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Drogen

Expats und Flüchtlinge haben uns erzählt, was sie an Deutschland am schockierendsten finden

„Weil ich Jude bin, hatte ich Bedenken, nach Berlin zu ziehen. Ich dachte, dass dort alle Nazis wären, was einfach scheißbeängstigend war, weil die Nazis einen Teil meiner Familie getötet haben."
Beim 10. Rock für Deutschland, dem größten Neonazi-Festival Deutschlands, 2012 | Foto: Grey Hutton

Die Deutschen: Ein Volk der Dichter und Denker. Wir haben den Buchdruck erfunden, das Oktoberfest und die AfD. Wenn sich der deutsche Bürger selbst beschreiben soll, fallen Adjektive wie fleißig, zuverlässig und ab und zu vielleicht ein wenig besorgt—zumindest in der letzten Zeit. Aber habt ihr euch schon mal mit jemandem unterhalten, der nicht in Deutschland groß geworden ist und unser kulturelles Spektakel deswegen mit ein wenig Distanz betrachten kann? Nein? Solltet ihr machen. Wir haben zehn unserer nicht-deutschen Mitbürger gefragt, wie sie uns so finden. Fleißig und zuverlässig wurde nicht genannt.

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Keine Kondome und überall Nazis

Ich bin aus New York nach Berlin gezogen. Beide Städte sind wahnsinnig schwul. Und anders als in den Staaten, wo es strenge Regeln gibt bezüglich des Austauschs von—nennen wir es Zuneigung—in der Öffentlichkeit, kann man in Berlin machen, was man will. Es gibt sogar Orte, die nur für Sex designt sind. In New York stehen in Schwulenclubs immer riesige Schüsseln voller Kondome auf den Toiletten. Sie haben ein New-York-Logo auf die Verpackung gedruckt und und werden vom Gesundheitsamt bezahlt. Das macht halt Sinn. Als ich also nach Deutschland gezogen bin, hat es mich überrascht, dass das deutsche Gesundheitssystem das nicht tut, vor allem nicht in Clubs, die keine Sperrstunde haben und in denen Menschen mit wechselnden Partnern tagelang Sex haben. Einmal fragte ich einen Bartender nach einem Kondom und er sagte, ich könne eins auf dem Klo aus dem Automaten ziehen. Schock!

Foto: Gergana Petrova

Weil ich Jude bin, hatte ich Bedenken, nach Berlin zu ziehen. Ich dachte, dass dort alle Nazis wären, was einfach scheißbeängstigend war, weil die Nazis einen Teil meiner Familie getötet haben. Ich war dann wirklich überrascht, dass doch nicht alle Nazis sind. Ich hab mich richtig in die deutsche Kultur eingefunden, habe die Sprache gelernt, habe ein Masterstudium in deutscher Philosophie begonnen. Immer wenn ich nach Hause gefahren bin und die Leute in New York mich nach der ganzen Nazisache fragten, hab ich ihnen gesagt, es gäbe hier in Deutschland keine. Das ganze ist aber zehn Jahre her. Ich lebe immer noch hier und ich liebe es wirklich sehr, aber ich musste feststellen: Ich hatte Recht. Ihr seid alle Nazis. Es ist, wie es ist. Kommt damit klar. — Michael, USA

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Zieh dich aus

Wenn man in Deutschland zu jemandem nach Hause eingeladen wird, habe ich es schon ganz oft erlebt, dass ich mir die Schuhe ausziehen musste, wenn ich das Haus oder die Wohnung betreten habe. Auf die Idee würden wir zu Hause nie kommen, was ist denn, wenn sich damit jemand nicht wohl fühlt? Wir würden lieber das ganze Haus putzen, wenn die Gäste weg sind, als sie darum zu bitten, ihre Schuhe auszuziehen. Giulia, Italien

Niemandland

Meine Freundin und ich dürfen den Garten mitbenutzen, der zu unserem Haus gehört. Eigentlich eine gute Sache, aber: Irgendjemand, ich glaube der Vermieter, hat den Garten mit Farbe in Parzellen aufgeteilt. Jeder Mieter darf nur die benutzen, die zu seiner Wohnung gehört. Dazwischen ist Niemandsland, was wir vermutlich als Laufwege benutzen sollen. Die Mieter interessiert das nicht, aber es ist seltsam, überall diese Linien auf dem Boden zu haben. Was ich außerdem ziemlich lustig finde, ist, dass die Deutschen einen sehr gerne belehren, wenn man etwas in ihren Augen Falsches macht. Als ich das letzte Mal innerhalb Berlins umgezogen bin, mussten wir den Wagen kurz auf der Straße in der zweiten Reihe parken. Es war auf jeden Fall noch genug Platz zum Durchfahren für die Anderen. Mehrere Autos haben dann neben uns angehalten, die Leute haben das Fenster runtergemacht und uns erklärt, dass wir hier so nicht stehen dürften. Obwohl es sie überhaupt nicht betroffen hat, sie konnten ja vorbeifahren. Bram, Niederlande

Halt! Stop!

