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The Tp For Your Bunghole Issue

Das verlorene Traveller-Paradies

Die Dale Farm in der Nähe von Basildon in der Grafschaft Essex war die größte illegale Wagenburg in Europa und der Schauplatz einer chaotischen und brutalen Zwangsräumung.

Unterstützer der Dale Farm haben einen riesigen Gerüstturm errichtet, von dem aus der Haupteingang zum Bauwagenplatz überwacht wird. Die Dale Farm in der Nähe von Basildon in der Grafschaft Essex war die größte illegale Wagenburg in Europa und der Schauplatz einer chaotischen und brutalen Zwangsräumung. Die alteingesessenen Bewohner der Dale Farm sind hauptsächlich Traveller irischer Herkunft, die in England als ethnische Minderheit gelten. Sie leben in modernen, von Autos und Trucks gezogenen Wohnwagen und siedeln überall—an Straßenrändern, auf privaten Feldern oder städtischen Grundstücken. Es ist immer das gleiche Spiel: Sobald sie sich niedergelassen und ein Camp errichtet haben, steht sofort die Polizei und die städtische Bevölkerung auf der Matte und fordert sie auf zu gehen. Kritiker sagen, dass die geschlossene und zurückgezogene Gemeinschaft häufig als Sündenbock für alle möglichen sozialen Missstände missbraucht wird. Andere halten sie für schmarotzende Taschendiebe, die arbeiten gehen und sich die Haare schneiden lassen sollten. Was immer auch gesagt wird, die Gemeinschaft zeichnet sich durch einen unerschütterlichen Zusammenhalt aus. Nachdem die Dale Farm zu einem der bekanntesten Nomadencamps avanciert war, tauschten einige Traveller vor zehn Jahren ihre Wohnwagen gegen feste Wohnsitze aus. Sie kauften und pachteten englisches Land, verabschiedeten sich von ihrem nomadischen Leben, und zogen sich vor der Ignoranz der englischen Gesellschaft, vor ihren unerwünschten Blicken und den Polizeibesuchen zurück. Die Stadtverwaltung in Basildon kritisierte, dass der Ausbau der Farm illegal sei. In England dürfen neue Siedlungen nicht ohne städtische Baugenehmigung errichtet werden. Dadurch will man schlechte hygienische Zustände und Überbevölkerung verhindern. Setzt sich der Landbesitzer über dieses Gesetz hinweg, dürfen die Behörden das Grundstück räumen und abreißen. Trotz der Bedenken von Menschenrechtsorganisationen und der immens hohen Kosten, blieb die Stadtverwaltung bei der Entscheidung, das Gelände zu räumen, weil die Bewohner der Dale Farm jahrelang keinen Antrag auf eine Genehmigung gestellt hatten. Etwa 20,6 Millionen Euro Steuergelder wird die Aktion verschlingen. Tony Ball, Vorsitzender der Stadtverwaltung, rechtfertigt die Entscheidung: Es muss eine einheitliche Regelung geben, für jeden müssen die gleichen Gesetze gelten. Das sehen die Traveller natürlich anders. „Die Regierung hat die Traveller damals dazu ermuntert, Land zu kaufen und sich niederzulassen“, sagt Patrick James Joyce, ein irischer Traveller, der vor zehn Jahren mit seiner Familie auf die Dale Farm kam. Ohne Baugenehmigung dürfen die Siedler allerdings nur 28 Tage pro Jahr auf dem Land campen, ganz egal, ob es ihnen gehört oder nicht. Die Stadtverwaltung hat für die 86 Familien, die von der Räumung betroffen sind, alternative Unterkünfte bereitgestellt, die meisten von ihnen liegen in beengten Wohnblöcken mitten in der Stadt und die einzelnen Familien würden durch die Umsiedlung von der Gemeinschaft getrennt. Deshalb haben die Traveller das Angebot bereits als kulturell unzumutbar abgelehnt. Die nun bereits seit zehn Jahren laufenden komplizierten und unübersichtlichen Rechtsstreitigkeiten erreichten im September ihren Höhepunkt, als die Behörden mit den Vorbereitungen zur Räumung begannen. Die Traveller konnten die Räumung gerade noch durch eine Klage abwenden, aber nur kurzfristig. Bereits im späten September, als ich in die Dale Farm kam, drohte die Situation zu eskalieren. Junge Bewohner der Dale Farm spielen auf einem alten Sofa in der Nähe des Haupteingangs. Unser Van holpert und rumpelt über die mit Schlaglöchern übersäte, einspurige Asphaltstraße. Auf