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In Israel toben die Rassisten

In Israel steigen Rassismus und Extremismus momentan ins Unermessliche. Für die, die in Israel leben und weder den Krieg, noch die rechte Regierung unterstützen, wird es immer schwieriger, eine Meinung zu äußern.

Zwei Mädchen mit einem Schild: „Araber zu hassen ist nicht Rassismus, sondern ein Wert.“ via

In Israel steigen Rassismus und Extremismus momentan ins Unermessliche. Es begann kurz nach der Entführung von drei israelischen Jungen—Naftali, Gilad und Eyal—in Gusch Etzion, was schließlich zu dem Angriff auf Gaza geführt hat, bei dem bis jetzt über tausend Menschen getötet wurden. Eine Facebook-Seite, die zum Mord von Palästinensern aufgerufen hat, ist viral gegangen. Auf einem Foto posiert ein Soldat, der das Wort „Rache“ auf seine Brust geschrieben hat, bedrohlich mit seiner Waffe. Auf einem anderen Foto lachen zwei jugendliche Mädchen vor einem Banner: „Araber zu hassen ist nicht Rassismus, sondern ein Wert.“

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Ein paar Tage später, bei dem Begräbnis der Jungen in Modi’in, goss der israelische Premierminister Bibi Netanyahu weiter Öl in das Feuer. „Möge Gott ihr Blut rächen,“ sagte er zu den versammelten Trauergästen. „Vergeltung für das Blut eines kleinen Kindes, die Satan noch nicht geschaffen hat,“ postete er später auf Twitter. Bibi wurde sein Wunsch erfüllt. Im Laufe der folgenden Wochen tauchten fast täglich Videos von Jerusalem bis nach Be’er Scheva auf, die rechte Mobs beim Schwenken von israelischen Flaggen und Skandieren von „Tod den Arabern“ zeigen.

Viele dieser Umzüge endeten mit gewalttätigen Übergriffen. Letzten Donnerstag wurden zwei Palästinenser auf der Jaffa Straße in West-Jerusalem attackiert, als sie Nahrungsmittel an ein Lebensmittelgeschäft auslieferten. Am Tag darauf wurden zwei weitere Palästinenser, Amir Shwiki und Samer Mahfouz, im östlichen Teil der Stadt von 30 jungen Israelis mit Stöcken und Metallbalken bewusstlos geprügelt.

Pro-Israelische und Pro-Palästinensische Demonstranten treffen in Haifa aufeinander.

Nationalistische Israelis haben sich auch gegen diejenigen Israelis gewandt, die nicht ihrer Meinung sind. Es sind sogar Fotos aufgetaucht, die Kriegsunterstützter in T-Shirts mit der Aufschrift „Good Night Left Side“ zeigen—ein Slogan, den normalerweise europäische Neonazis benutzen. Gewalt von Seiten dieser Gruppen hat ein nie zuvor gesehenes Level erreicht. Letzte Woche wurde in Haifa, einer Stadt, die normalerweise als Paradebeispiel des friedlichen Zusammenlebens gilt, eine Anti-Kriegsdemo von 700 Menschen mit Waffen gestürmt.

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Am schlimmsten trifft es jedoch die Palästinenser. Vor vier Wochen wurde in Ost-Jerusalem Mohammed Abu Khdeir als Akt der Rache von einer Gruppe israelischer Männer  Benzin in den Hals geschüttet und anschließend wurde er bei lebendigem Leibe verbrannt. Für manche war sein Tod, so wie Jamals, ein Ausreißer, ein noch nie da gewesener Akt des verrückten rechten Randes Israels. „Zu was sind wir geworden?“ fragte ein israelischer Verwandter von mir an diesem Abend, schockiert, dass jemand mit „jüdischen Werten“ ein solches Verbrechen begehen konnte.

Obwohl dieser aktuelle Ansturm teilweise als emotionale Reaktion auf den tragischen Mord dreier Jungs gesehen werden kann, ist diese Art von Gewalt nicht wirklich etwas Neues. Denk an die Geschichte von Jamal Julani. Er ist eine Straße in der Nähe des Zion-Platzes entlang gegangen, als plötzlich eine Gruppe junger Israelis, einer davon war sogar nur 13 Jahre alt, auf ihn losgingen und wiederholt auf seinen Kopf eintraten. „Ein Jude ist eine gute Seele, ein Araber ein Hurensohn,“ überhört ein Nebenstehender.