Was habt ihr mit euren roten Ampeln? Ich verstehe das einfach nicht. Wenn kein Auto kommt, aber die Ampel rot ist, warten die Fußgänger brav, bis es grün wird. In der Zeit bin ich dreimal über die Straße gelaufen. Wieso geht ihr nicht einfach? Wir nennen das übrigens liebevoll „Obey the red man". Ich habe aber mal gehört, dass man in Deutschland seinen Führerschein verlieren kann, wenn man über eine rote Ampel läuft. Vielleicht seid ihr deswegen so vorsichtig damit. Aaron, England


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Kinderwagen aus der Hölle

Deutschland und Italien sind so verschieden. Ihr seid viel ordentlicher als wir. Bei uns gehen auf dem Amt ständig Akten verloren oder Ordner verschwinden und wenn man dann was will, können die Mitarbeiter die Unterlagen nie finden. Das ist mir hier noch nie passiert. Oder dass ihr eure leeren Flaschen in den Supermarkt zurückbringt und auch noch Geld dafür wiederbekommt. Das gibt's in Italien nicht. Eure Kinder sortiert ihr auch immer ordentlich in Zweierreihen oder in diese seltsamen, riesigen Hipster-Wagen, die ihr dann vor euch herschiebt. Sara, Italien

Wie soll das gehen?

Die deutschen Gesetze sind nicht nur ziemlich komplex, sie sind teilweise richtig seltsam und nicht nachzuvollziehen. Ich wollte mir letztes Jahr mal etwas Gras kaufen. Euer Zeug ist zwar nicht ansatzweise so gut wie das, was man in Damaskus bekommt, aber OK. Als ich mich deswegen umgehört habe, kam ich mit einem deutschen Freund ins Gespräch und er hat mir erklärt, dass es in Deutschland verboten ist, Gras zu kaufen, zu verkaufen, zu besitzen und so weiter, aber es ist nicht verboten, es zu konsumieren. Das ergibt doch keinen Sinn. Warum verbietet ihr es dann nicht gleich ganz? Said, Syrien

Zieh dich aus — die Zweite

Die deutsche Freikörperkultur ist etwas seltsam für mich. Ich war sehr erstaunt, als ich das erste Mal im Fitnessstudio war und alle Frauen in der Umkleidekabine nackt gesehen habe. Gleiches in der Sauna: Männer und Frauen, nackt, zusammen? Das war eine Überraschung. Vielleicht sind wir Franzosen zu schamhaft, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, nackt in einer Sauna mit Männern zu sitzen, die ich vor allem gar nicht kenne. Überhaupt scheinen die deutschen ziemlich ungezwungen zu sein. Ihr trefft euch zum Beispiel monatelang mit jemandem und habt Sex, ohne dass ihr fest zusammen seid. Das gibt es bei uns nicht. Bis ihr dann irgendwann das Thema „Wir sind jetzt exklusiv" besprecht. Obwohl ihr davor irgendwie auch schon zusammen wart. Und ich finde diese Frage „Sind wir exklusiv?" sehr zeremoniell, gar nicht spontan. Ich verstehe das nicht. Lucie, Frankreich

All Colors are beautiful

Ich bin Künstler und lebe in Köln. Wegen meiner Papiere musste ich irgendwann spontan nach Chile. Als ich nach Deutschland zurückgeflogen bin, hatte ich eine sehr seltsame Situation am Flughafen, die mir so noch nie irgendwo anders passiert ist. Ich sah echt scheiße aus, mit Mütze, Sonnenbrille, einem hässlichen Hippie-Pullover und meinem riesigen Bart. Außerdem war ich super müde. Als ich durch die Passkontrolle wollte und meine Papiere hochhielt, kam auf einmal ein Berg von einem Mann auf mich zu und fragte: „Ey, was willst du hier?" Ich guckte ihn an und war total verwirrt. Dann erst ist mir aufgefallen, dass er ein Polizist ist. Er meinte dann: „So, wir gehen jetzt mal ein Stück zusammen." Dabei stellte er mir ohne Ende Fragen. Ich wollte das Ganze irgendwie entschärfen und zog deswegen meine Mütze und die Sonnenbrille aus, um ein bisschen freundlicher auszusehen. Dann musste ich meinen Pass zeigen. Dabei kam dann zur Sprache, dass ich Künstler bin. Daraufhin lachte er mich an und sagte zu seinen Kollegen: „Der Typ hier ist Künstler, solche brauchen wir mehr in Deutschland!" Ich hatte keine Ahnung, was da los war, aber dann durfte ich gehen. Nico, Chile

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Das Berghain bei Nacht | Foto: imago | Jakob Hoff

3 Tage wach

Das Erste, was mir an den Deutschen aufgefallen ist, ist, dass viele nicht nur für einen Abend ausgehen—sondern gleich für Tage. Nicht nur dass vor allem in Berlin viele Clubs einfach tagelang nicht schließen, auch viele Bars sind 24/7 geöffnet. Das heißt für viele, dass sie erst nach Hause gehen, wenn sie völlig hinüber sind oder jemanden abgeschleppt haben. In London machen die Clubs um 6 Uhr morgens zu, und man kann danach auch nicht mehr woanders hingehen, außer vielleicht auf eine illegale Party in einem besetzten Haus. Dass es hier für viele so normal ist, so lange wach zu bleiben, hat mich schon schockiert. Steven, England

OHNE UMWEGE

Ich lebe jetzt seit knapp 1,5 Jahren in Deutschland, und was mir am meisten an den Deutschen auffällt, ist dass sie wahnsinnig stolz sind auf ihre eigene Meinung und die allen anderen um sie herum auch gerne ungefragt unter die Nase reiben. Ich war mal auf einem kleinen Singer/Songwriter-Konzert und nach der Show sehe ich, wie ein Typ aus dem Publikum zu der Sängerin hingeht und ihr sagt, der Sound wäre in den ersten zwei oder drei Minuten ja richtig mies gewesen. Aber dann wäre es besser geworden. Was zur Hölle soll das? Wen interessiert das überhaupt? Wenn man in Brasilien jemanden kritisiert, versuchen alle immer, so höflich wie möglich zu sein. Die Deutschen hingegen sind viel zu direkt. Damit muss man auch erst mal umgehen lernen. — Athos, Brasilien