Aus dem Knast zur Deutschen Meisterschaft: Der Cassius Clay vom Waldhof
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Aus dem Knast zur Deutschen Meisterschaft: Der Cassius Clay vom Waldhof

Die unglaubliche Geschichte des Charly Graf ist nicht nur inspirierend, sondern auch ein Zeugnis der deutschen Sportgeschichte.

Betrachtet man die Karriere des deutschen Boxers Charly Graf, wird schnell klar, dass diese wohl eine der ungewöhnlichsten Boxgeschichten ist, die es in Deutschland gegeben hat. Seine Biographie ist eine Geschichte von fehlenden Vorbildern und sportlichem Erfolg als Resultat einer schwierigen Kindheit.

Vom ersten Tag an war sein Leben ein Kampf und damit waren nicht nur die Kämpfe im Ring gemeint, in denen er bestehen musste. Vielmehr ging es für ihn darum, rassistischen Anfeindungen standzuhalten, ein Leben mit einer alkoholkranken Mutter zu meistern und für seine Daseinsberechtigung in einem der ärmsten Viertel Mannheims zu kämpfen.

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Charly Graf wurde als Sohn einer deutschen Mutter und eines afroamerikanischen Besatzungssoldaten 1951 in Mannheim geboren. Noch vor seiner Geburt verließ der Vater die Familie, um in die USA zurückzukehren. Besatzungskinder, wie Charly es war, hatten im Nachkriegsdeutschland einen schweren Stand. Zwar waren sie Deutsche, doch ein Großteil der Gesellschaft sah sie nicht als solche an. Oft waren sie rassistischen Anfeindungen ausgesetzt und zählten zur sozialen Unterschicht.

Charly und seine Mutter lebten auf 20 Quadratmetern in den Benz-Baracken, einem Armutsviertel im Mannheimer-Waldhof. Hier wohnten die Ärmsten der Armen. Menschen, die sich selbst die Sozialwohnungen nicht leisten konnten. „Man kann sich dieses Viertel als ein Ort ohne sanitäre Einrichtungen vorstellen", sagt der heute 64-Jährige Charly über sein damaliges Zuhause. Die gängige Währung: physische Überlegenheit.

Es war die ständige Konfrontation seinem Deutschsein von Leuten aus der Mehrheitsgesellschaft, die fehlende Fürsorge der alkoholkranken Mutter, die schon früh am Selbstbewusstsein des Jugendlichen nagten. „„Als Kind hatte ich eine Abneigung gegen alles, was Normalität verkörperte, denn es waren ja die normalen Leute, mit denen ich Probleme hatte."

Er nennt ihn den „„Tag des Grauens", mittwochs, den Tag, an dem seine Mutter, eine einfache Arbeiterin, ihren spärlichen Lohn bekam. Es war der Tag, an dem sie sich oft bis in die Besinnungslosigkeit trank und Männer mit nach Hause brachte. Oft waren es mehrere, die im Liebesspiel über sie herfielen. Der junge Charly: Zeuge dieser Freudenspiele.

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Mit seinen sechs Jahren verstand er nicht, was es zu bedeuten hatte, wenn er seine Mutter stöhnen und schreien hörte. Er war nicht nur überfordert mit der Situation, sondern verspürte auch eine große Scham. Reden über das, was zu Hause vor sich ging, konnte er jedoch mit niemandem. Häufig musste er den nächtlichen Besuchern die Tür öffnen und verständlicher Weise hatte er Angst vor den fremden Männern, die seltsame Dinge mit seiner Mutter veranstalteten. „„Es gab da so einen Kerl, vor dem hatte ich besonders Angst. Bei ihm wollte ich die Tür einfach nicht öffnen." Es war dieser Besucher, der ihn eines Nachts, als er seiner Mutter zu Hilfe kommen wollte, in die Ecke schleuderte und ihm dadurch seinen Arm brach.

