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The Boys Of Summer (Ataris Version) Issue

Die tragische Geschichte vom Affen-Löwe

Noch vor zehn Jahren war Changoleón („Affen-Löwe“) nur einer unter vielen obdachlosen Alkoholikern, die ziellos in den Vierteln der mexikani­schen Stadt Coyoacán umherirrten, plötzlich wurde er zu einem der der umstrittenste Fernsehstars Mexikos.

Fotos von Miguel Dimayuga und Abelardo Martin

Changoleón, höchstpersönlich. In der riesigen Metropole Mexiko-Stadt, in der es von Obdachlosen, Bettlern, Schnorrern, Verrückten und Aussteigern nur so wimmelt, gilt jener Mann, den jeder als Changoleón kennt, vielleicht als der bekannteste Vagabund. Kurioserweise glauben viele seiner Fans, dass er bereits tot ist. Andere kennen zwar die Fakten, doch die meisten von ihnen würden Changoleón lieber als berühmten Leichnam verehren, als sich mit den unschöneren Seiten seines Alltags auseinanderzusetzen. Diese Konfusion ist das Ergebnis einer traurigen und bizarren Reihe von Vorfällen, die vom wohl größten Feind der Wahrheit in Gang gesetzt wurde: dem Reality-TV. Noch vor zehn Jahren war Changoleón („Affen-Löwe“) nur einer unter vielen obdachlosen Alkoholikern, die ziellos in den Vierteln der mexikani­schen Stadt Coyoacán umherirrten. In seinem früheren Leben, als er noch Samuel Gonzalez Quiroz hieß, schien zunächst alles in Ordnung zu sein mit ihm. Er studierte an der Freien Nationalen Universität von Mexiko—der größten im Lande—wollte eine Karriere in der Psychologie einschlagen und eine Familie gründen. Irgendetwas ist dann total schief gelaufen. Keiner weiß genau, was passiert ist, denn die Geschichten über Changoleóns früheres Leben erzählt jeder anders. Auf jeden Fall lebte er in den nachfolgenden Jahren in erbärmlichen Zuständen und war alkoholabhängig. 2002 sollte sich Changoleóns Leben für immer ändern: Der aufsteigende Comedystar und Fernsehmoderator Facundo Gómez Brueda entdeckte ihn auf der Straße und witterte das krude, versoffene komödiantische Potenzial des Obdachlosen. Als Nächstes fand sich Changoleón in der Latenight-Sketch-Comedy Toma Libre wieder, die seit 2004 auf dem Sender Televisa läuft und deren Name soviel bedeutet wie „Filme, was immer du willst“. „Mein Name ist Samuel Gonzalez Quiroz, der Affen-Löwe!”, brüllte Changoleón bei seinem ersten Fernsehauftritt. Schon bald war er eine mexikanische Mediensensation. Seine Popularität legte noch mal zu, als Facundo zur etablierten Prime-Time-Comedy-Show Incógnito wechselte und seinen unbeholfenen Gegenspieler mitnahm. Changoleón war der Traum jedes Produzenten: Die Kinder liebten ihn, die heiß begehrte Zielgruppe der 18- bis 25-Jährigen vergötterte ihn und die Älteren fanden ihn saukomisch. Im ersten Drittel des Jahres 2006 erreichte der geliebte Changoleón den Höhepunkt seiner Popularität. Jeder Mexikaner mit Fernseher kannte den runzligen Mann mit den strähnigen grauen Haaren, den schlaff herunterhängenden Klamotten und der großen Lücke in den Vorderzähnen. Er war bereits über 60, aber die permanente Betrunkenheit verlieh ihm eine kindliche Ausstrahlung. Vor laufender Kamera betrank er sich während im Hintergrund „The Lion Sleeps tonight“ lief, sang, flirtete mit gut aussehenden Mädchen und probierte ungelenke Martial-Arts-Bewegungen. Währenddessen lispelte er ständig und aus dem Stehgreif irgendetwas vor sich hin. Während in Amerika die improvisierte Street-Comedy zu dieser Zeit bereits durch Standardformate gezähmt war, wurde in Mexiko das Reality-TV gerade erst entdeckt. In der von Telenovelas, Fußball und abgedroschener Slapstick-Comedy beherrschten Medienlandschaft wirkte eine TV-Show, die das wirkliche Leben nachstellt, wie ein Schock. Als 2002 die mexikanische Version von Big Brother anlief, waren die Zuschauer entrüstet, dass die Bewohner hier jeden Tag 24 Stunden lang gefilmt werden. Facundo brachte die Reality-Comedy nach Mexiko. Seine Show enthielt