Wir waren auf einem 10-tägigen Sex-Kunst-Festival in Berlin
Foto: Joachym Ettel

FYI.

This story is over 5 years old.

Sex

Wir waren auf einem 10-tägigen Sex-Kunst-Festival in Berlin

150 Menschen zwischen Mitte 20 und 70 zelebrieren zehn Tage lang auf einem Bauernhof Sex und Orgien und die Suche nach der ultimativen Freiheit.

Zwei Männer, beide um die 30, mit langem, dunklem Haar und beide nackt. Sie jagen sich im Slalom um die Zelte. Sie sind so schnell, dass die Haare wehen. Grillen zirpen, eine Mutter stillt ihr Kind, ein weißer Schmetterling fliegt vorbei. Auf einer Matratze mitten auf der Wiese liegt eine Frau auf einem Mann, sie schlafen miteinander. Auf der Hollywoodschaukel sitzt ein Paar Anfang 50. Sie sehen sich nicht an, sie berühren sich nicht, sondern sprechen leise. Im Gegensatz zu den meisten anderen sind sie komplett angezogen, obwohl es warm ist: Hose, Socken, Schuhe, T-Shirt, Strickjacke. Vielleicht sehen sie auch deshalb etwas verklemmt aus. Dann schmiegt sie sich langsam an ihn.

Anzeige

Zwischen Scheune, Zeltplatz und BDSM-Pferdestall leben seit neun Tagen 150 Menschen auf einem Bauernhof-Areal am südlichen Rand Berlins. Bis zur Scheune in der Mitte des Grundstücks bleiben sie angezogen—hier könnten die Nachbarn lugen—, dahinter sind viele nackt: Sie haben Sex auf der Wiese; mit zwei, drei oder vier Leuten; kleiden sich heute als Mann, morgen als Frau.

Für das Spiel mit den Geschlechtern haben die Organisatoren einen Verkleidungsfundus aufgebaut, das passiert aber eher abends. Jetzt, mittags, ist es warm und viele sind nackt und nur mit Farbe angemalt. Besonders oft zu sehen: Körper blau, Penis rot. Das Liebeskunstfestival läuft seit neun Tagen, die Hemmungen sind gefallen. Im Kontrast zu den angezogenen, angestrengt blickenden Leuten in der S-Bahn, die einen hierhin bringt, wirkt alles auf dem Hof wie eine gleichsam schillernde und absurde Parallelwelt.

Alle Fotos, wenn nicht anders angegeben: Joachym Ettel

Konstantin hatte die Idee, ein solches Festival zu veranstalten, gleich nachdem er den Bauernhof vor drei Jahren gekauft hatte. Er und seine Frau sind hier die Gastgeber. Konstantin und den vier anderen Organisatoren ist eines wichtig: Es gehe nicht um Polygamie. Die Gruppe sieht sich als Gegenentwurf zu schnellem, anonymem Großstadt-Sex; aber auch zur Monogamie. Ihr Stichwort ist Freiheit, ihr Beziehungskonzept: gar keines.

Aber finden sie hier auf einem ehemaligen Bauernhof die perfekte Liebe in der Liberalität? Sind es Menschen, die ihr Glück auf den Wiesen und in der Scheune finden? Ist es die geballte Ladung Hippie-Esoterik mit befremdlichen Ritualen? Oder sind es einfach nur ein paar Leute, die mal mehrere Tage hintereinander wild vögeln wollen?

Anzeige

Hier sind Alt-Hippies und Menschen, die aussehen wie Büroangestellte. Menschen, die von Energieflüssen sprechen, stehen neben Frauen, die im "echten" Leben Biologie-Professorinnen sind. Offensichtlich haben sie auf dem Bauernhof tatsächlich alle Sex. Der entscheidende Unterschied zu einer Swinger Party: Es ist persönlich. Jeder ausgelebten Fantasie begegnen sie am nächsten Tag wieder. Wer sie am Vorabend gefesselt hat, sitzt beim Mittagessen in der Scheune neben ihnen. Der Organisator Konstantin nennt sich selbst "Gemeinschaftsleiter". Aber eigentlich gibt es nur eine einzige Regel: "Hier darf alles geschehen, was nicht auf Kosten Dritter geht", sagt er.

Das Programm ist voll mit Workshops. Es gibt Kurse in "Orgasmic Breathing", Tantra-Massagen, Orgien. David gibt erotische Tanzkurse. "Eigentlich kommen die Leute nur zu uns, um zu hören: 'Ihr dürft'", sagt er. "Manchmal reicht es schon zu sagen: Ihr dürft jetzt euren Partner anfassen." Alles weitere passiere dann von allein, auch der Sex. Der Mensch als Marionette seiner Verbote im Kopf, der jemanden braucht, der ihm sagt, dass er seine Seile jetzt selbst abschneiden darf.