dem Bürgersteig stehen reihenweise die Autos und Vans der Journalisten und Kamerateams. Die normalerweise friedlichen Felder um die Dale Farm sind jetzt großräumig umzäunte Gehege, in denen Gerichtsvollzieher darauf warten, die Häuser der Traveller gewaltsam zu beschlagnahmen. Für die Bulldozer und Bagger sind schwere Metallplatten auf den Weiden ausgelegt worden, Dutzende Dixi-Klos sind aufgestellt, behelmte Männer mit Leuchtjacken kontrollieren die Abgrenzungen und warten auf ihren Einsatz. Am Ende der Straße versperrt ein riesiges Holztor den Weg, über dem sich ein Wall aus Metallstangen, Planen, alten Autoreifen und Natodraht auftürmt. Die improvisierte Verteidigung steht im krassen Kontrast zu den hübsch verzierten Mauern um die Dale Farm. Gerüststangen erheben sich über den gemusterten Terrakottasteinen—eine Mischung aus Baustelle, mittelalterlicher Burg und Mad-Max-Festung. Draußen vor dem Kampfplatz werden Fotos mit Kindern gemacht, die nach der Räumung zweifellos obdachlos sein werden, ihre Blicke flehen die Welt um Hilfe an. Auf dem Verteidigungswall stehen mit Masken und Schals vermummte Personen. Einer ruft den Umherstehenden spöttisch zu: „Wir haben Steine hier oben, hoffentlich habt ihr Helme mitgebracht!“ Wir fahren weiter und Richard Sheridan wird mit seinem weißen Van sofort als der Vorsitzende der Traveller-Organisation erkannt und das Tor öffnet sich. Die Farm hat sich in den letzten zehn Jahren sehr verändert. Patrick erzählt uns: „Als wir hierhergezogen sind, war dieser Ort Brachland, er wurde als Schrottplatz für Autos benutzt.“ Zehn Familien haben das Land gekauft, darunter die von Patrick. Sie alle suchten einen festen Platz und wollten der unsicheren und bedrückenden Lage in den temporären Camps entgehen. Hier konnten sie Gemüse anbauen und ihre Tradition bewahren. Sie bauten Straßen und Wohnungen und meldeten ihre Kinder in den städtischen Schulen an. Die Zahl der Einwohner stieg bis zum Jahr 2007 auf 400 an. Ab 1994 aber wurde das Leben für die Traveller schwieriger. Die Regierung verabschiedete ein Gesetz, dass es der Stadt erlaubte, die Traveller willkürlich zu vertreiben, ohne dass ihnen alternative Campingplätze angeboten werden mussten, wie es vorher der Fall gewesen war. Die Gesetzesänderung sollte die Sesshaftigkeit der Traveller fördern und dauerhaften Wohnraum schaffen. In der Praxis wurden den Travellers allerdings fast nie die dafür nötigen Bewilligungen erteilt. „Wenn wir eine Baugenehmigung beantragten, wurde die abgelehnt“, beschwert sich Steve, einer der älteren Bewohner. „Es liegt an unserer Herkunft, sie sind Rassisten, verlogene Rassisten.“ Jay, ein Bewohner der Dale Farm, hat sich kurz zuvor den Kopf an einem Betonpfahl aufgeschlagen. Den Rat des Arztes, sich auszuruhen und nüchtern zu bleiben, hat er nicht befolgt. Wir sitzen vor dem Tor auf Baumstümpfen und alten Autosesseln und sehen den Unterstützern der Traveller dabei zu, wie sie geschickt auf dem Baugerüst herumklettern und das Gerüst verstärken oder Stangen hinzufügen. Steves buschige Augenbrauen hängen tief über den traurigen blauen Augen, seine Haut ist rau vom Outdoor-Leben, auf dem Gesicht der Schatten seines blauen Marinesonnenhuts. „Das sah hier nicht immer so aus. Wir sind ein stolzes Volk“, sagt er. Und dann erzählt er von den früheren Zeiten der Dale Farm, von den schönen glatten Asphaltstraßen, den gut gepflegten Gärten—von einem Ort, an dem sich viele Familien aufhielten und Kinder spielten. Einige Stellplätze sind bereits leer, die Besitzer haben ihre Wagen in Sicherheit gebracht, bevor die Raupen der Gerichtsvollzieher hier alles dem Erdboden gleich machen. Manche sind geblieben und wollen „es bis zum Ende durchstehen“. Überall liegen ramponierte religiöse Ikonen herum: Ein Jesus aus Fiberglas, dessen Arm mit Klebeband angeheftet ist, ein Bild der Jungfrau Maria, die durch eine zerbrochene Scheibe auf ein Klohäuschen schaut. Die Traveller sind erzkatholisch und befolgen streng die Regeln ihres Glaubens: kein