Mit Birdly verleiht dir die virtuelle Realität Flügel
Alle Bilder: Emanuel Maiberg

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Mit Birdly verleiht dir die virtuelle Realität Flügel

Ich habe ein neues Schweizer System für ausprobiert, das mich per Ganzkörper-Feedback über San Francisco schweben ließ.

Mein Blick ist nach unten gerichtet, während ich versuche es mir auf der gepolsterten Liege bequem zu machen. Kopfhörer und Oculus Rift sind um meinen Kopf geschnallt. Ich schlage mit den Flügeln und schwebe plötzlich über San Francisco. Unter mir tut sich die Market Street auf.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich den ewigen menschlichen Traum vom Fliegen einmal in meiner eigenen Haut verwirklichen würde. Aber das neue Virtual-Reality-System  Birdly lässt mich tatsächlich mit meinem ganzen Körper fliegen wie ein Vogel. Ich durfte einen Prototypen der neuen Entwicklung in einem Nebengebäude des schweizerischen Generalkonsulats in San Francisco ausprobieren.

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Der Birdly bedeutet für seine Nutzer nicht nur eine Menge Spaß, sondern wendet sich endlich auch einer großen Schwäche bisheriger Virtual-Reality-Gadgets zu: Während es zwar immense Fortschritte bei Bildqualität und Latenzzeit zu verzeichnen gibt (so dass den Trägern nicht schlecht wird), wurde ein anderes Problem—eine Art  Uncanny Valley der virtuellen körperlichen Wahrnehmung—bisher weitgehend ignoriert: Je realistischer die virtuelle Welt aussieht, umso auffälliger wird es, dass die Wahrnehmung deiner anderen Sinne nicht mit der Simulation übereinstimmt. Du fliegst durch Welten voller Alienraumschiffe, die vor deinen Augen in 3D erscheinen; du „erlebst" virtuelle Pornographie oder du steuerst einen Militärpanzer mit Hilfe der Datenbrillen—und trotzdem tasten sich deine Hände und dein Geruchssinn immer noch durch deine triste unmittelbare Umgebung, in der du vermutlich auf einem schnöden, verklebten Stuhl sitzt.

Birdly dagegen zieht deinen ganzen Körper in die virtuelle Realität hinein. Die zahlreichen Inputsignale und Feedbackmechanismen in einem eigenen Flug selbst zur erleben, sollte eine ziemlich beeindruckende Erfahrung sein.

Birdly - Teaser from maxR on Vimeo.

Der Simulator wurde von Max Rheiner und seinem Team des Interaction Design-Studiengangs an der Zürcher Hochschule der Künste mit der finanziellen Unterstützung der Tierschutzorganisation  BirdLife entwickelt.

In den ersten zwei Prototypen von Birdly hattest du das Vergnügen über Renderings ländlicher  Gegenden der Schweiz zu fliegen. Die aktuelle Version spricht nun auch deinen Geruchssinn an. Je nachdem über welche Landschaft du gerade schwebst, wird eine steuerbare Menge frischer Luft und simulierter Düfte ausgestoßen, die der Pflanzenwelt oder anderer natürliche Gerüche der Schweizer Landschaft entsprechen.

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Für die Simulation San Franciscos griffen Rheiner und sein Team nun auf detaillierte 3D-Kartendaten der Firma PLW Modelsworks zurück, um die urbane Landschaft als virtuelle Realität zu rendern. Und die angenehmen Schweizer Aromen ersetzten sie durch die typische Duftkulisse des Viertels Tenderloins wie zum Beispiel Urin oder in der Sommerhitze lagernde Hausmüll.

ES IST DIE ultimative FREIHEIT, ABER letztlich ist ES ein BETRUG.

Ich strecke meine Füße nach oben und schiebe meinen Kopf über die Kante. Meine beiden Hände hake ich in zwei Schlaufen ein, mit denen ich die Unterarmstützen bewegen und steuern kann. Jetzt kann ich dank dem Birdly mit den „Flügeln schlagen".

