Das andere Amerika hinter dem ,Redwood Curtain'

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The Make Believe Issue

Das andere Amerika hinter dem ,Redwood Curtain'

Nordkalifornien ohne Neo-Hippies, Gras und Dreadlocks.

Aus der Make Believe Issue 2015

Curran Hatleberg hält sich zurzeit irgendwo in Nordflorida auf. Mal wohnt er in seinem Auto, mal auf den Sofas seiner Freunde. Nomadische Lebensumstände wie diese sind für den 33-Jährigen nichts Neues: Er hat den Südwesten der USA sechs Monate lang in einem Trailer bereist, bis er das Umhertingeln beendete und nach Florida zog. Das Sich-Treiben-Lassen ist Teil seines künstlerischen Prozesses—er fährt solange ohne ein bestimm­tes Ziel umher, bis er auf ein Motiv trifft, das ihn anspricht. „Ich muss dann unbedingt aus dem Auto steigen und zu Fuß weitergehen", erzählte mir Hatleberg. „Manchmal sind es nur ein paar Leute, die draußen unterwegs sind. Ich gehe mit der Kamera in der Hand einfach auf sie zu, stelle mich vor und verbringe etwas Zeit mit ihnen." Das verleiht den Bildern Hatlebergs ihre natürlich wirkende Unmittelbarkeit: „Nach einer Weile nehmen die Leute mich gar nicht mehr wahr."

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Hatlebergs in Kürze erscheinender erster Fotoband Lost Coast bringt dieses geduldige Beobachten deutlich zum Ausdruck. Letztes Jahr hat Hatleberg seine Streifzüge unterbrochen, um am College of the Redwoods in Eureka, Kalifornien, Fotografie zu unterrichten und die Einwohner sowie die landschaftliche Umgebung abzulichten. „Ich habe mich noch nie so lange an einem Ort aufgehalten", meinte er. „Das hat meine Arbeitsweise stark verändert." Da passt es ganz gut, dass die Abbildungen in Lost Coast die Tausenden Dreadlocks tragenden Neo-Hippies und freizügigen Absolventen der Geisteswissenschaften außen vor lassen, die durch die Stadt ziehen, um auf einer der zahlreichen Grasfarmen des Humboldt County Marihuana zu trimmen. Stattdessen konzentrieren sich seine Bilder auf die alteingesessenen Bewohner der Stadt. Viele von ihnen schätzen ihre Unabhängigkeit so sehr, dass sie trotz der desolaten Wirtschaftsbedingungen in der Region ein Leben in Isolation hinter dem sogenannten „Redwood Curtain", im abgeschiedenen Nordwesten Kaliforniens, gewählt haben.

Dennoch besitzen die Fotografien eine gewissermaßen psychoaktive Färbung, die sie aus den überdimensionalen, unberührten Urwäldern und dem dunstig-atmosphärischen Licht über der nordkalifornischen Küste gewinnen. „Die Landschaft dort ist sehr psychedelisch", erklärte Hatleberg. „Sie hat etwas Majestätisches, Prähistorisches. Insbesondere ihre mächtigen, alles überragenden Gewächse—Mammutbäume, die sich über die Klippen bis hinunter zum Pazifik ausbreiten. Doch es ist auch ein Ort extremer Gegensätze. Hinter der erhabenen Fassade der Natur trifft man auf die bekannten Probleme des Kleinstadtlebens—Drogenmissbrauch, wirtschaftliche Not. Die Menschen leben in einer Art Traumzustand, gestützt auf die Mythologie des pazifischen Nordwestens. Man sieht alles wie durch einen Nebelschleier. Selbst jetzt ist mir dieser Ort ein Rätsel."

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—MATTHEW LEIFHEIT

Curran Hatleberg ist Stipendiat des Magnum Foundation Emergency Fund 2015 und des Individual Photographer's Fellowship 2014 der Aaron Siskind Foundation. Diese Fotografien zeigen eine Auswahl der mehr als 60 Bilder aus seinem Fotoband „Lost Coast", der im September erscheint.