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Schachweltmeister Magnus Carlsen ist ein ziemlicher Arsch

Die merkwürdige Kombination aus Schach-Genie und Sexsymbol war ein perfekter Grund, um ihn zu einem Interview zu bitten. Leider ist er als Person ein ziemlicher Arsch.

Foto von WikiMedia Commons

Fünfzehn Minuten vor dem Interview saß ich in einem frischgebügelten Hemd im VICE-Büro und spielte nervös mit meiner Kaffeetasse herum. Ich versuchte, nicht daran zu denken, dass das, was mir jetzt bevorstand, den Höhepunkt einer seit vier Jahren andauernden Obsession bilden würde. Gleich würde ich dem Mann per Skype Auge in Auge gegenübersitzen, der der Meister des Spiels war, das mittlerweile mein ganzes  Leben bestimmte. Als ich das erste Mal ein Interview mit Magnus Carlsen sah, entwickelte sich meine Faszination in einen richtigen Man-Crush. Mit nur 20 Jahren war der Norweger einer der höchstgehandelten Spieler aller Zeiten und auf dem Weg, der nächste Weltmeister zu werden. Er war charismatisch, aber nicht arrogant. Elegant, aber todbringend für seine Gegner. Die Art, wie er seine Gegner in die Enge trieb, bis sie nicht anders konnten als aufzugeben, war tadellos. Und außerdem war er noch ein echt cooler Typ, denn er hatte keine Angst vor der Presse und das Lächeln eines neuen Superstar-Athleten. Ich habe vor vier Jahren mit dem Schachspielen angefangen. Damals war mein Internet kaputt und mit meinem Laptop war sonst nichts anderes anzufangen. Das ganze entwickelte sich bald von einer Obsession in eine Sucht: Online-Schach, Schachbücher, Schachunterricht, Schachdokus. Ich träumte irgendwann sogar vom Schach und verfolgte die strategischen Meisterleistungen der besten Schachspieler der Welt mit einer Gespanntheit wie andere ein Fußball-WM-Finale. Andere Großmeister forderten Carlsen heraus, doch niemand war so gut wie er. Weder die Leistung ihrer übermenschlichen Gehirne noch ihre ausgeklügelten Strategien konnten ihn bezwingen. Carlsen hatte die Fähigkeit, scheinbar aussichtslose Partien noch in einen Sieg zu verwandeln, so als hätte er ein tieferes, intuitives Verständnis des Spiels. Im November 2013 forderte er den amtierenden Weltmeister in Indien heraus und gewann vor laufenden Kameras den Titel. Die Zahl der Zuschauer, die das Ganze an ihren Fernsehern und Laptops verfolgten, brach alle Rekorde. Mit dem Erfolg wuchs auch Carlsens Berühmtheit—in Europa kannte man seinen Namen und in Norwegen und Indien hatte er sich bald in eine Art Rockstar verwandelt. Er modelte für G-Star neben Liv Tyler, bekam seine eigene iPhone-App und jede Menge Aufmerksamkeit von beinahe allen wichtigen internationalen Medien. Im Zuge seines Titelgewinns kürte ihn die britische Ausgabe der Cosmopolitan zu einem der Sexiest Men 2013, während das Time Magazine ihn in die Liste der 100 einflussreichsten Menschen des Jahres aufnahm. Diese merkwürdige Kombination aus Schach-Genie und Sexsymbol war letztlich ein perfekter Grund, um meinen Helden um ein Interview zu bitten. Ich leite alles so schnell wie möglich in die Wege und bekam einen Termin für ein Skype-Gespräch an einem Mittwochmorgen im März. Im Gegensatz zu vielen anderen Leuten, die ich interviewt habe, schien er mir ziemlich ähnlich zu sein, weshalb ich hoffte, dass wir uns gut verstehen würden. Wir sind beide 1990 geboren, spielen gerne Fußball und teilen die Leidenschaft für Schach. In einem anderen Leben wären wir wahrscheinlich die besten Freunde geworden. Eingehender Anruf: Magnus Ich ging ran und sprach mit Kate, die Magnus’ Medientermine für diesen Tag regelte. Sie war sehr freundlich und erklärte mir, dass er zum Mittagessen gegangen sei, aber bald wiederkommen würde. Durch das Gespräch mit Kate beruhigten sich meine Nerven und ich hatte für das bevorstehende Interview ein gutes Gefühl. Sie wandte den Blick vom Bildschirm ab, als Carlsen den Raum betrat. Vor Aufregung blieb mir fast das Herz stehen. „Carlsen, ich habe hier Stephen von VICE für dich“, sagte sie. Der Laptop drehte sich und zeigte einen schlecht gelaunt aussehenden Carlsen auf einem Stuhl. Er sah mich mit einem Missfallen an, als wäre ich eine Schüssel aufgeweichter Cornflakes, die er ganz vergessen hatte. Ich versuchte, möglichst fröhlich zu klingen: „Hi Magnus, wie geht’s dir?“ „Ganz OK.“ „Wie war das Mittagessen?“ „War OK.“

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Er sagte mir, dass er gerade ein richtig schlechtes Interview hinter sich hätte, weshalb er etwas überempfindlich reagieren könnte. Seine leiernde, roboterartige Stimme zeugte von Apathie und Erschöpfung, aber ich hatte Verständnis dafür. Wahrscheinlich hatte er schon eine Menge Interviews gegeben und wartete darauf, dass die Leute ihn endlich über seine Schachfähigkeiten ausfragen würden—und nicht über seinen Beziehungsstatus oder seine Lieblingsunterwäsche. Überzeugt davon, dass wir jetzt auf einem guten Weg waren, versicherte ich ihm, dass ich ein echter Schachspieler sei und ihm echte Schachfragen stellen wolle. Misstrauisch fragte er mich, welches Rating ich hätte. Jemand, der sich etwas mit dem Spiel auskennt, hat ungefähr ein Rating von 1.000. Ich sagte ihm, meines läge bei 1.600, und ich wusste, dass seines mit 2.881 das höchste aller Zeiten war. Er schien damit zufrieden und wir machten weiter. „Ich finde es toll, dass du dir Zeit für die Medien nimmst“, fing ich an, um etwas Positives zu sagen. „Wie kommt es, dass du so medienfreundlich bist, wo doch die ganzen anderen Schachgroßmeister den Medien gegenüber immer eher scheu waren?“ „Wer sagt, dass ich das bin?“ Seine Stimme klang trocken, abgehoben und aggressiv wie die eines Türstehers.