An jenem Septemberabend waren hunderte Menschen am Zion Square, aber niemand, nicht einmal ein Beamter entschied sich, ins Geschehen einzugreifen. Als die Rettung ankam, dauerte es zehn Minuten, den Jungen wiederzubeleben. Er wurde so schlimm zusammengeschlagen, dass selbst die Polizei am Tatort annahm, dass der Junge bereits tot war. „Abu Khdeir’s Mörder sind keine „jüdischen Extremisten,“ besagt ein Beitrag der Haaretz, Israels linker Zeitung. „Sie sind die Nachkommen und Erbauer einer Kultur von Hass und Vergeltung, die durch die Machthaber des jüdischen Staates gesät und bemuttert wird.“

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Israel war noch nie die freie und offene Gesellschaft, als die es sich unter so viel Aufwand zu präsentieren versucht. Rassismus hat nicht mit dem Mord von Mohammed Abu Khdeir oder der Attacke und dem versuchten Lynchmord an Jamal Julani begonnen. „Durch die zionistische Glaubenslehre wurde die Gesellschaft immer schon in eine ganz bestimmte Richtung getrieben,“ erzählt mir der Akademiker Marcelo Svirsky. Allerdings verschlechtert sich die Lage. „In den 25 Jahren, die ich in Israel verbracht habe, habe ich das Phänomen, das momentan durch die israelischen Städte zieht, noch nicht beobachtet.“

Einer der besonders hervorstechenden Aspekte dieses „Phänomens“ ist, dass vor allem junge Menschen daran teilnehmen. Die, die in sozialen Netzwerken posten, in Lynch-Mobs Amok laufen und linke Demonstrationen mit Stöcken, Ketten und Schlagringen stürmen, sind zum Großteil junge Menschen—viele in ihren Zwanzigern, viele sogar noch minderjährig. Vor drei Wochen veröffentlichte der Aktivist und Journalist David Sheen einen Artikel mit dem Titel „Erschütternde Tweets von Jugendlichen aus der Armee“ auf Storify, nachdem er das Wort „Aravim“—hebräisch für Araber—auf Twitter gesucht hat. Was er gefunden hat, ist eine grauenhafte Menge morbiden Zorns, präsentiert in Form grotesker Selfies von jugendlichen Mädchen. Weitere Zitate beinhalten „Ich spuck auf dich, du stinkender Araber,“ „Aus tiefstem Herzen wünsch ich mir, dass Araber verbrannt werden,“ und „Araber, mögt ihr gelähmt sein und unter großem Leiden sterben!“

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Was passiert da? Für jeden, der sich mit israelischer Politik auskennt, müsste die Antwort offensichtlich sein. Alleine in den vergangen Monaten war der Ansturm von Rassismus von Seiten der Politiker und religiösen Autoritäten erbarmungslos. Nimm den Außenminister Avigdor Lieberman als Beispiel. Er hat zum Boykott von Palästinensern, die den Krieg nicht unterstützen, aufgerufen. Oder nimm Ayelet Shaked, die Politikerin der Jüdischen Heim Partei und Mitglied des Knesset—Israels Legislative. Sie hat vor kurzem zum Mord Palästinensischer Mütter aufgerufen. „Sie sollten ihren Söhnen folgen,“ sagte sie. „Nichts wäre gerechter.“

„Diese Worte, die die Mädchen gesagt haben, sind in keiner Weise fremd in Israel,“ sagte mir Sheen. „Wenn du es auf Deutsch übersetzt, realisierst du, wie entsetzlich es ist, aber im israelischen Kontext gibt es nichts Schockierendes daran." „Price Tag Attacken“ auf Menschen, die sich gegen die Siedler gerichtet haben, sind in ihrer Anzahl stark angestiegen, ohne dass die Polizei auch nur versucht hat, sie zu stoppen. Bürgerwehr-Patrouillen, die oft von extremistischen Organisationen wie der vom Staat finanzierten Organisation Lehava angeführt werden, sind im gesamten Land aufgetaucht, um zu verhindern, dass Juden und Araber innige Beziehungen haben.