Doch an Charlies Situation sollte sich auch nach diesem tätlichen Übergriff nicht viel ändern. Immer wieder drohte die Mutter, sich umzubringen, wenn er die Tür für ihre Liebhaber nicht öffnen würde. Die Drohungen der Mutter erweckten Ängste in Charly, die ihn sein weiteres Leben begleiten sollten.

Charly fand Zuflucht im Sport, begann mit dem Gewichtheben und wurde schnell deutscher Jugendmeister. Sport gab ihm eine Daseinsberechtigung, den Zuspruch, den er sein Leben lang suchte. Mit 17 bekam er seinen ersten Profi-Boxvertrag und Charly zog nach Bad Soden. Hier befand sich eine private Sportschule von Wolfgang Müller, einem dubiosen Charakter aus der Unterwelt, der wohl mehr über das Milieu wusste als über das Boxen. Für Charly jedoch war es ein Aufstieg und ein Ausweg aus dem Armenviertel Mannheims, weg von den Liebhabern seiner Mutter und befreit von seiner Angst vor ihnen.

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Müller wollte ihn aufbauen, aus ihm etwas ganz Großes machen, wie er ihm sagte. Er versprach viel, sprach von Weltmeistertiteln und Ähnlichem. Musik in den Ohren eines Jungen, der Ambitionen hatte.

Vieles an Grafs Art zu Boxen erinnerte an Muhammad Ali. Oft kam es vor, dass er tänzelnd seine Gegner schon in der ersten Runde auf die Matte schickte, was ihm schnell den Beinamen „„Cassius Clay vom Waldhof" einbrachte.

Die Anerkennung durch seinen sportlichen Erfolg gefiel ihm. Charly Graf, der Junge aus den Benz-Baracken, war endlich wer. Sein Selbstbewusstsein begann zu steigen, doch ihm war auch klar, dass es für ihn immer um mehr gehen würde als das einfache Siegen im Ring. „„Durch meine Erfolge konnte ich eine gewisse Akzeptanz in der bürgerlichen Welt erlangen und das hing alles mit dem Boxen zusammen, es war also immer ein Druck da."

Doch sein Erfolg begann ihn zu verändern. Charly begann übermütig zu werden. Einen Kampf zu gewinnen schien für ihn zu einfach. Charly fühlte sich unbesiegbar und immer öfter begann er das Training zu vernachlässigen. In seinen Kämpfen war er mit hängender Deckung zu sehen. Man könnte es jugendlichen Leichtsinn nennen, maßlose Überschätzung seiner selbst oder einfach nur ein Ausdruck der geglaubten Dominanz, doch der aufstrebende Boxer hatte niemanden, der ihn bremste. Ganz im Gegenteil. Vielmehr waren es Aussagen wie: „„Der sieht aus wie eine Millionen Dollar", die von seinen Promotern zu hören waren.

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Es war der Kampf gegen Ivan Prebeg, der ihn auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Seine Trainingsrückstände begannen sich bemerkbar zu machen. Bereits in der fünften Runde schien Graf außer Puste. War das der mangelnden Fitness zuzuschreiben? In Runde sechs ging er zu Boden und Prebeg wurde zum Sieger erklärt. Für Charly, der bis dahin immer als Sieger aus dem Ring steigen konnte, war es etwas, das er nur schwer verkraftete.

Die Sportschule sei sein „„Eintritt in die Szene" gewesen, wie er es beschreibt. Hier kam er in Kontakt mit dem Milieu. Neben aufstrebenden Boxern, wie er es war, verkehrten dort Personen aus dem Frankfurter und Mannheimer Rotlicht. Dubiose Gestalten, von denen Charly nicht viel wusste, nur dass sie ihn akzeptierten. „„Ich war in einem Umfeld, was sehr monetär bewaffnet war, aber eben auch extrem kriminell. Damals erkannte ich dies jedoch nicht. Für mich waren die Leute Vorbilder, die etwas materiell erreicht hatten."