Nummern, in denen er ausschweifende Spring-Break-Partys stürmte, Mädchen überredete, sich in öffentlichen Parks auszuziehen oder Kinder losschickte, um auf der Straße irgendwelche Fremden zu fragen, warum sie so fett seien. Facundo wurde zum mexikanischen Äquivalent von Tom Green, Johnny Knoxville und Howard Stern, er verkörperte sie alle in einer Person. Changoleóns Auftritte aber waren die einzigen wirklich improvisierten Teile der Show, und für viele war er der eigentliche Star. Facundo hatte einen vergessenen und todgeweihten Obdachlosen erfolgreich zum ersten Reality-TV-Star gemacht. Changoleón hatte etwas erreicht, wovon viele nur träumen: Er wurde berühmt und zwar über Nacht und ohne etwas dazu zu tun. Plötzlich aber, im März 2006, verschwand er von der Bildfläche. Zwei Monate später, am 1. Mai, gab der bekannteste Nachrichtensprecher Mexikos, Charlos Loret de Mola, in seiner Sendung Primero Noticia bekannt, dass Changoleòn an einem Herzinfarkt gestorben sei. Facundo bestätigte die Meldung und fügte hinzu: „Er ist vergangenen Sonntag an einem Herzstillstand gestorben, er hatte Diabetes, Bluthochdruck und war alt.“ Während der nächsten Tage verbreitete sich die Nachricht überall und die wichtigsten Zeitungen Mexikos druckten Todesanzeigen für Samuel Gonzalez Quiroz. Ein Nachruf würdigte ihn als „charismatische Persönlichkeit, der aus einem bekannten Viertel jeder beliebigen Stadt hätte sein können; die Kehrseite dessen, was wir gewöhnlich im Fernsehen zu sehen bekommen. Er war der mitleiderregende Typ, der seine Arbeit, seine Familie und seine Würde durch den Alkohol verloren hat.“ Auf den Blogs trauerte ganz Mexiko und schrieb Abschiedsgrüße. In der Incognitó-Folge vom 3. Mai nahm Facundo noch einmal zum nun eineinhalb Monate zurückliegenden mysteriösen Verschwinden Changoleóns Stellung und erklärte, dass er sich in einer Entzugsklinik aufgehalten habe und kurz nach seiner Entlassung gestorben sei. Dann nahm die Geschichte eine absurde Wendung: Einen Tag, nachdem Facundo den Tod Changoleóns bestätigt hatte, gab die Gerichtsmedizin von Mexiko-Stadt bekannt, dass sie keine Leiche erhalten habe, die mit Changoleòn identisch wäre. Noch beunruhigender war die Meldung der Justizbehörde der Stadt, nach der an dem besagten Tag und in dem entsprechenden Viertel auch keine Leiche geborgen wurde. Nachdem der Autor dieses Artikels Changoleón endlich aufgestöbert hatte, wollten wir eine Porträtreihe mit ihm fotografieren, doch der Affen-Löwe war nirgends zu finden. Drei Monate später, während deren die Gerüchteküche brodelte, waren wir uns ziemlich sicher, dass wir Changoleón in einer Bar in Acapulco finden würden. Wir schickten sofort einen Fotografen los, der ihn auch innerhalb von 15 Minuten fand. Changoleón posierte für die Kamera und blödelte herum, als würden wir eine Folge Incógnito drehen. Noch am selben Abend zog Facundo seine Version in Incógnito zurück. Er erklärte stattdessen, dass Changoleón noch lebe und zu einem späteren Zeitpunkt in die Show zurückkehren werde. Dem Publikum versprach er, die ganze Sache aufzuklären, widmete der Erklärung der verfahrenen Situation aber nur wenige Minuten. Er erzählte, dass Televisa, der Gigant unter den mexikanischen Fernsehsendern, eine Entziehungskur für Changoleóns finanziert habe. Als er und seine Kollegen ihn von der Klinik abholen wollten, habe man ihnen jedoch den Zugang verwehrt. Changoleón sei aus der Klinik geflüchtet und auf die Straße zurückgekehrt, um, so schloss Facundo seine Rede, im vertrauten Umfeld zu sterben. Nach dieser Meldung druckten einige Zeitungen, dass Changoleón noch immer am Leben sei, aber niemand konnte die Verwirrung wirklich auflösen. Ohne eine weitere Klarstellung von Televisa machte die ganze Geschichte wenig Sinn und deshalb glaubten die meisten Mexikaner weiterhin, ihren liebenswerten Freak verloren zu haben. Als Amerikaner, der erst seit Kurzem in Mexiko-Stadt ist, habe ich