Die wahrscheinlich am schwersten betroffenen Opfer dieses Fanatismus sind Flüchtlinge aus dem subsaharischen Afrika. Nachdem sie inhaftiert wurden, haben sie von jeder Seite des israelischen Etablishment Misshandlung erfahren. Von hunderten Rabbis, die Juden verboten haben, Appartements an Afrikaner zu vermieten, bis hin zu Politikern wie Eli Yishai, der ultra-orthodoxe Innenminister, der 2012 folgendes gesagt hat: „bis ich sie alle deportieren kann, sperr ich sie ein, um ihr Leben schrecklich zu machen.“

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„Beide Regierungen unter Netanyahu waren verantwortlich für den Rassismus,“ sagte Svirsky. „Um die Gleichheit zu unterbinden, haben sie eine lange Liste von Rechtsvorschriften eingerichtet—in allen Lebensbereichen. Das ist auch der Grund, weshalb es normal geworden ist, im politischen Diskurs auch extremistische Ideen gegenüber Palästinensern zu äußern. Durch die Obsession mit einem Staat, der nur für Juden ist, wurde die israelische Gesellschaft in einen rassistischen Abgrund getrieben.“

Für die israelische Jugend wären die Dinge vielleicht ein wenig besser geworden, wenn 2013 ein Vorschlag der linken zionistischen Partei Meretz, eine anti-rassistische Ausbildung in Schulen einzuführen, nicht vom Knesset abgelehnt worden wäre. Der Gesetzentwurf wurde von der arabisch-israelischen Issawi Freij eingeschickt, nachdem ein Themenpark in Rishon Letzion zugegeben hat, dass die Einrichtung an verschiedenen Tagen an jüdische und arabische Schulen vermietet wurde, um „Konflikte zu vermeiden.“ Issawi’s Angst, dass Rassismus in israelischen Schulen wächst, unterstrich das, was andere bereits seit Jahren sagen. Eine aktuelle Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, dass die Hälfte aller jüdischen israelischen High School-Schüler sagen, dass ihre arabisch-israelischen Mitbürger nicht die gleichen Rechte wie Juden haben sollten. Von denen, die religiös waren, meinten die Hälfte, dass der jetzt bekannte Slogan „Tod allen Arabern“ legitim sei.

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2010 schickte eine Gruppe besorgter Eltern eine Petition zum Bildungsministerium, in der sie genau diese Ängste darlegten. „Wir dürfen im Licht der wachsenden Präsenz von Rassismus in unseren Schulen nicht still bleiben,“ sagten sie. „Wir sehen uns selbst als Erzieher, die eine Warnung äußern müssen. Die Vorherrschaft von Rassismus und Grausamkeiten ist unter den jungen Menschen in Israel am Wachsen." Nach Aussage von Sheen schrecken viele israelische Lehrkräfte—vor allem die, die Bürgerkunde unterrichten—davor zurück, im Klassenraum das Thema Menschenrechte auch nur anzusprechen. Etwas früher im Jahr wurde Adam Verete, ein Lehrer, der es wagte, die IDF als eine „unmoralische Armee“ zu bezeichnen, vor ein Gericht geschleppt und später gefeuert, nachdem sich ein Schüler über seine „extremistisch linken“ Ansichten beschwert hat. Sheen sagt, dass man nicht einmal das Thema ansprechen darf, ohne die Schüler zu Wut und Rassismus aufzuhetzen.“

Natürlich waren Militarismus und Nationalismus stets ein Teil des israelischen Schulsystems—eingebettet in Geschichtsbüchern, auf Karten oder in Cartoons über Palästinenser auf Kamelen—aber unter Netanyahu sieht es danach aus, als wären die Dinge weiter gegangen. Die erste richtig große Veränderung des früheren Bildungsministers Gideon Sa’ar, einem Mann, der Lehrer als „lebenslange Wehrpflichtige“ beschrieben hat, war die Ausweitung eines Programms, dessen Aufgabe es war, mehr Enthusiasmus für die Armee zu schaffen.