Das ständige Verlangen, dazuzugehören, als Deutscher akzeptiert zu werden, trieb ihn an. Es war wichtiger als jegliche moralischen Aspekte und so tauchte er immer tiefer ein in die Zwischenwelt der Zuhälter, Schläger und Geldeintreiber, ohne sich über seine Außenwirkung wirklich bewusst zu sein.

„„Ich war Türsteher, später hatte ich mehrere Frauen laufen und selber ein Bordell." Gewissensbisse gab es damals keine, wie er sagt. „Ich war nicht sozialisiert und daher auch sehr skrupellos." Die Abwärtsspirale des Milieus und dunkle Machenschaften zogen ihn immer tiefer hinein, bis das Milieu zu einem festen Bestandteil seines Lebens wurde. „„Ich war genauso ein Schwein wie die anderen im Milieu", reflektiert Graf. Wegen Körperverletzung und Zuhälterei kam Graf ins Gefängnis. Mit mehreren Unterbrechungen waren es letztendlich 10 Jahre, die er einsaß.

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Während seiner Zeit in der Justizvollzugsanstalt Stammheim traf er auf das RAF-Mitglied Peter-Jürgen Boock. Er war es, der Charly wieder zum Boxen brachte. Er machte ihn bekannt mit Welt der Literatur und machte aus ihm den Menschen, der er heute ist. Charly begann zu lesen. „„Von Kant bis Dostoyevsky habe ich die ganzen Klassiker gelesen. Bis dahin waren diese für mich eine fremde Welt." Im Gegenzug versprach Charly, aus Boock einen brauchbaren Boxer zu machen. Die Freundschaft zu Boock tat ihm gut. Er begann an innerer Stärke zu gewinnen, etwas, was er bis dahin noch nie erfahren hatte. Schnell sah er in Boock nicht nur einen Freund, sondern auch die erste positive Bezugsperson in seinem Leben.

Charlies Zelle wurde Trainingshalle und Bibliothek zugleich. „„Anfangs hatte ich nichts, keine Boxhandschuhe. Nichts." Doch das hielt ihn nicht davon ab, zu trainieren wie ein Besessener. „„Wenn ich was mache, dann beiß ich mich auch fest." Ihm war klar, er wollte wieder kämpfen und sein Leben in den Griff bekommen. Die langen Nächte im Gefängnis zehrten an ihm. „Es waren die kleinen Freuden des Lebens, die einen ganz anderen Stellenwert bekommen haben", sagt Graf.

Für ihn war es eine Chance und sein Verlangen, wieder zu boxen, ließ ihn nicht los. Er kam auf die Idee, die Anstaltsleitung davon zu überzeugen, ihm einen Kampf außerhalb des Gefängnisses zu genehmigen. Ein Vorhaben, das schneller als erwartet zum Erfolg führen sollte.

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Charly wusste, dass Anstaltsleiter Maximilian Schumacher eine eitle Person war. Etwas, was er sich zu Nutze machen wollte. „„Ich habe Zeitungen und Manager angeschrieben und behauptet, ich hätte die Genehmigung, Boxkämpfe außerhalb des Gefängnisses zu kämpfen." Natürlich war das gelogen, doch sein Plan schien aufzugehen. Zeitungen begannen, über das angebliche Experiment der Haftanstalt zu berichteten.

Erstmals darf sich ein Häftling in Deutschland beim Boxkampf bewähren. Zu jedem Kampf erhält Schwergewichtler Charly Graf Urlaub
(Der Spiegel/1984)

„„Ich wurde zur Anstaltsleitung gerufen und Schumacher verhielt sich, als ob er es mir genehmigt hätte. Das war der Hammer!" Wie zu Beginn seiner Karriere gewann er den ersten Kampf souverän. „„Anfangs haben meine Gegner mich nicht ernst genommen", sagt Graf. Doch dies spornte ihn weiter an. Aus seinen Trainingseinheiten während des Hofgangs und auf seiner Zelle wurden Einheiten in der Sporthalle des Gefängnisses. Charly schien in der besten körperlichen Verfassung seines Lebens zu sein. Ein guter Zeitpunkt, denn er stand kurz vor dem Titelkampf um die deutsche Meisterschaft. In Düsseldorf sollte er gegen Reiner Hartmann unter Beweis stellen können, dass sich sein Training gelohnt hatte.