Sex vor der Ehe und keine Scheidung. Als die Nacht hereinbricht, beginnt es zu regnen und die Gärten verwandeln sich unter den Hunderten von Füßen zu Schlammpfützen. Schlafen wird hier heute Nacht niemand. Es geht das Gerücht um, dass die Räumung morgen stattfindet. Die Traveller trinken und singen mit lauter Stimme Volkslieder; die sie unterstützenden Aktivisten ziehen sich auf ihre Baumhäuser und Wachposten zurück. Der getrocknete Skalp eines Keilers hängt an einer der Festungsbarrikaden der Dale Farm und schaut auf Gerichtsvollzieher und Passanten herab. Am nächsten Morgen erwache ich in meinem zusammengefallenen Zelt und ersticke fast. Es ist sechs Uhr morgens. Noch mehr Barrikaden sind gebaut worden, jetzt auch innerhalb des Farmgeländes. Ich schaue mir die Nachrichten an, und werde plötzlich auf die andere Seite der Mauer gebeamt. Die BBC erklärt die Situation und berichtet über den letzten Last-Minute-Versuch der Traveller, per Gericht die Räumung doch noch abzuwenden. Neue Nachrichten sind im Innern der Dale Farm schwer zu bekommen. Die Leute verlassen sich auf Satelliten-Fernsehen und Autoradios. Die meisten Informationen sind Mundpropaganda, gefilterte Augenzeugenberichte, die per Telefon von Leuten aus dem Gerichtssaal durchgegeben werden. Nach dem letzten Stand soll die Räumung gegen Mittag stattfinden. Am Eingangstor quetsche ich mich an einem ausgebrannten Auto vorbei, das komplett mit Beton gefüllt ist. Vermummte Aktivisten in blauen Hosenanzügen liegen auf dem Boden und haben ihre Gliedmaßen innen im Auto angekettet. Eine junge Bewohnerin, vielleicht fünf Jahre alt, zieht ihre Habseligkeiten in einem Tinkerbell-Koffer hinter sich her. Der mit fußballgroßen Natodrahtspiralen abgesicherte Zaun bildet einen klaustrophobischen Korridor, den einzigen Eingang zum Camp. Noch ein weiterer Wagen blockiert die Zufahrt, die Luft ist aus den Reifen gelassen und auch hier haben sich Aktivisten angekettet. „NO PLACE LIKE HOME“ steht in blauen großen Buchstaben auf der Motorhaube. Über mir ragen 20 oder 30 Meter hohe, scharfkantige Metallbarrikaden in den Himmel. Die eigentlich sehr zurückhaltenden Bewohner der Dale Farm steigen jetzt auf die Gerüste, um die Gerichtsvollzieher aus dem Konzept zu bringen und den unzähligen Journalisten Interviews zu geben. Mütter lehnen an den Absperrungen und motivieren die Aktivisten. Einige Mädchen ziehen ihre jüngeren Geschwister hoch, eine ruft mitten in die Kamera: „Wir gehen hier nicht weg! Das ist unser Zuhause. Einige von uns sind hier geboren!“ Es kursiert das Gerücht, dass die Bullen das Gelände besetzen, indem sie durch einen weniger gut gesicherten Seiteneingang vorrücken. Die Aktivisten eilen zu den Absperrungen und versuchen sie zu verstärken. Sie kontrollieren die Planen, die verhindern sollen, dass hydraulische Kameras über die Zäune filmen. Ich nähere mich dem Tor und erblicke ein Mädchen, das unbeholfen unter einer Decke hockt; eine Kette liegt um ihren Hals. Neben ihr warnt ein Schild: Wenn das Tor geöffnet wird, bricht es ihr das Genick. Als ich sie fotografieren will, schubst mich ein Aktivist beiseite: „Jetzt wird nicht fotografiert, sie pinkelt gerade!“ Vor dem Gericht ist mittlerweile eine einstweilige Verfügung angeordnet worden, die den Bewohnern fünf weitere Tage Freiheit schenkt. Die Musik, die aus der Farm kommt, wird lauter, den Journalisten werden Interviews gestattet, Bewohner und Aktivisten stehen Seite an Seite und feiern ihren temporären Sieg. Aktivisten versuchen die Polizei bei der Räumung der Dale Farm zu behindern. Durch einen geheimen Seitengang (hinter einer Hütte, durch den Zaun, über den Hügel, hinters Haus und durchs Stacheldraht-Tor) wird Bier besorgt. Vielleicht wird die Katastrophe ja doch noch abgewendet und diese Geschichte wird ein Meilenstein in der Chronologie der Dale Farm. Auf diesem Boden sind viele geboren und viele gestorben, viele haben hier geheiratet. Dieser Boden ist ein heiliger Boden. „Mein Bruder und meine Schwägerin sind hier verbrannt, als ihr Wohnwagen Feuer gefangen hat“, erzählt uns Patrick und zeigt auf einen leeren, etwa 50 Meter entfernt gelegenen Stellplatz. „Mein Vater ist auch hier gestorben, wahrscheinlich an Altersschwäche. Wir konnten ihn leider nicht mehr rechtzeitig ins Krankenhaus bringen.