Meine Flügelspitzen bewege ich, indem ich mein Handgelenk leicht drehe, sodass ich im Sturzflug mit der Nase voraus Richtung Straße segele. Gleichzeitig passt die gepolsterte Plattform mit einem seitlichen Motor die Lage meines Körpers dem Winkel des Sturzflugs an. Einmal fühle ich mich, als würde ich im 90° Winkel mit dem Kopf nach unten stehen. Fabian Troxler, der an der Herstellung der Vorrichtung beteiligt war, erzählte mir, dass einige der anfänglichen Testflüge damit endeten, dass der ein oder andere mit dem Kopf voraus in den Boden krachte.

Vorne am Gerät ist ein Ventilator angebracht, der sich der Geschwindigkeit meines Sinkflugs anpasst und mir den Gegenwind realistisch ins Gesicht peitscht. San Francisco wurde zwar nicht ganz wahrheitsgetreu nachgebaut, aber das Gefühl aus mehreren hundert Metern Höhe Richtung Market Street zu stürzen, ist dennoch so real, dass mir dabei ganz mulmig im Bauch wird. In letzter Sekunde drehe ich meine Handgelenke in eine andere Richtung, ziehe nach oben und flattere wie verrückt mit meinen Flügeln, um an Höhe zu gewinnen. Umso höher der Windwiderstand wird, umso schwieriger wird das Fliegen.

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Nach einer Minute verschwindet die reale Welt um mich herum zunehmend, und ich habe meinen Flug vollkommen unter Kontrolle. Ich bin einfach ein kleines süßes Vögelchen, das um die Transamerica Pyramide und zwischen Wolkenkratzern herumfliegt und gemütlich über der Stadtlandschaft an Höhe gewinnt.

Birdly ist nicht das einzige Virtual-Reality-Gadget dieser Art. Auch die Firma Virtuix hat das Problem des Uncanny Valley körperlicher Wahrnehmung erkannt und bietet ähnlich wie auch der  österreichische Cyberith eine Ganzkörperlösung an. Zum Beispiel mit ihrem Apparat Omni, einem 370 Euro teuren Natural Motion-Interface, dessen Erscheinung irgendwo zwischen einem Laufband und einem vibrierenden Anti-Bauchspeck-Gürtel liegt.

Omni schafft es, die Gesichtsbrille Oculus Rift im echten Leben noch ein wenig idiotischer aussehen zu lassen. Und auch wenn du damit unmittelbar durch eine Ego-Shooter-Ballerei laufen kannst, so lässt die Praktikabilität dennoch zu Wünschen übrigen. Die Feedbackmechanismen sind aber trotzdem eher mangelhaft und um in der virtuellen Welt herumzurennen, musst du auch in der Wirklichkeit deine Beine anstrengen. Der Chef von Virtiux, Jan Goetgeluk, sieht dementsprechend auch noch große Problem bis das Ganzkörperfeedback eines Tages marktreif sein wird.

„Taktiles Feedback richtig hinzubekommen ist sehr schwierig; genauso wie es dann auch noch für die Nutzer bezahlbar zu machen. Das zusätzliche Immersionsgefühl durch die Einbeziehung von körperlicher Fortbewegung rechtfertigt heute noch nicht extrem hohen Kosten."

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YEI Technology wiederum hat ein Virtual-Reality-Interface entwickelt, das mit Sensoren arbeitet, die in Echtzeit die Bewegungen deines Körpers tracken. Mit ihrem PrioVR ist so eine Art Ganzkörpersteueurung möglich. Im Grunde genommen handelt es sich um einen Sensorenanzug, der jede deiner Bewegungen erfasst und auf einen Bildschirm überträgt.

„Unsere Körper erlauben uns eine natürliche und intime Interaktion und Verbindung mit unserer Umwelt", sagt der Chefentwickler von YEI Paul Yost. Für ihn ist klar, dass die ultimative VR-Lösung alle Sinne ansprechen muss und das Feedback unserer Wahrnehmung in der echten Welt für die virtuelle Realität simulieren muss: „Das wird irgendwann passieren. Momentan arbeiten wir aber immer noch daran, dass alle Hauptbestandteile richtig funktionieren, sodass die Technologie glaubwürdig wird und eine mitreißende Erfahrung schafft, die sich natürlich anfühlt."