zum ersten Mal letztes Halloween von Changoleón gehört. Ich war mit ein paar Freunden auf dem Hauptplatz von Coyoacán. Während wir durch die kostümierte Menge liefen, riefen meine Freunde plötzlich: „Mach ein Foto! Mach ein Foto! Das ist Changoleón! Ich fass es nicht!” Ich sah einen kleinen Man mit einem ungepflegten grauen Bart und einem Mickey-Mouse-Sweatshirt, auf dem ein großer feuchter Fleck prangte. Ich konnte nicht sagen, ob die aufgebrachte Menge, die sich um den schwankenden und Grimassen schneidenden Changoleón scharte, über ihn lachte oder ihm zu helfen versuchte. „Ich dachte, er sei tot!”, sagte jemand. Ich machte ein Foto und wir gingen weiter. Ich machte mir keinen großen Kopf um ihn, bis ich immer mehr über seine Geschichte erfuhr und ihn unbedingt wieder treffen und fragen wollte, was nun genau geschehen war. Hat er sich einfach mit seinem Geld aus dem Staub gemacht? Ist er für Televisa zum Problem geworden? War sein Abgang ein großes „Fuck you“ an die hohen Tiere des TV-Business? Oder haben sie ihn einfach benutzt und zurück auf die Straße geworfen? Niemand schien etwas darüber zu wissen, also brach ich auf, um den Affen-Löwen zu finden. Ich hatte ein paar Freunde angeheuert, um Changoleón mit mir aufzustöbern. Es sollte fast einen Monat dauern. Eine Recherche im Internet blieb erfolglos. Die meisten behaupteten, er hätte den Löffel abgegeben, andere erzählten uns von zufälligen Begegnungen: „Ich hab’ ihn am U-Bahnhof Hidalgo getroffen, da war er mit einem Kerl zusammen, der eine Gitarre dabei hatte“, „Ich habe ihn am Busbahnhof Taxqueña gesehen“, „Er saß in einer Bar in Acapulco und mein Freund hat noch ein Foto von ihm gemacht“, und so weiter—es war sinnlos. Alles, was wir wussten, war, dass er noch lebte und sich wahrscheinlich noch in Coyocuán aufhielt, jedenfalls war das der Stand der Dinge an Halloween. All die Kleinkunsthändler, Autowäscher und Aushilfskellner der Plaza kannten ihn, aber keiner hatte ihn in letzter Zeit gesehen. Einige meinten, er hinge betrunken vor einer Sporthalle rum, andere wieder sagten, wir könnten ihn in einem benachbarten Park finden, und der Nächste schickte uns zum Wochenmarkt. Wo immer wir auch hingingen, erzählten uns die Ladenbesitzer, dass er seit einer Woche, seit zwei Wochen oder seit einem Monat nicht mehr dagewesen sei. Schließlich trafen wir auf einen Mann, der handgemachten Schmuck und Batik-T-Shirts auf dem Kunsthandwerksmarkt verkaufte. Er behauptete, er sei ein Freund von Changoleón und wisse, wo er gerade wohne. Ich glaubte ihm, denn er hatte die gleiche affenähnliche Statur, strähnige graue Haare und sah aus, als sei er ungefähr 60. Nach vielen Schmeicheleien und Angeboten, ihm Bier zu kaufen, sagte er uns endlich, dass Changoleón zu Hause sei und er uns am Nachmittag zu ihm führe werde. Seine Bleibe lag drei Blocks von der Plaza entfernt. Er lebte an einer schmutzigen Einfahrtsstraße in einem kleinen Zimmer eines Hauses, das einem Typen namens Don Antoño gehörte. Der forderte uns sogleich auf, mit 150 Pesos und ein paar Einkäufen zurückzukommen—drei Flaschen Modelo Especiales, einem Liter Alpura Milch, Kakaopulver und einem Paket Concha-Gebäck. Wir stellten uns vor, wie Changoleón das Kakaopulver direkt in seinen Mund schütten, die Milch und dann das Bier nachkippen würde. Als wir zurückkamen, wartete der Affen-Löwe in der Einfahrt. Er steckte in einer ausgeleierten, blauen Windjacke, schmutzigen blauen Jeans und schwarzen Turnschuhen. Er trug keinen Bart, aber war schlecht rasiert und seine Harre waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Brummelnd und mit einem Grinsen begrüßte er uns, bevor er uns ins Haus einlud. Wir saßen auf einem großen Bett, an der einen Wand stand ein riesiger Schrank mit zwei Glastüren, gefüllt mit Korallen und Muscheln. Der Rest des Zimmers war vollgestopft mit CDs—mexikanischem Pop, Ricky Martin, Salsa— einigen Architekturbüchern und einem großen schwarzen, mindestens 20 Jahre alten Kühlschrank. In der einen Ecke hing ein grauer Anzug mit einer pinken Krawatte. „Schicke Klamotten, eh?