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„Der Dienst im IDF ist keine Verpflichtung, sondern ein Privileg und ein sozialer Wert,“ sagte Sa’ar damals. „Die Verbindung zwischen dem Schulsystem und dem IDF wird durch das Programm, das ich eingeleitet habe, stärker werden.“ Das Budget für Bürgerkunde, ein seltener Platz für eine kritische Debatte zu Israel und seinen „demokratischen Werten“ wurde für die Finanzierung von orthodoxen jüdischen Studien gekürzt. Touren nach Hebron wurden eingeführt, um die Unterstützung für Siedlungen und das Bewusstsein für ein Großes Israel zu steigern. Und jeglicher noch vorhandener Querverweis zu einer alternativen palästinensischen Erzählweise in Schulbüchern wurde schnell rausgenommen.

„Zwischen den Neunzigern und den frühen Nullerjahren gab es einen Versuch, mehr auf Fakten zu basieren,“ erzählte mir Nurit Peled-Elhanan, ein Professor der Sprache und Bildung auf der Hebrew University of Jerusalem. „Es gibt ein Anstreben, wissenschaftlicher und akademischer zu sein, über Palästinenser zu sprechen, selbst wenn die Ideologe dieselbe war. Heute ist man zu simplifizierten Geschichten und blanker Belehrung zurückgekehrt. Die Entwicklung geht scheinbar rückwärts.“

Ein Soldat hat „Rache“ auf seine Brust geschrieben. via

Obwohl Israel ein multikultureller Ort bleibt, verbringen Palästinenser und Israelis zum größten Teil ein getrenntes Leben. Innerhalb der Grenzen existieren nur fünf nicht-getrennte Schulen, die für junge Kinder offen sind, um übereinander zu lernen und sich kennenzulernen. Innerhalb der besetzten Gebiete bedeuten die physischen Barrieren, die nach der zweiten Intifada eingeführt wurden, dass der Kontakt praktisch nicht existent ist. „Früher gab es mehrere zwanglose Möglichkeiten für Israelis und Palästinenser, um sich kennenzulernen,“ sagt Sheen. „Jetzt hast du eine ganze Generation—der Jahrgang mit den schauderhaften Tweets—die nicht einmal einen Palästinenser gekannt haben.“

Fernab von den physischen Barrieren sind die mentalen Barrieren wahrscheinlich noch stärker. „Ich bin aufgewachsen, ohne dass ich irgendwelche Palästinenser gekannt habe,“ sagt Peled-Elhanan. „Alles, was ich tun müsste, war nur auf die andere Seite der Stadt zu fahren, aber das wäre mir nie eingefallen. Es war die Art von Ausbildung die wir bekamen—dass Palästinenser, wenn sie überhaupt existieren, als Hindernis existieren.“ Israel benutzt gerne den Status als einzige Demokratie europäischen Stils der Region, um Kritik an ihrer Okkupation und Belagerung zu entgehen. Normalerweise funktioniert das auch. Besonders in der jüdischen Diaspora gibt es eine monumentale Kluft zwischen der Art, wie Israel repräsentiert wird und was tatsächlich passiert. Im momentan Konflikt allerdings, mit über tausend Toten in Gaza und Jugendlichen in Israel, die in gewalttätigen Mobs durch die Straßen ziehen, werden diese Irrglauben vielleicht endlich aufgelöst.

Für die, die in Israel leben und weder den Krieg, noch die rechte Regierung unterstützen, wird es immer schwieriger, eine Meinung zu äußern, und manche wiegen ihre Optionen ab. „Vor zwei Nächten gab es in Tel Aviv einen großen Protest,“ sagt Sheen. „Ein langjähriger Linker hat ein Schild hochgehalten, auf dem „Flieht, solange ihr noch könnt“ geschrieben stand. In Konversationen, die ich mit wirklich engagierten Aktivisten hatte, sagte jeder, dass sie bereits einen Fluchtplan vorbereiten. Für die Leute, die Kinder haben, ist das nicht der richtige Ort."

Haltet euch mit unserer Reihe Rache und Raketen über die Geschehnisse in Gaza auf dem Laufenden.