Eine blaue, eine orangene und eine lila Hand verschränken die Hände miteinander; das Bild steht symbolisch für eine polyamore Beziehung
Illustration: Djanlissa Pringels
Menschen

Meine Freundin möchte eine polyamore Beziehung, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das auch will

"Ich will nichts erzwingen, aber woher weiß ich, welche Art von Beziehung für mich passt?"

"Frag VICE" ist eine Artikelreihe, bei der uns Leserinnen und Leser bitten, ihnen bei verschiedenen Problemen zu helfen - egal, ob es sich um Beziehungsprobleme oder den Umgang mit nervigen Mitbewohnern handelt. Dieses Mal hoffen wir, bei der Entscheidung für oder gegen eine polyamore Beziehung zu helfen.

Anzeige

Hi VICE,

ich bin jetzt seit einigen Jahren mit meiner Freundin zusammen. Nennen wir sie Olivia. Wir wohnen nicht zusammen, aber bis vor Kurzem haben wir fast jeden Tag zusammen verbracht. Wir arbeiten in der gleichen Werbeagentur, so haben wir uns auch kennengelernt. Sie ist ohne jeden Zweifel die Liebe meines Lebens, und ich glaube, ich bin auch ihre.

Wegen der Arbeit müssen wir oft verreisen, also haben wir uns schon am Anfang unserer Beziehung darauf geeinigt, dass wir mit anderen Leuten schlafen dürfen. Das war nie wirklich ein Problem für uns. Sie weiß gerne, mit wem ich Sex habe, während ich keine Details über ihre Abenteuer hören muss. Ich war schon manchmal eifersüchtig, aber niemals unglücklich. Diese Art der Beziehung hat für uns perfekt funktioniert. Unsere einzigen Regeln waren, dass wir mit anderen geschützten Sex haben und am Wochenende Zeit als Paar verbringen.

Vor drei Monaten hat mir Olivia erzählt, dass sie sich in einen anderen verliebt hat. Er lebt in einem Land, das sie oft für die Arbeit besucht. Sie sagt, dass sie mich liebt und unsere Beziehung nicht beenden möchte, aber sie will auch mit diesem anderen Typen zusammen sein. Sie habe schon länger darüber nachgedacht, sagt sie. Ihre vorherigen Beziehungen endeten, weil Monogamie nichts für sie ist. Jetzt, wo sie diesen anderen kennengelernt hat, habe sie erkannt, dass sie nicht nur eine offene Beziehung möchte, sondern polyamor ist. Zuerst war ich geschockt, aber ich habe bald zugestimmt. Ich glaube auch, dass es schön wäre, mit anderen Menschen zusammen zu sein, und solange Olivia glücklich ist, bin ich glücklich. 

Anzeige

Aber ich habe auch Zweifel. Ich sitze seit einem Monat mit Burnout zu Hause fest, und ich habe nicht wirklich die Energie, mich mit den Veränderungen auseinanderzusetzen, die eine polyamore Beziehung mit sich bringt. Immer öfter ist sie am Wochenende nicht zu Hause, weil sie ihren neuen Lover besucht. Sie hat sogar gesagt, sie würde eigentlich lieber die Hälfte der Zeit mit ihm im Ausland leben.

Ich könnte mir auch jemand Neues suchen, aber dafür fehlt mir die Energie. Ich bin bei Tinder, aber oft vergesse ich, auf Nachrichten zu antworten. Nach ein paar Stunden in einer Bar sehne ich mich nach meinem Bett. Und in diesen Momenten vermisse ich Olivia. Ich will nichts erzwingen, aber wo liegt meine Grenze? Woher weiß ich, welche Art von Beziehung für mich passt?

M.


Auch bei VICE: Umfrage: Wann ist Ghosting erlaubt?


Hi M.,

immer mehr Menschen erforschen Alternativen zur Monogamie und probieren Polyamorie aus. In Deutschland gaben 2017 bei einer Umfrage drei Prozent der Befragten an, schon einmal in einer polyamoren Beziehung gewesen zu sein. Zwölf Prozent gaben an, sich diese Beziehungsform vorstellen zu können.