Birdly ist ein Vorgeschmack darauf, wie eine überzeugendere Lösung vielleicht aussehen könnte. Rheiner ließ sich vom altbewährten Traum der Menschheit, fliegen zu können, inspirieren, der sich letztlich meist vollkommen von unseren bisher möglichen Flugerfahrung oder Flugsimulatoren unterscheidet:

„Mit Birdly wollten wir erreichen, dass du wirklich deinen Sinnen freien Lauf lassen kannst und einfach das Gefühl zu fliegen genießen kannst."

Birdly ist aber noch lange nicht perfekt. Ständig spüre ich den Druck meines Gewichts auf der Liegeplattform, besonders bei der Fahrradsitz-ähnlichen Ausbuchtung in meinem Schritt. Als ich richtig schnell werde und scharfe Kurven fliege, höre ich auch die elektrischen Motoren neben mir laut und deutlich, die bei meinem virtuellen Flug kaum nachkommen.

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Der Input meiner Bewegungen und das Feedback, was ich im Gegenzug wahrnahm, fühlen sich dennoch aussagekräftig genug an, um mich zu überzeugen. Ich bemerke gar nicht, wie realistisch meine Erfahrung wirklich ist, bis ich mein Headset schließlich abnehme. Als ich wieder auf den Boden der Realität lande, ist das ziemlich deprimierend.

Birdly funktioniert auch deshalb, weil Rheiners sich nicht nur in Sachen Technik oder Game-Design auskennt. Er begann seine Ausbildung mit Elektrotechnik, wechselt zur Software-Entwicklung und landete schließlich an der renommierten Zürcher Kunsthochschule, wo er einen Abschluss in Medienkunst machte.

Der Einfluss der Kunsthochschule ist überdeutlich. Rheiner spricht weder von Investoren, noch von kommerziellem Potential. Stattdessen redet er über Traumlandschaften, Medien und Körperlichkeit:

„Ich unterrichte an der Universität zum Thema Interaktion. Meine Forschung konzentriert sich vor allem darauf herauszufinden, welche anderen Sinne wir ansprechen könnten. Momentan arbeiten wir mit Audio und Video, und die Hände kommen auch zum Einsatz, aber das war's. Bestimmte Informationen oder Erfahrungen kann man aber einfach nicht mit den Augen wahrnehmen. Das schränkt enorm ein. Deshalb suche ich nach anderen Wegen, unsere gesamte Körperlichkeit mit einzubeziehen."

Rheiner erzählte mir, er wolle schon bald noch einen Schritt weiter gehen und verschiedene Arten von Träumen simulieren. Dafür will er eine neue Vorrichtung entwickeln, auf der man sich beinahe schwerelos fühlt. Traumlandschaften würden dem Nutzer ermöglichen, „durch Klangwelten zu fliegen und Klänge abzuschießen"—und dann wiederum das Feedback dieser Klänge zu hören, fügte Rheiner hinzu. „Du hast eigentlich keine Ahnung, was du tust, aber es fühlt sich gut an. Solche Dinge wollen wir simulieren."

Nach meinem Test mit Birdly wird mir klar, was Rheiners Ansatz so vielversprechend macht. Eine wahrhaft überzeugende Virtual Reality darf sich nicht nur auf die visuelle Wahrnehmung verlassen. Wir werden die bestehenden Formen von Sensoren, Input und Feedbackmechanismen ausdifferenzieren und verändern.

Es ist eher unwahrscheinlich, dass Birdly oder ähnliche Geräte in der nahen Zukunft außerhalb von Galerien, Museen oder Universitätsprojekten zum Einsatz kommen. Aber dennoch ist der simulierte Vogelflug körperlich aufregender, als alles, was die Videospielbranche bisher mit der Technologie anstellen kann. Wenn die Game-Industrie clever ist, dann nimmt sie Entwickler wie Rheiner zum Vorbild.