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Sex

10 Fragen an einen Blinden, die du dich niemals zu stellen trauen würdest

Wirst du anders geil als sehende Männer? Wäre deine Freundin nicht heiß, würdest du das gern wissen? Wie sind Drogen- und Alkoholräusche für dich?
Ein Mann mit Hut, Sonnenbrille und Blindenstock

Ich habe Stephan bei der Blindenführung auf der Venus kennengelernt, als ich herausfinden wollte, wie Blinde die Erotikmesse wahrnehmen. Dort hielt er mir sein Mikrofon vor die Nase, als ich gerade einen Reizstromvibrator abtastete. Stephan, 35, macht Podcasts und schreibt über barrierefreie Apps und das Leben mit Sehbehinderung.

Er lebt in Berlin, ist ausgebildeter Bürofachmann und hat eine einjährige Tochter. Seit seiner Geburt ist Stephan stark sehbehindert. Als Kind hatte er etwa fünf Prozent Sehkraft, konnte also noch Umrisse erkennen. Heute kann er noch hell und dunkel unterscheiden und mitunter ganz große Flächen. Menschen oder Gegenstände erkennt er nicht. Weil er sehr blendempfindlich ist, geht er nie ohne Sonnenbrille aus dem Haus.

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Stephan (in der Mitte) mit Freunden auf der Venus | Foto: Grey Hutton

1,2 Millionen Menschen in Deutschland sind blind oder sehbehindert, so eine Studie, die der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband zitiert. In Österreich haben laut Mikrozensus-Studie 318.000 Personen dauerhafte Probleme mit dem Sehen. Im Gespräch mit Stephan habe ich festgestellt, dass ich mir das Leben dieser Menschen nur schwer vorstellen kann. Ich hatte die banalsten Fragen: Wie nutzen sie Facebook? (Über die Sprachausgabe oder eine anschließbare Braillezeile). Gehen sie ins Kino? (Ja, die App Greta kann Blinden erklären, was gerade auf dem Bildschirm passiert.)

"Immer her mit den Fragen", sagte Stephan. Für ihn ist das Leben der Sehenden oft auch ein Mysterium. Wie kann es zum Beispiel sein, dass ich so viele Details wahrnehme—und die Eindrücke mein Gehirn nicht überfluten? Wie kann ich beim Autofahren gleichzeitig auf die Straße und auf den Tacho schauen? Während der Blindenführung auf der Venus betasteten Stephan und ich Gummipuppen, tranken Likör aus Penisflaschen und lernten, wie Dildos aus Fichtenholz gedrechselt werden.

Danach haben wir beschlossen, dass wir das Fragespiel fortsetzen müssen.

VICE: Wirst du anders geil als sehende Männer?
Stephan: Ich weiß ja nicht, wie sehende Männer erregt werden. Aber so anders wird das nicht sein: anfassen, schmecken, riechen. Was Pornos angeht: Audiotechnisch sind Pornos für Sehende für mich eher langweilig. Die Audiospur ist meist minderwertig. Mit dem Gestöhne kann ich nichts anfangen.

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Dafür gibt es bei Pornhub eine Funktion, bei der eine, meist weibliche, Stimme erklärt, was gerade auf dem Bildschirm passiert. Erotische Literatur als Hörspiel funktioniert auch gut. Und außerdem habe ich zwei gesunde Hände und Kopfkino. Nur dass ich mir da keine Bilder vorstelle, sondern Berührungen oder wie sich mein Körper bewegt. Düfte sind leider schwer in Erinnerung zu rufen.

Du hast deine Freundin noch nie gesehen. Wäre sie nicht heiß, würdest du das gern wissen—oder soll man dir so etwas verschweigen?
Man kann mir das schon sagen, aber es wäre mir egal. Für mich ist sie ja heiß. Sie fühlt sich gut an, hat eine nette Stimme und macht die richtigen Dinge zur richtigen Zeit. Und "noch nie gesehen" stimmt ja so auch nicht. Ich seh sie ja—mit meinen Händen.

Hättest du die Möglichkeit, dich selbst zu sehen, würdest du das tun—oder lebt man besser, wenn man das nicht weiß?
Ich habe mein Spiegelbild noch nie gesehen und ich fühle mich ziemlich attraktiv. Ich weiß, ich habe ein kleines Bäuchlein, aber mir geht es gut dabei. Es wäre auch unklug, sich hässlich zu fühlen. Das macht nur das Selbstwertgefühl kaputt und dadurch finden die anderen einen auch weniger schön. Ich weiß, dass in der Gesellschaft bestimmte Schönheitsbilder vorgegeben sind. Aber die sagen mir ja nichts. Genauso wie der Fakt, dass ich braune Haare habe.