Hinter der Eifersucht und den sozialen Normen wartet eine Reihe aufregender Perspektiven: sich wieder zu verlieben, das Sexleben aufzupeppen und das eigene Konzept der Liebe neu zu definieren. Aber der Übergang zur Polyamorie ist nicht einfach und erfordert viel Fingerspitzengefühl und Ausprobieren mit den Menschen, die man liebt.

Anzeige

"Dein Burnout muss Priorität haben", sagt der Sexualtherapeut Yuri Ohlrichs vom Rutgers Wissenszentrum für Sexualität. Auch wenn du dich vielleicht unter Druck gesetzt fühlst, große, tiefgreifende Veränderungen vorzunehmen, müssen deine Partnerin und du anerkennen, dass es dir im Moment nicht gut geht. Dadurch kann es dir schwerer fallen, deine Grenzen zu erkennen. "Wenn jemand ein gebrochenes Bein hat, fährt man nicht zusammen in den Skiurlaub", sagt Ohlrichs.

Tatsächlich solltest du dich fragen, ob dein Burnout nicht zumindest teilweise mit dieser Beziehungsherausforderung zusammenhängt. "Wenn das der Fall ist, solltest du dir gezielt Hilfe suchen, zum Beispiel über eine Beziehungstherapie", empfiehlt er. Alternativ kannst du deine Partnerin bitten, es langsamer anzugehen und vielleicht etwas konservativere Grenzen setzen, die sich mit der Zeit verschieben können. "Letztendlich kommt es auf deine eigene Einschätzung an, womit du im Moment zurechtkommst", sagt Ohlrichs.

Leider gibt es keine Standardlösung, um die Grenzen in einer Beziehung festzulegen. Der beste Weg ist oft, alle möglichen Szenarien auszuprobieren. Aber ein Burnout ist bei dieser Art des Experimentierens nicht hilfreich. "Ein Burnout bedeutet normalerweise, dass die eigenen Grenzen bereits überschritten wurden", sagt Ohlrichs. "Deswegen kann man oft nicht mehr genau einschätzen, was man braucht."

Anzeige

Dennoch gibt es einige Fragen, die du dir stellen kannst. Habt ihr über jede Entscheidung ausreichend gesprochen? Ist dir das wichtig? Hast du manchmal das Gefühl, dass du keine Wahl hast? Werden deine Grenzen berücksichtigt, wenn du sie aufzeigst?

"Es gibt bei diesem Prozess ein paar klare Regeln, und eines steht fest: Wenn man eine schöne, gleichberechtigte Beziehung mit mehreren Leuten haben möchte, müssen alle an den Entscheidungen zu dieser Beziehung beteiligt sein", sagt Ohlrichs.

Im Endeffekt kommt es auf klare und ehrliche Kommunikation an. Natürlich ist das leichter gesagt als getan, besonders weil das für euch beide eine neue Entwicklung ist. "Ihr solltet vermeiden, euch gegenseitig die Schuld dafür zu geben, was falsch läuft", rät Ohlrichs. "Sag offen, was du im Moment brauchst. Das Gleiche gilt für sie. Und wenn du dir bei manchen Dingen nicht ganz sicher bist, hab keine Angst, später noch einmal darüber zu reden. Wenn du irgendwann zu dem Schluss kommen solltest, dass Polyamorie wirklich etwas für dich ist, oder du sie zumindest ausprobieren möchtest, solltet ihr die Regeln für die Beziehung zusammen aufstellen."

Möglicherweise wird dir aber auch klar, dass du etwas anderes möchtest. Vielleicht ist es dir wichtig, deine Freundin weiterhin regelmäßig zu sehen, was nicht funktionieren würde, wenn Olivia ins Ausland zieht. Die goldene Regel ist auch Kommunikation, damit ihr aufrichtige Entscheidungen treffen könnt.

"Es gibt viele Zwischenfragen, die ihr beantworten müsst, bevor ihr euch wirklich für eine Beziehungsform entscheiden könnt", fasst Ohlrich zusammen. "Wie auch immer diese Fragen ausfallen: Vernachlässigt nicht eure eigenen Bedürfnisse und kümmert euch umeinander. Denn wenn du eine Entscheidung triffst, hinter der du nicht vollkommen stehst, werdet ihr darüber beide unglücklich sein."


Folge VICE auf TikTok, Facebook, Instagram, YouTube und Snapchat.