Wäre die Welt anders, wenn wir alle unsere Triebe frei ausleben würden? Wären garstige Chefs weniger gemein, wenn sie nicht sexuell frustriert wären? Gäbe es die AfD unter Umständen gar nicht, weil niemand so viel fehlgeleitete Wut in sich trüge? Wie viel besser wäre die Welt, wenn wir nackt und bunt angemalt durch die Gegend laufen würden? Für viele hier ist das die Idealvorstellung von Freiheit. Das Liebeskunstfestival wirkt wie ein kleines Musik-Festival, auf dem die Leute einfach noch ungehemmter sind, eben nicht im Busch, sondern mitten auf der Wiese Sex haben, auch nüchtern und tagsüber—und mit weniger Musik eben. Andererseits: Will überhaupt jeder hier mit einem der 150 anderen Festival-Besucher schlafen beziehungsweise den anderen—zehn Tage lang—dabei zusehen?

Anzeige

Eine Organisatorin telefoniert vorher mit jedem einzelnen Teilnehmer, es ist eine Art Test. Wer auf die Frage, warum er herkommen will, keine Antwort hat, fällt durch. Die Hälfte der Besucher stammt aus dem Umkreis der "Gemeinschaft", also Freunde und Bekannte der Organisatoren. Oft sind es Menschen, die in ihrem Beruf mit Sex zu tun haben, etwa als Dozenten oder Sexualtherapeuten. Die anderen sind einfach Leute, die auf die Website gestoßen sind und sich angemeldet haben. Doch melden sich Menschen hier wirklich an, um—wie Konstantin sagt—Beziehungskonzepte über Bord zu werfen und "Freiheit zu wagen"? Oder zahlen Menschen die 600 Euro für das Liebeskunstfestival nicht einfach für die gute Chance auf sehr viel Sex?

Finn (26) | Foto von der Autorin

Finn, 26, ist der Jüngste hier; brauner Pferdeschwanz, leichter Bartansatz, rot lackierte Fingernägel. Er sitzt auf der Wiese und malt. Mit seiner Freundin hat er über Polyamorie nachgedacht und ist auf die Website gestoßen. Er sah dort die Bilder vom letzten Jahr; von Menschen, die sich in malerischer Umgebung als Knäul im Schlamm wälzen. Mit seiner Freundin ist er hergekommen, um von anderen zu lernen, wie eine Alternative zur Monogamie aussehen kann, die nicht "heimlich fremdgehen" heißt.

Unter-18-Jährige können sich nicht anmelden. Nach Finn, dem Jüngsten, gibt einige Menschen um die 30, die meisten sind älter, der Älteste um die 70. "Was soll das Problem mit älteren Menschen sein?", fragt Finn. "Ich hatte gestern ein sehr sexuelles Erlebnis mit einer 57-Jährigen. Wir haben gespielt, es war wunderschön, was soll damit sein?"

Anzeige

Schlammig: Solche Bilder haben Finn (26) gereizt, teilzunehmen

Anfangs fand Finn die Gesprächsrunden zu "eso-mäßig". Jeden Morgen sitzen gut hundert Menschen nackt in dem weißen Zelt, einer kommt in die Mitte und spricht über etwas, das ihn bewegt: Eifersucht in Dreierkonstellationen; Komplexe, die sie aufgrund ihres Körpers haben; die letzte Nacht. Aber Finn meint, damit habe er jetzt an Tag neun auch kein Problem mehr. Er habe hier Schritte in seiner Sexualität gemacht, für die er sonst Jahre gebraucht hätte. "An einem Abend habe ich mir ein schwarzes Lederkleid angezogen", sagt er. "Dann saßen wir bei Seani Love, einem behaarten, bärigen Typen, und er fragte, wem er den Arsch versohlen soll. Ohne zu wissen warum, sagte ich Ja. Also lag ich im Lederkleid auf dem Schoß des haarigen Typen und ließ mir den Arsch versohlen, er hat mir auch an den Beinhaaren gezogen. Es gab in diesem Moment nichts, was ich mehr gewollt hätte als das."

Seani Love hat 2015 den Preis als "Sex Worker des Jahres" bekommen und ist einer der Dozenten. Finns Freundin liegt während unseres Gesprächs im Zelt, seine Entwicklung mache ihr Angst, sagt Finn.

