Sie hört Jeff mit dem Auto zurückkommen. Sie sieht sich im Spiegel an. Sieht ihr Gesicht an. Millie. Millie sagt: „Ha.“ Zwingt sich dazu, sich anzulächeln. Geht zum Bett. Zieht ihre Jeans an. Ein Sweatshirt. Stiefel. Jeff in der Küche. Stehend. Und Millie kommt rein. Sie sehen sich an. „Bist du okay?“, sagt er. Sie nickt. „Du?“ „Mir geht es gut“, sagt Millie. „Bist du hungrig?“ „Ich esse später“, sagt er, „graben wir ihn aus—‚es’ aus.“ Er lächelt sie an. Sie lächelt zurück. „Es könnte widerlich sein“, sagt er. „Vier Jahre.“

An der Stelle. An dem Flecken Erde. Die Schaufel gleitet in die Erde. Und wieder raus. Und rein. Jeff gräbt. Millie sieht zu. Ein fremdes Geräusch. Jeff hört auf. Starrt hinunter. Millie kommt näher. Jeff gräbt weiter. Sachte, vorsichtig. Wie ein Archäologe. Sieht einen dreckig-weißen Ring eines Duschvorhangs. Benutzt die Schaufel wie einen Besen. Kehrt sanft. Kratzt. Jetzt das dreckige Duschvorhang-Leichentuch. Franks Body darin eingewickelt. Nichts von ihm ist sichtbar. Nur ein Umriss. Frank, die Mumie. Jeff macht eine Pause. Atmet schwer. Und in seinem Kopf singt Levi Stubbs. Dieser letzte flehende Schrei: „Bernadette!“ Er blickt Millie an. Voller Liebe. Gräbt weiter. Zusammen schaffen sie es, den Umriss aus der Erde zu holen. Ihn auszupreisen. Beide atmen schwer. Sie waren schon einmal hier, aber jetzt ist es einfacher. Was einmal beinahe 100 Kilo gewogen hat, wiegt jetzt nicht einmal mehr 20. Der Geruch—schwach, aber da. Hängt. Schwebt. Die Note eines Geruchs. Nach Pilz und doch süß. Nach Mandeln. Wie Zuckerglasur. Nein, das nicht. Es ist, was es ist—der Geruch eines toten Ehemanns. Jeff sagt: „Kannst du ein paar alte Zeitungen holen und den Kofferraum auslegen?“ Millie geht ins Haus. Jeff blickt auf den Körper. „Ich hebe dich jetzt auf, Freund.“ Er hat das schon einmal gesagt. Vor vier Jahren. Hebt das Ding auf seine Schulter. Wie eine tote Maus, denkt er, wie eine große tote Maus. Trägt es zum Auto. Millie legt den Kofferraum noch fertig aus. Jeff lässt den Körper reinfallen. Auf die Zeitungen. Es landet mit einem leisen Geräusch. Ein matter Seufzer. Sie sehen sich an. Er schlägt den Kofferraum zu. Millie setzt sich auf den Beifahrersitz. Schnallt sich an. Sitzt. Jeff steigt ein. Startet den Motor. Auf der Straße. Fahren. Millie sagt: „Lass uns wo hingehen. Ein Bier trinken.“ „Ist das dein Ernst?“, sagt er. „Ein Bier trinken, Musik hören, ein bisschen Spaß haben.“ Er blickt sie an. Fährt. Blickt in Millies Gesicht. Er lacht. „Nein, lass uns das lieber nicht machen. Machen wir das ein andermal.“ Sie zuckt mit den Schultern.

Sie kommen also zum Wald. Parken an derselben Stelle. Jeff hebt das tote Ding auf seine Schulter und sie gehen rein. Es ist dunkler. Rauchige Wolken verdecken den Mond. Aber Millie hat die Taschenlampe, und Baum für Baum finden sie das frisch gegrabene Loch. Werfen den Körper hinein. Schaufeln Erde drauf. Bedecken es mit Blättern, Ästen und Moos. Und es ist getan. Sie gehen zurück zum Auto. „Es ist nicht hier entlang— dort“, sagt er. „Bist du sicher?“, sagt sie. „Ja“, sagt er. Und er hat Recht. Sie kommen zum Auto. Steigen ein. „Er ist jetzt weiter weg“, sagt Jeff. Millie richtet ihren Gurt. Sagt nichts. „Wenn wir zurückkommen, verbrennen wir die Zeitungen und füllen das Loch.“ Sie nickt. Jeff startet den Wagen. Sagt, „das wäre erledigt.“ Sie fahren nach Hause. Es ist 1:57 Uhr. Millie Anthony liegt im Bett. Das Zimmer ist still. Ihre Augen sind offen. Jeff, neben ihr, schläft. Er schnarcht nicht wirklich, atmet nur tief. Ein und aus. Ein und aus.

Sie sieht den Baum draußen vor dem Fenster. Er schwankt leicht. Manchmal streicht er über die Glasscheibe. Ein und aus. Ein und aus. Ich bin ein Totenkopf mit einem Goldzahn. Ein Skelett mit einer losen Armbanduhr. Ich bin im Dreck. Das Plastik um meinen Kopf ist alles, nur nicht verrottet, und Stücke papierenen Fleischs hängen noch immer an meinen dünnen Knochen. Um mich herum treiben meine Kreditkarten und ein bemoostes Portemonnaie, rot-braune Tausendfüßer, fette Holzläuse, verschiedene Maden. Wälder sind ruhig. Ich werde schwächer. Ich schwinde Sekunde für Sekunde. Ich zerfalle. Löse mich auf. Schwächer. Nur kaum bin ich Dampf auf Glas. Form in Schnee. Mann im Supermarkt. Schrei im Wind. Und niemals Bäume. Einige Jahre werden vergehen, bis er wieder ausgegraben und noch weiter weg begraben wird. Aber heute, gerade jetzt, sitzen Millie und Jeff in einer Bar. Trinken Bier und hören Musik. Louis Mellis hat an den Drehbüchern zu Sexy Beast (2000) und 44 Inch Chest (2009) mitgeschrieben.