“, sagte Changoleón und erklärte uns, dass sie von einem gewissen Spaßvogel aus dem Fernsehen stammten. „Facundo hat mir gesagt: ‚Du hast meine Einschaltquoten nach oben getrieben, ich hab dir was zum Anziehen gegeben.‘ Er hat mir seine Arbeitskleidung geschenkt, hier, die Hose, die ich anhabe auch. Ich ziehe wegen der Kälte gleich drei übereinander an. Und dann hänge ich rum mit den Punks.“ Während wir redeten, pickte Changoleón einige Fusseln vom Bett. Ich bemerkte, dass ihm über die Hälfte seines linken Mittelfingers fehlt. Später fiel ihm ein Zwischenfall aus Acapulco ein: „Als ich einmal auf dem Weg zum Fiesta Palace war … nein wartet … ich glaube, es war das Paradise-Hotel … wie auch immer, ich weiß es nicht mehr genau. Jedenfalls saß ich mit diesen Jungen und Mädchen in einem Restaurant und sie fingen an zu labern: ‚Hey, da sitzt die Coyoacán Gang! Der Typ, der mit Facundo zusammenarbeitet—aber in Wirklichkeit arbeitet Facundo für ihn!‘“ Als ich später Facundo für diesen Artikel interviewte, bestätigte auch er, dass Changoleón der eigentliche Star seiner Show gewesen sei. Am nächsten Tag hörte ich mir die Aufzeichnungen meines Gesprächs mit Changoleón noch einmal an und musste feststellen, dass ich in einem Zeitraum von eineinhalb Stunden fünf Fragen über seine Televisa-Zeit gestellt und er keine davon beantwortet hatte. Er war ein unheilbarer Schwätzer. Er fing einen Satz an und kam auf halben Weg auf irgendein ganz anderes, zusammenhangloses Ereignis zu sprechen, das zehn Jahre früher stattgefunden hat. Entweder dachte er wirklich, wir besuchen ihn, damit er uns wirre Geschichten über sein Leben erzählen kann, oder er hat keine Ahnung, was er da redet. Immerhin habe ich etwas über den Mann erfahren, der er war, bevor er sich seinen Spitznamen zu eigen gemacht hat: Samuel Gonzalez Quiroz wurde wahrscheinlich 1941 geboren (seinen genauen Geburtstag kennt er nicht) und ist nach eigenen Angaben ein Einheimischer Coyoacáns. Seine Eltern waren arme Evangelikale; die Mutter verkaufte auf der Straße Süßigkeiten, der Vater war Maurer, der jeden Tag in aller Frühe das Haus verließ. Eines Morgens, als Changoleón noch ein Kind war, stand er mit seiner Mutter, die arbeiten musste, an einer Ecke in der Nähe des Hauses. Plötzlich fuhr ein Krankenwagen auf sie zu, einige Männer stiegen aus und erklärten der Mutter, dass sein Vater auf dem Weg zur Arbeit bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Facundo, Entdecker Changoleóns und Mexikos Tor zur schrägen Welt des Reality-TV. Foto von Abelardo Martin Samuel fing mit sieben Jahren regelmäßig zu trinken und zu rauchen an, aber nach dem Tod des Vaters sorgte seine Mutter—die selbst Analphabetin war—dafür, dass er jeden Tag in die Schule ging. Er zog die Schule durch, machte seinen Abschluss an der Highschool und wurde schließlich im Studiengang Psychologie der größten mexikanischen Universität, der Freien Nationalen Universität Mexikos (UNAM) angenommen. Er erinnert sich noch an die Kids aus der Mittelklasse und die gut aussehenden Mädchen und daran, dass er es hasste bei Vorlesungen mitzuschreiben. Aber er liebte das Lesen, und die Freunde, die mir bei der Übersetzung des Interviews geholfen haben, bestätigten, dass er in seinen weitschweifigen und abwegigen Erzählungen dennoch sehr redegewandt war. Nach seinem Abschluss an der Universität machte er ein Praktikum in der Psychiatrie. Manche der Patienten hielten sich für den Präsidenten oder für Mitglieder der bürgerlichen Mittelklasse oder für den König von Spanien. Andere schrien, sobald sich ihnen jemand näherte. Die Angestellten versetzten das Cafeteria-Essen mit Medikamenten und gaben einigen Insassen Elektroschocks an den Hoden. Samuel hatte Psychologie studiert, um den Armen zu helfen, er hatte nicht