Daniel (34) hat sich für das Interview ein Tuch umgelegt | Foto von der Autorin

"Ich weiß gar nicht, wie ich da draußen wieder durch die Straßen gehen soll, durch den Supermarkt", sagt Daniel, der Mann in Grün und sonst nichts. An Tag eins ist er mit Nina zusammengekommen, die eigentlich anders heißt, aber Angst hat, dass ihr Arbeitgeber erfährt, dass sie auf dem Liebeskunstfestival war. Sie haben sich beim Zeltaufbauen kennengelernt, seitdem schlafen sie nur miteinander, nicht mit anderen Leuten. Daniel läuft an diesem Tag die meiste Zeit breit grinsend mit anderen Bemalten über das Gelände.

Anzeige

"Irgendwann hat es mich schon auch aufgeregt, das ganze Gestöhne hier", sagt Nina. Im Zelt nebenan hat eine Frau einen Orgasmus. In Ninas Blick ist ein "Oh Mann" zu lesen—zur Erinnerung, Tag neun.

Was Nina gut fand: Sie fühlt sich jetzt als Frau stärker. In einer Vulva-Ausstellung legten sich die Frauen mit gespreizten Beinen hin, ab dem Bauch aufwärts verdeckt von einem Laken, und präsentierten ihre Vulven. Die anderen konnten vorbeigehen, sich fünf Minuten davorsetzen und die Vulven betrachten. Die Aktion war eine Reaktion auf den Trend, dass Frauen sich die Schamlippen operieren lassen—sie wollten zeigen, dass Vulven schön sind, wie sie eben sind. Nina meint, Aktionen wie diese haben sie selbstbewusster gemacht. Und Daniel nehme sie auch mit von diesem Festival. "Ich werde meinen Kollegen dann sagen, wir haben uns auf einem normalen Festival in Berlin kennengelernt", sagt Nina.

In einem Zeltaufbau läuft ein Dirty-Talk-Workshop. Menschen laufen herum und sagen sich unter Anleitung Dinge, die erst gar nichts und dann immer mehr mit Erotik zu tun haben. Manche wirken dabei wie Zehntklässler bei einer Theaterübung, nur mit lüsternem Blick. Unter der kalten Dusche gegenüber stehen zwei Männer und eine Frau. Ein Mann mit Septum-Piercing bekommt von ihr gerade einen Klaps auf den Po. Die Menschen dort scheinen Spaß zu haben. Am Abend werden sie alle ein letztes Mal aufdrehen, zur Porno-Party mit Giesbert, der eine Dildo-Performance zeigt. "Ich weiß nicht, wie es danach weitergeht", sagt der Mann mit Septum. "Vielleicht bleibe ich einfach hier."

Dass hier Menschen wohnen, soll tatsächlich Dauerzustand werden. "Ich träume davon, dass hier bald um die 20 Menschen leben", sagt Konstantin. Er macht eine Geste über das Areal, wo gerade bunte Fahnen hängen und und aus manchen Ecken und Zelten leises (oder lautes) Stöhnen dringt. "Das ist dann aber viel mehr Alltag, nicht dasselbe Leben wie jetzt während des Festivals. Manche Leute vergessen in der Euphorie während des Festivals die langweilige Routine: Kinder in die KITA zu bringen, zu arbeiten, einzukaufen, zu kochen. Trotzdem sind wir nicht nur WG, sondern mehr."

Die Organisatoren selbst sehen das Festival als Forschungsprojekt zum Thema freie Liebe. Als sehr lebendiges Forschungsprojekt: "Wir stecken emotional voll mit drin, das ist unser eigenes Leben", sagt Konstantin. Heute, an Tag neun, ist er müde. Immer wieder kommen Menschen zu ihm, er und sie berühren sich, sie sehen sich lange in die Augen und sprechen leise ein paar Worte. Mal geht es um Organisatorisches, mal um Sex.

Finden sie hier auf einem ehemaligen Bauernhof die von Zwängen befreite Liebe? Wollen sie einfach nur vögeln? Vermutlich beides. Vielleicht zeigt es am meisten, dass Liebe und Freiheit Worte sind, die jeder benutzt, aber die für jeden etwas ganz anderes bedeuten. Egal mit welchem Motiv die 150 Teilnehmer gekommen sind, aus irgendeinem Grund leben sie hier nach neun Tagen ohne große Hemmungen. Menschen sind Tiere, die Liebe brauchen. Doch anscheinend brauchen viele erst ein malerisches Setting und die Worte "Du darfst", bevor sie machen, was sie wollen.