Drei Tage vor der Veranstaltung sollten die Kämpfer in Düsseldorf sein, so verlangte es der Ausrichter. Für einen Gefängnisinsassen eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Doch Charly hatte immer noch gut bestehende Kontakte ins Milieu und durch diese ließ er eine Unterkunft in einem Hotel eines Freundes organisieren. Er schlug der Anstaltsleitung vor, dass er und das Sicherheitspersonal, das ihn beaufsichtigte, dort untergebracht werden könnten. Und auch hierfür sollte er eine Genehmigung erhalten. „„Wie man sich vorstellen kann, war diese Unterkunft jedoch kein einfaches Hotel, sondern ein Puff", sagt Charly und lacht. „„Das konnte ich natürlich nicht sagen, denn sie hätten mir das niemals durchgehen lassen." So ging es für Charly und seine Wärter nach Düsseldorf. In ein Hotel, das eigentlich ein Laufhaus war, und in Zimmer, die nicht zwischen anderen Hotelgästen, sondern zwischen den Huren des Düsseldorfer Rotlichts waren.

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„„Für mich war die Fahrt zum Kampf eigentlich spannender als der Kampf selbst." Denn die Beamten waren interessiert daran, ob es ein Vier- oder Fünfsterne-Hotel war, in dem sie untergebracht waren, ohne zu wissen, was sie erwartete.

Obwohl sie nicht schlecht staunten, als sie in Düsseldorf ankamen, machten sie gute Miene zum bösen Spiel. „„Jeder wollte, dass es weitergeht". Zu diesen Personen gehörten auch seine Wärter, die ihn nicht nur bis zum Kampf begleiteten, sondern ihn auch während des Kampfs sekundierten.

Seine beharrliche Vorbereitung, die endlosen Stunden, die er in seiner Zelle trainierte, die Runden, die er auf dem von Gittern umzäunten Dach von Stammheim lief, all dies sollte sich auszahlen. Nach einem Hieb gegen den Kopf seines Gegners, Reiner Hartmann, erlitt dieser eine Platzwunde über dem Auge und dies führte letztendlich zu einem technischen K.O. in siebter Runde und zum Abbruch des Kampfes.

Der Junge aus den Benz-Baracken. Eine Person, die immer dafür kämpfen musste, Akzeptanz als Deutscher zu finden, war Deutscher Meister. Die Menschen feierten ihn und seine Hautfarbe schien für einen kurzen Moment keine Rolle zu spielen. Charly Graf war Deutscher Meister.

Für ein halbes Jahr hielt er diesen Titel inne, bis er ihn durch eine zweifelhafte Entscheidung gegen Thomas Classen, der für den Boxstall Sauerland kämpfte, nach Punkten verlor. Heute sind sich Boxexperten einig: Es war eine klare Fehlentscheidung der Offiziellen. In einem emotionalen Interview direkt nach dem Kampf sieht man einen enttäuschten Graf. Sichtlich frustriert über die Entscheidung ist er sich sicher, dass dies das Ende seiner Karriere war und tritt vor laufenden Kameras vom Boxsport zurück.

Heute ist Graf im sozialen Dienst tätig, angestellt bei der Stadt Mannheim. Am Beispiel seiner Geschichte versucht er Jugendliche, die auf die schiefe Bahn geraten sind, zurechtzuweisen und ihnen durch das Boxen etwas für ihr weiteres Leben mitzugeben.

Charles Graf: 26 Kämpfe, 18 Siege (11 durch K. o.), 4 Unentschieden,
4 Niederlagen (1 durch K. o.).

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