vorgehabt, durch diesen Job reich zu werden. Seine Erfahrung in der Klinik verleidete ihm die Profession ein für alle Mal. Nach diesem Lebensabschnitt wird die Chronologie seines Lebens undurchsichtig. Changoleón hatte eine Ehefrau und drei Kinder. Irgendetwas mit dieser Beziehung scheint furchtbar schief gelaufen zu sein und er begann zu trinken. Facundo sagte mir, dass Samuel einige Male angedeutet habe, dass ihn der plötzliche Tod seiner Mutter aus der Bahn geworfen hätte, und er deshalb zur Flasche gegriffen habe. Facundo hält diese Geschichte nur für die halbe Wahrheit. „Er hat mir tausend verschiedene Versionen erzählt; wer kann schon sagen, was wirklich passiert ist.” Aus unserem Interview konnte ich noch ein paar Details seines Lebens destillieren: Er verbrachte viel Zeit mit kleinen Gangs, die Drogen auf dem UNAM-Campus verkauften, war Teil eines Hausbesetzer-Kollektivs, ging mit sozialistischen Gruppen auf Demos, übernachtete am Strand von Acapulco und wäre dort fast ertrunken und trieb sich—neben anderen ziellosen Abenteuern—mit den Bikergangs Mexiko-Stadts herum. Irgendwann besaß er ein Haus am Highway nach Cuernavaca, aber meistens betrank er sich in Coyoacán so heftig, dass an eine Rückkehr nach Hause nicht mehr zu denken war. Schließlich verkaufte er das Haus und lebte auf den Straßen von Coyoacán. Die Faszinationskraft Changoleóns rührte nicht zuletzt daher, dass er die Unterschichten und Obdachlosen von Mexiko-Stadt verkörperte. Dem Publikum gefiel, wie sich das sarkastische Kind reicher Eltern mit dem fröhlichen Penner gemein machte. Ironischerweise ist Changoleón besser ausgebildet als sein Entdecker, der auf seiner Facebookseite stolz verkündet, dass er in der Schule nur mittelmäßige Noten bekam und das College noch vor seinem Abschluss in Musik abbrach. Facundo ist für einen Mexikaner erstaunlich blass, trägt einen ausgedünnten blonden Kurzhaarschnitt und einen ständigen Dreitagebart. Er ist 1978 als Kind argentinischer Eltern in Mexiko-Stadt geboren. Er moderierte, noch bevor er 20 wurde, Musikshows für den mexikanischen Fernsehsender Telehit. Schon bald bekam er einen Job als Moderator in der Sendung Toma Libre für den Sender Televisa. Es war nicht einfach für mich, Facundo ausfindig zu machen, bis mir ein alter Bekannter seine E-Mail-Adresse gab. Facundo rief mich sofort zurück und war offensichtlich sehr erpicht darauf, mir seine Sicht der Geschichte zu erzählen. Über eine Sache sind sich Facundo und Changoleón einig: ihr erstes Zusammentreffen. Facundo schilderte mir, dass die Kamera lief, als er Changoleón zum ersten Mal sah. Das Filmteam von Toma Libre war gerade für ein neues Format unterwegs, für das ungewöhnliche Menschen von der Straße gefunden und gefilmt werden sollten. „Sie sollten etwas von ihrem Leben zeigen“, sagte Facundo. Changoleòn erinnert sich, dass Facundo häufig zum zentralen Platz von Coyoacán kam, um einen Erdbeer-Smoothie in einem ganz bestimmten Laden zu kaufen, und als Facundo ihn das erste Mal entdeckte, hing er genau dort gerade herum. Facundo fragte Changoleón, ob er Lust hätte, mit ihm eine kleine Fahrt im Televisa-Van zu machen, ein paar Mädels zu treffen und es sich einfach gut gehen zu lassen. Changoleón erinnert sich auch an die zwei Mädchen. Er versprach ihnen, ein paar Drinks zu besorgen und sie waren nicht besonders überzeugt. Doch dann kam Facundo rein. „Es hat alles seine Richtigkeit“, setzte Changoleón noch mal an, „Ich gebe ihm Geld und er wird für uns alle Drinks besorgen.