Ein dünner Schweißfilm bildete sich auf meiner Haut. Da ich mich fühlte, als würde ich langsam ertrinken, versuchte ich, in die sicheren Gefilde der Schachtheorie zurückzuschwimmen. Ich wollte, dass er sich öffnete, die Logik oder Leidenschaft hinter seinem Genie ergründen, also fragte ich ihn, was er an Ruy Lopez, einer Eröffnung, die er oft benutzt, so schätze, aber seine Antwort war kurz und uninspiriert. Er schaute sich die ganze Zeit um und schien genervt. Ich kriegte nichts aus ihm raus, was er nicht schon erzählt hätte. Ich fragte ihn nach Schach als Kunst im Gegensatz zu Schach als Wissenschaft. Dann, in dem Versuch, das Ganze etwas interessanter zu machen, nach der Aufmerksamkeit, die ihm so viel Frauen schenken, seitdem er berühmt ist, aber er war nicht interessiert. „Es kommt vor, aber ich werde nicht ins Detail gehen.“ Ich fragte ihn nach der schlechtesten Entscheidung, die er je getroffen habe. Er sagte, er habe noch nie wirklich eine getroffen. Verzweifelt fragte ich ihn, wie viele Biere er wohl trinken müsste, damit er gegen mich in einer fairen Partie antreten könne. Die Medienleute um ihn herum fingen an zu lachen, aber Carlsens Gesichtsausdruck blieb versteinert. „Nein, so läuft das nicht. Mein Spiel beruht auf Intuition, egal in was für einem Zustand ich mich befinde.“ Er lehnte es ab, sich irgendwie auf mich einzulassen. Ich nervte ihn und vergeudete seine Zeit genauso wie alle anderen Magazine an diesem Tag. Er wechselte schnell ein paar Worte mit Kate, bevor er mir mitteilte, dass ich noch genau eine Frage hätte. Ich kam mir wie ein totaler Vollidiot vor. Ich fragte ihn nach der Zukunft des Schachs, aber es war bereits zu spät, um hier noch irgendwas herauszuholen. Auch wenn ich seine Liebe für das Schachspielen teilte, hatte ich meinen Helden einfach nur genervt. Zum Schluss sagte ich ihm noch, wie sehr ich ihn bewundere, und wünschte ihm alles Gute.

Mit einem Gefühl der Demütigung stand ich von meinem Stuhl auf. „Das war hart“, sagte ein Kollege von mir, der das Gespräch mitgehört hatte. „Ja, ich weiß …“ „Er hätte echt nicht so mit dir reden müssen.“ Was? Aber er ist der größte Schachspieler aller Zeiten. Es kann nicht seine schuld sein. Ich bin der Loser, der die doofen Fragen gestellt und sich vor einem seiner Helden total blamiert hat, oder nicht? Mir war das Ganze so peinlich, dass ich mir gern selbst eine reingehauen oder mir einen Gürtel um den Hals gebunden hätte, um mir die Luft abzudrehen (aber nicht auf die sexy Art, wie ich es normalerweise tue). Dann begann ich darüber nachzudenken: Was, wenn wir einfach nur zwei normale Typen gewesen wären, ohne die Titel und die damit verbundenen Erwartungen? Naja, dann wäre er ein Arsch gewesen. Sicherlich bin ich einer in einer langen Reihe von Leuten, die ihn über sein Leben ausfragen wollen. Und wahrscheinlich hat er den ganzen Morgen damit verbracht, sich blöde Fragen anzuhören, aber gibt ihm das das Recht, so abwertend und feindselig zu sein? Wahrscheinlich nicht. Ich habe den Fehler gemacht, Carlsens persönliche Fähigkeiten höher einzuschätzen als die anderer, weil er berühmt ist und ein guter Schachspieler. Aber es gibt keinen Grund, warum er sich an einem schlechten Tag besser verhalten sollte als jeder andere von uns. Er war ein Arsch, aber das sind wir alle manchmal. Wir vergöttern berühmte Personen und wollen, dass sie perfekt sind, aber wenn wir rausfinden, dass der ein oder andere Star nicht perfekt ist, sind wir geschockt. Wir drücken ihnen einen Heiligenschein auf und gehen davon aus, dass sie sich immer richtig verhalten. Wir sehen sie nicht als das, was sie wirklich sind: ganz normale Leute, die verdammt gut in einer oder in mehreren Sachen sind. In meinem Fall verwandelte sich meine Vergötterung eines berühmten Menschen in einen Blick auf einen missverstandenen Typen, dessen Tragödie darin besteht, dass er in einem Bereich ein Genie ist, mit dem die meisten Leute nicht viel anfangen können. Carlsen, du bist eine Inspiration für alle Schachspieler und dein Einfluss auf dieses Spiel wird noch Jahrhunderte lang andauern. Ich liebe dich immer noch. Aber ich habe auch keine Angst davor zu sagen, dass du als Person ein ziemlicher Arsch warst, und ich habe keine Probleme damit, diese beiden Dinge auseinanderzuhalten.