“ Seine Ehefrau und die Kinder haben die Dale Farm verlassen. Jetzt schläft Patrick auf dem Sofa bei Freunden. Der Gerichtsprozess schleppt sich wochenlang hin. Das Leben hier hat sich wieder etwas beruhigt. Die Aktivisten nutzen die Pause, um die Dale Farm zu verlassen und immer mehr Traveller ziehen ihre Wohnwagen ab, weil sie das Schlimmste befürchten. Aber ein engagierter harter Kern bleibt hier. Die Richter erlassen noch mehr einstweilige Verfügungen, was den Bewohnern zwar Zeit gibt, aber zugleich auch die Agonie verlängert. Die Entscheidungen werden permanent vertagt und die Auswirkungen diskutiert. Es entwickelt sich eine Stimmung des gegenseitigen Misstrauens: Traveller gegen Aktivisten, Aktivisten gegen Journalisten. „Unsere Chancen sind minimal“, seufzt Patrick. Die Dale Farm war einmal der perfekte Ort für ihn—privat, abgelegen und niemand sonst wollte dort sein. „Wenn wir uns nicht mal auf einem Schrottplatz niederlassen dürfen, wo sollen wir dann hin?“ Mittlerweile zerstören aber private Abrissfirmen mit Vorschlaghämmern die Steinfundamente und reißen Rohrleitungen auseinander. Abwasser läuft in die Straßen und spült die Häuser der Familien weg, die bereits aufgegeben haben. „Ich gehe hier nicht weg, das ist mein Zuhause“, sagt Patrick. Trotz der Aufrufe, Pressekonferenzen, Proteste und Demonstrationen hat die Dale Farm verloren. Das Gericht hat den Antrag auf Berufung abgelehnt und die Gerichtsvollzieher haben eine Frist von 48 Stunden bis zur Räumung gesetzt. Auf dem gegenüberliegenden Feld wartet drohend ein riesiger Kran und die Vans der Bereitschaftspolizei rücken an. Einige Aktivisten kehren zurück und ketten sich noch einmal mit Armen und Beinen an die Tore und Trucks. Es werden Steine auf die im Wald umherstreifenden Gerichtsvollzieher geworfen. „Wir verstoßen gegen das Gesetz, wenn wir bleiben, und wir verstoßen gegen das Gesetz, wenn wir reisen.“ In Cowboypose schießt Patrick mit einer elektrischen Bohrmaschine auf die Gerichtsvollzieher. „Ich werde mich nicht an das Gesetz halten und bleiben.“ Es ist der 19. Oktober. Als ich aus meinem Schlafsack krabbele, zeigt der schwarze Himmel die ersten Spuren Blau. Gerade als ich zwei Schlückchen von meinem Kaffee genommen habe, geht der Alarm los: lange, hohe Pfeifgeräusche. Rufe ertönen von den Wachtürmen. Ich schaue aus dem Küchenfenster und sehe, wie der Mond auf den transparenten Schutzschilden und blauen Helmen der Polizisten glitzert. Sie marschieren durch das hohe Grass. Die schwarz gekleideten Aktivisten, fast unsichtbar, versuchen die Polizei abzufangen und sie hinter die Barrikaden aus Wellblechmetallen, Holz und Stacheldraht zurückzudrängen. Die Polizei schießt mit Tasern. Schreie, die erste Reihe der Aktivisten geht zu Boden. Eine Kette von Bullen drückt sich durch das Tor. In einem Stein- und Flaschenhagel zwingen die Polizisten die Aktivisten hinter das Tor zurück. Patrick torkelt durch die tobende Menge und filmt alles. Beißende Rauchschwaden prallen auf die klare Herbstluft. Ein Wohnwagen ist angezündet worden, als zusätzliche Barrikade. Traveller und Aktivisten schmeißen gemeinsam Autoreifen, Sofas und Teile alter Hütten in das Feuer und färben die Luft tiefschwarz. Das Stromnetz der Dale Farm ist ausgefallen. Die einzige Beleuchtung kommt jetzt von den Flutlichtern der Vollstreckungsbehörden. Am Eingangstor wird das Metall und der Beton aufgesägt, die Polizei steht Wache, verschanzt hinter ihren Schutzschilden. Plötzlich nähert sich ein Aktivist. Er hat seine Maske und den schwarzen Overall abgelegt und zeigt sein Gesicht. Einen Meter vor den Polizisten hält er an, zeigt mit dem Finger auf sie und schreit spuckend: „Seid ihr jetzt glücklich? Könnt ihr nachts gut schlafen?“