“ Als ich zum ersten Mal das Video von Changoleóns Fernsehdebüt sah, hatte ich den Eindruck—auch wenn es die erste Begegnung der beiden war—dass sich kaum sagen ließ, ob Facundo ihn vor der Aufnahme mit einem Swimmingpool voller Schnaps abgefüllt hatte oder er bereits vor der Ankunft des Filmteams zugeknallt war. Aber die beiden Mädchen gibt es tatsächlich in der Folge. Die vier albern herum, Changoleón singt betrunken vor einem verschreckten Kind und torkelt mit einer Zigarette im Mundwinkel über einen Spielplatz. Facundo war begeistert und das Format wurde gleich als eigenständige Changoleón-Reihe auf Toma Libre etabliert: Changoleón in der Grundschule. Changoleón im Vergnügungspark. Changoleón fährt in einem Cabrio und mit Megafon durch die Stadt, um ihn herum Frauen mit riesigen Brustimplantaten. Changoleón bekommt eine Gesichtspflege. Facundo bestätigt mir, dass Changoleón durchweg positive Reaktionen vom Publikum bekommen habe. „Aus den E-Mails und den anderen Dingen, die uns geschickt wurden, wurde klar, dass die Leute dachten, hey wie cool, dass die jemanden beachten, der aus der Gesellschaft ausgeschlossen ist. Aber schon am Anfang gab es eine Menge Probleme.“ Facundo versuchte Changoleón als feste Figur in die Show einzuspannen und gab ihm ein paar Seiten zum Auswendiglernen. Als Changoleón auf dem Set erschien, konnte er sich an nichts mehr erinnern. „Hol dein Skript raus”, forderte Facundo ihn auf. Aber Changoleón hatte es nicht dabei. Dann war es gar nicht so leicht Geschäfte mit Changoleón zu machen. Televisa hatte ihm nie einen Vertrag angeboten, auch wenn sie anfangs bereit waren, einen Lohn zu zahlen. Changoleón gab das Geld jedoch innerhalb eines Tages aus und kaufte für sich und seine Freunde unzählige Runden Drinks. Deshalb änderte Televisa den Plan. Facundo erzählte mir, dass Changoleón fortan nur noch eine kleine Summe Geld bekam. Zusätzlich vereinbarten sie mit einem ortsansässigen Restaurant, dass Changoleón dort essen und trinken durfte, so viel und wann immer er wollte. Facundo hatte ein gutes Gefühl bei dem Deal. Vorher besoff sich Changoleón mit grässlichem 5-Péso-Wein, jetzt konnte er Qualitätsbier trinken. Gleichzeitig wurde das Problem der Filmcrew gelöst, den nomadischen Löwen-Affen jedes Mal wieder suchen zu müssen. Jetzt saß er immer am selben Ort, überglücklich und mit vollem Bauch. Changoleón bot nicht nur gute Unterhaltung, sondern veränderte auch die Art und Weise, wie die Mexikaner über Berühmtheit dachten. In einem Online-Meet-and-Greet 2005 fragte jemand, wie er ins Fernsehen kommen könnte. „Ich kann denselben blödsinnigen Mist machen wie Changoleón“, schrieb er im Online-Chat, „und außerdem habe ich seit drei Tagen nicht mehr geduscht … hahaha.“ Facundo antwortete: „Verlier einen Zahn und du bekommst den Auftritt.“ Dann schlug er einen vorsichtigeren Ton an und schrieb: „Nicht jeder Kerl, der Blödsinn macht, kann seinen Platz einnehmen, nicht mal ich.“ Changoleón hätte wohl gut daran getan, diese Geste in seinem Leben bei ein paar mehr Leuten zur Anwendung zu bringen. Der Affen-Löwe repräsentierte einen sehr speziellen Teil der Gesellschaft, von dem nun jeder, der Incógnito guckte, etwas mitbekam. In Mexiko-Stadt hat jedes Viertel einen Changoleón, einen abgerissenen, betrunkenen Spaßvogel mit Zahnlücke. Facundo beharrt drauf, dass Televisa nichts mit den Gerüchten um Changoleóns Tod zu tun hat. Im März 2006, berichtet er, habe Changoleón plötzlich beschlossen, das Trinken aufzugeben. Das Incógnito-Team versuchte einige Folgen mit dem nüchternen Changoleón zu drehen, aber es war schnell klar, dass sein komisches Talent untrennbar mit seinem Schnapskonsum zusammenhing. Facundo wollte ihn aber nicht einfach fallen lassen. Als Changoleón Schwierigkeiten hatte, nüchtern zu bleiben, und um Hilfe bat, überzeugte Facundo den Sender davon, eine Entziehungskur für ihn zu bezahlen, und der Affen-Löwe verschwand aus der Show. „Wir wollten ihn nicht an der Flasche halten, nur weil er so unterhaltsam war“, erzählt mir Facundo. „Wir wollten den Klinikaufenthalt und die gesamte Entziehungskurs bezahlen, statt dass er selber in irgendeine schlechte Klinik geht, dort schlechtes Essen bekommt und schlecht behandelt wird. Wir hatten vor, eine Serie darüber zu drehen.