Klar, ein bisschen eitel sei er schon, sagt Stephan. Auch wenn er sich selbst nicht sehen kann, der Großteil der Welt kann das ja schon | Foto: privat

Ist Dating nicht ziemlich Kacke ohne Tinder?
Ein Tinder für Blinde gibt es jetzt nicht direkt. Aber meine Freundin habe ich online kennengelernt, in einer WhatsApp-Gruppe für Sehbehinderte. Auch sie ist sehbehindert. Eigentlich ging es in der Gruppe um Technik-Neuigkeiten. Aber es gibt auch spezielle Gruppen und Mailinglisten, die als Partnerbörsen funktionieren.

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In Whatsapp-Gruppen tauschen wir Sprachnachrichten aus—und glaub mir, es geht da viel geordneter zu als in Gruppen für Sehende. Ich habe mir mal so einen Chat von meinem iPhone vorlesen lassen—was für ein Chaos! Da redet ja jeder durcheinander. Was Onlinedating angeht: Es gibt spezielle Datingplattformen für Menschen mit Behinderung, die meisten lassen sich aber Profile von normalen Datingplattformen von der Sprachausgabe vorlesen. Am Mac benutze ich eine "Braillezeile"—das ist ein kleines Gerät, das den Text auf dem Bildschirm in Punkteschrift abbildet.

Ist es naiv zu denken, Blinde seien weniger oberflächlich?
Ja! Wir sind nur anders oberflächlich, zum Beispiel, was Fühlen oder den Geruch angeht. Ich persönlich stehe auf erotische Stimmen. Ich sage auch zu Fremden: Du hast eine tolle Stimme, du könntest Hörbücher lesen. Ich habe auch von Blinden gehört, die nur Blondinen daten—obwohl sie das nicht erkennen können. Oberflächlichkeit ist eine Charaktereigenschaft. Daran ändert das Sehvermögen nichts.

Ist es genauso naiv zu denken, dass Blinde weniger rassistisch sind?
Blinde können sowas von rassistisch sein! Es gibt auch rechte Blinde. Auch wenn sie nicht die Hautfarbe sehen können, sagen sie Nigger. Daran sieht man, wie absurd Rassismus ist. Es beruht nicht darauf, was wir tatsächlich wahrnehmen.

Wie sind Drogen- und Alkoholräusche für dich?
Nicht so viel anders als für Sehende. Marihuana entspannt. Beim Alkohol wird die Orientierung schwierig. Ich torkle und laufe gegen Sachen. Wobei ich nie viel trinke, weil ich vom Alkohol eher schlafen will. Einen Filmriss hatte ich noch nie. Und LSD habe ich noch nie probiert.

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Ist Reisen für dich nicht langweilig?
Logischerweise bin ich nicht so der Sightseeing-Typ. Aber wenn es zum Beispiel bei den ägyptischen Pyramiden schöne Musik gibt, ich da reinklettern kann, und mir jemand ihre Geschichte erklärt, wird es schon wieder interessant. Und ich mag auch die Wärme in den Südländern.

Es gibt Reisen extra für Blinde und Sehbehinderte, bei denen ein Assistent oder ein Audioguide alles beschreibt. Aber anstatt mich zwischen die Touris zu drängeln, würde ich eher irgendwohin fahren, wo ich etwas spüre. Zum Beispiel auf eine Wellnessreise nach Finnland, oder auf einen Abenteuertrip mit Kanus.

Tut der Gedanke weh, dass deine einjährige Tochter sich bald besser in der Welt orientieren können wird als du?
Nein. Es ist ja nicht so, dass sie meine Blindenführerin wird. Das möchte ich keinem Kind zumuten. Ich hab einen Blindenhund und einmal die Woche kommt eine Haushaltshilfe vorbei. Ich putze auch selbst, aber seit ich ein Kind habe, hilft sie mir, damit es hier wirklich sauber ist, auch die Sachen, die ich nicht sehe.

Ich kann meine Tochter selbst wickeln und füttern. Auch wenn alles länger dauert, weil ich zum Beispiel ihren Mund beim Füttern ertasten muss. Außerdem werde ich Elternassistenz beantragen, damit ich mit meiner Tochter auch zum Arzt gehen kann. Normalerweise habe ich kein Bedürfnis, voll zu sehen. Ich bin ein glücklicher Mann. Aber wenn ich mir eines aussuchen dürfte, was ich kurz sehen könnte, dann wäre das meine Tochter.

Gibt es Dinge, bei denen du ganz froh bist, sie nicht sehen zu müssen?
Ja, manchmal bin ich echt froh, dass ich das ganze Elend nicht sehen muss. Oder die Kriegsszenen in den Nachrichten. Ich habe auch gehört, dass die Berliner mit mürrischen Gesichtern durch die Stadt laufen. Davon bekomme ich natürlich nichts mit.