“ Wenn sein Star tatsächlich aufhören wollte zu trinken, sich eine Arbeit suchen und in die Gesellschaft integrieren wollte, dann hätte Facundo eine Reality-Show daraus gemacht. Er witterte die Chance, den alten Penner vom komischen zum moralischen Helden zu verwandeln. Bald nachdem Changoleón in die Klinik kam, wurde Facundo von einem Klatschmagazin interviewt und gefragt, ob Changoleón denn gestorben sei, weil er ja nicht mehr in der Show auftrat. Facundo teilte ihnen mit, er wüsste es nicht, denn er habe ihn eben gerade in der Klinik abgeliefert. Er beschloss, seine Reality-Serie über Changoleóns Entziehungskur zu beginnen und fuhr zur Klinik zurück. Das Personal aber verweigerte ihm den Zutritt, nur Familienmitglieder hatten Besuchsrecht. Nach Facundos Einschätzung war das der Beginn der Gerüchteküche um Changoleóns Tod. Nach ein paar Tagen fuhr Facundo noch einmal zum Rehabilitations-Center, diesmal in Begleitung eines Anwalts. Die beiden verschafften sich Zutritt, indem sie erklärten, dass sie praktisch die Familie Changoleóns seien. Sie fanden Changoleón lebendig und wohlauf. Facundo versuchte, die Gerüchte über den Tod auszuräumen, aber die hatten zu diesem Zeitpunkt bereits die nationalen Nachrichtenagenturen erreicht. Als Changoleón entlassen wurde, kehrte er zu dem Haus eines Kollegen von Televisa zurück, bei dem er bereits vor seiner Kur untergekommen war. Ab dann lief die ganze Geschichte richtig schief. Als Fernando, der Kollege, von einer Reise zurückkehrte, war sein Haus voller Leute und mindestens einem streunenden Hund, die Möbel waren zertrümmert und ein extrem betrunkener Changoleón war prompt wieder obdachlos. Facundo konnte Televisa überzeugen, das Essen in dem Restaurant in Coyoacán auch in Zukunft zu bezahlen, aber die Idee, eine Reality-Serie über Changoleóns Sieg über den Alkohol und seine Rückkehr in die Gesellschaft zu drehen, war gestorben. Ich fragte Facundo, ob er sich von Changoleón im Stich gelassen fühlte, und er sagte: „Nein, die Sendung ist beendet und fertig. Wir konnten nichts mehr tun.“ Incógnito wurde nach kurzer Unterbrechung in ein etwas ernsthafteres Format umgewandelt—ohne Changoleón. Doch die Neuauflage hielt sich nicht lange. Während meiner Zeit mit Changoleón erwähnte er nie, dass er mal freiwillig entzogen hat. Er erzählte mir wiederholt von seiner Trinkerei auf der Straße vor dem Televisa-Gebäude, wo er eines Tages von Leuten von der Incógnito-Show gefunden wurde. Als Nächstes erinnerte sich Changoleón, dass er mit Fernando im Auto gesessen habe. Anschließend habe er mehrere desorientierte Wochen in einer Suchthilfestation verbracht. Dort machte man ihm klar, dass er sein ganzes Leben lang eigentlich ein toter Mann gewesen war, der weltvergessen all sein Geld in Schnaps investiert hatte. Changoleón wusste zu diesem Zeitpunkt noch nichts von seinem angeblichen Tod. Nach einem Monat wurde er entlassen. „Als ich das Haus der Anonymen Alkoholiker verließ—Blitz, Blitz! Was war da los?” Er sei sofort von Reportern umringt gewesen, die ihn mit Fragen überfielen, Fotos schossen und ihn filmten. „Was ist passiert“, wollten sie wissen, „Sie sind gar nicht tot?“ Nachdem er von der Station abgeholt worden war, war das Erste, was Changoleón machte, sich auf der Autofahrt nach Hause zu betrinken. Zwei Tage später fragte ihn ein Freund, ob er per Auto mit nach dem einige Stunden entfernten Ort Puebla fahren wolle. Changoleón war einverstanden. Angekommen wurde ihm schnell klar, wohin die Reise ging: ins nächste Rehabilitationszentrum. Also lief er, sobald das Auto anhielt, davon. Eine dritte, düstere Erklärung der Umstände des falschen Todes Changoleóns wurde mir von seinen Freunden erzählt. Einige sagten, Changoleón sei einfach zu real für das mexikanische Fernsehen gewesen, er habe das soziale Gleichgewicht ins Wanken gebracht. Ein Freund verglich ihn mit Cantinflas, dem berühmten mexikanischen Komiker aus den 40er- und 50er-Jahren—ein armer Niemand, ein Mann des Volkes, der sich aus den heikelsten Situationen herausquasselte. Zwischen beiden besteht allerdings ein wichtiger Unterschied: Cantinflas Charakter wurde mit Make-up und Kostümen geschaffen. Changoleón hingegen war nur er selbst, Samuel, der Affen-Löwe. Diese Version der Geschichte geht so weiter, dass Televisa im März des Jahres 2006 bemerkt hat, dass der Changoleón-Charakter nicht nur kritisches Potenzial hat, sondern eine Bedrohung für ihr gesamtes System darstellt. Sie standen vor einem Dilemma: Ohne Vertrag konnten sie ihn nicht einfach feuern. Doch noch entscheidender war, dass sie, auch wenn sie den Charakter Changoleón aus der Show nahmen, damit noch nicht den realen Changoleón losgeworden wären. Die logische Folge war also, ihn in die Entzugsklinik zu stecken, angeblich um ihn in ein funktionierendes Mitglied dieser Gesellschaft zu verwandeln. Und so habe Televisa die Nachricht vom Tod Changoleóns dann an das Nachrichtenmagazin Primero Noticias weitergeleitet, ebenfalls eine Televisa-Produktion. Niemand konnte die Medienhysterie vorhersehen, die durch Changoleóns vermeintlichen Tod ausgelöst wurde. Als seine Leiche nicht auftauchte und sich die Geschichte um seinen Tod zu enträtseln begann, musste Televisa, so erzählten mir Changoleóns Freunde, und ich glaubte ihnen, eine neue Erklärung für seine Abwesenheit finden. Es war ein Glücksfall für sie, dass Changoleón sich anscheinend selbst ins Abseits manövrierte, als er den zweiten Versuch einer Entziehungskur sabotierte. Facundo konnte erklären, dass Changoleón, trotz der besten Absichten ihm zu helfen, geflohen und auf die Straße zurückgekehrt sei, um sich dort zu Tode zu saufen. Schließlich wäre das das logische und gesellschaftlich akzeptierte Ende eines unreformierbaren Alkoholikers gewesen. Kein Ruhm, keine eigene Show, keine Mädchen—nur ein anonymer, einsamer Tod. Die Wahrheit ist wahrscheinlich eine Mischung aus allen drei Versionen der Geschichte und wird wohl nie ans Licht kommen. Als ich Facundo fragte, warum Changoleóns Freunde behaupten, dass Televisa Changoleón loswerden wollte, beschimpfte er sie als opportunistische Penner. „Ich habe einmal einen dieser Freunde getroffen, El Vikingo, der wollte unbedingt Changoleóns Manager werden. Jeder wollte an Changoleóns Karriere mitverdienen. Wir mussten allen sagen: ,Pass auf, wir haben einen Deal mit Changoleón und mit niemanden sonst.’” In gewisser Hinsicht ist Changoleón heute so berühmt wie eh und je. Seine Freunde sagen, dass sein Leben seit er sich vom Fernsehen zurückgezogen hat, nie wieder zur Normalität zurückgekehrt sei. Doch wo immer er auch hingeht, spendieren ihm die Leute Drinks oder Essen und bezahlen ihn, um Fotos mit ihm zu machen. Der Mann, in dessen Haus er lebt, Don Antoño, lässt ihn umsonst bei sich wohnen. Ein paar Mal im Monat reinigt Changoleón für ihn einige seiner vermieteten Häuser. Changoleón sagte mir, dass es besser für ihn sei, sich vom Fernsehen fernzuhalten. „Ich vermisse es nicht wirklich. Auch wenn man gutes Essen bekommt; du musst ständig mit diesen Leuten rumhängen, die ihren kleinen Finger beim Trinken abspreizen … Nein, ich hab’ nichts gegen sie. Sie haben ihre Berechtigung, weil sie hart für ihr Geld arbeiten.“ Er sagte, dass er über die ganzen Jahre verschiedene andere Möglichkeiten gefunden habe, Geld zu verdienen, etwa indem er auf dem Markt tibetanischen Schmuck verkauft oder sich für die Fotos bezahlen lässt, die die Leute mit ihm machen wollen. Das mache ihn glücklicher als die Arbeit bei Televisa. Er sagte mir auch, dass er mittlerweile endgültig aufgehört habe zu trinken und auch keine Drogen mehr nehme und fügt gleich darauf hinzu, dass das Kakaopulver und die Milch seine ganz persönliche Antikaterkur seien. „Als ich ein Kind war, hatten wir Kühe“, erzählt er. „Ich habe immer meinen Schemel genommen, und mich mit meinem Eimer hingesetzt und die Titten … wie nennt man die noch mal … Euter … und man konnte die Milch trinken. Luxus.”