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Musik

Reptilien, Gladiatoren und Elektroshocks

Was macht man in einer Situation, in der man bereit wäre seine tote Grossmutter darauf zu verwetten, dass man gerade in einem brutal benutzerunfreundlichen Videospiel gelandet ist?

Es gibt Momente, in denen man dem verrückten Penner auf der Strasse glaubt, der herumschreit, dass diese Welt nicht echt ist. Man schwört darauf, dass man hellwach ist. Aber das nervöse Zucken im Hinterkopf, das sich Realität nennt, ist gerade plattgewalzt von den sensorischen Attacken dieses brodelnden Kochtopfs in den man da geraten bist.

Wir befinden uns mutmasslich im »Mad Club« in Lausanne, dem verhängnisvollen Level III des »Elecrosanne« Festivals, das sich in Anbetracht der Umstände ebenso gut Elektroschock-Festival hätte nennen dürfen. Ich kann nicht mehr genau sagen, wie wir in diese Hölle aus Krokodilleder Imitaten und Sadomaso Tempel geraten sind, geschweige denn, was in den letzten 24 Stunden wirklich passiert ist. Aber wir sind umzingelt von schweissüberströmten Halbleichen in den Klauen der Ekstase, gefangen in einem fünfstöckigen Drachenverlies aus misslungenen Jurassic Parc Experimenten und Gladiatoren Porno. Und es gibt keinen Ausweg. Wir beten um eine Zigarette die wir den menschlichen Velociraptoren vor die Füsse werfen kann bevor sie mich ins Visier nehmen. Nur bloss keine Furcht zeigen, die verfluchten Biester können das riechen!

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Begonnen hat eigentlich alles ganz harmlos. Sollte ein ganz gewöhnlicher Job werden. Drei Tage Festival, zwei Hotelzimmer, ein paar Interviews, eine Fotoreihe und Pressepässe. So eine Routinesache eben. Nirgends gab es nur die leisesten Anzeichen dafür, dass sich all die zahllosen Stunden hirngelähmtes Call of Duty Geballer bald einmal im echten Leben bewähren sollten..

Sobald der Zug aus dem Tunnel über die Weinberge von »Villete« fährt, wird die filigrane Haut zwischen dem Ich und dem Superrealen Es lautlos durchtrennt. Ohne es zu ahnen betritt man eine Stadt, deren steingemeisselte Renaissance-Maniera aus französischem Fischerdorf und dem Science Fiction Wahn eines durchgeknallten Astrophysikers eine Kulisse bietet, auf die selbst Charlie mit seiner Schokoladenfabrik neidisch wäre. Das einzige beunruhigende; wenn das hier wirklich so etwas ist wie eine Life Ausgabe von Alice im Wunderland, wo ist dann das weisse Kaninchen?

Level I: Das Hotel mit dem originellen Namen »l'hotel« (wenigstens finde ich das Teil so wieder), ist sowas wie ne Anlaufstelle für die VIP Loge des Festivals, inklusive deren menschlicher Haustiere bzw. Begleiter oder Sittenwidrigkeiten aller Art. Der Lift ist dauerbewacht von einem Brecher, der aussieht als ob er manchmal aus Langeweile ein paar Batterien isst, und es gibt ungefähr zwei Dutzend Gästelisten für die mindestens 3-4 »Redbull Music« Aperitife die dort täglich auf dem Dach gefeiert werden.

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Das Dach ist ein einziges Gelage. Kaum oben angekommen klebt so ein nerviger New Yorker DJ an uns wie ein Zirkusäffchen, das sein Koks verloren hat. Selbst wenn dir von dem nonstop Gelaber von wegen Frauen abschleppen die Galle hochkommt, so wird eines klar: Willst du dieses Spiel ohne einen Kreislaufkollaps überstehen, ist es unumgänglich hin und wieder hierher zurück zu kehren um ein paar Lebenspunkte aufzutanken. Wie es schon ein paar fette römischen Feldherren so selbstgefällig ausdrückten: Mögen die Spiele beginnen!

Direkt vor der Tür des Basislagers pocht das blutende Herz des Spektakels, das die Besuchermassen beständig durch die thrombösen Venen des Festivals pumpt. Wir befinden uns im so genannten »Flon«, ein gewaltiger Trichter und verhängnisvolles Level II des pulsierenden Planeten Electrosanne. Die waghalsige Architektur würde im Kriegsfall wohl die ideale Arena abgeben, was in Anbetracht der gegenwärtigen Szene auf etwa Dasselbe hinaus läuft.

Von den Brücken aus bewerfen uns lachende Gestalten mit Wasser, Cola, Bier und beunruhigend zähflüssigem Glibber. Die Ausgänge zwischen dieser Fallgrube sind beinahe dauerversperrt von Securities, die irgendwelche halbstarken Skater rauswerfen, die zu blöd waren ihre Bändel richtig zu fälschen. Die Etappe zur Brüstung ist besetzt mit einem wütenden Mob, dem der dröhnende Bass wohl nicht gerade sanft aufs Gemüt schlägt. Ein Typ will mich doch glatt die Treppe runter schmeissen weil er meint ich bedrohe seinen Biervorrat. Wir wollen in den Club »la romandie«, aber der Eingang wird gerade von zwei kreischenden Frauen versperrt, die sich den Irrsinn aus dem Leib prügeln, während zwei Polizisten sie angestrengt zu trennen versuchen und rund 12 weitere daneben stehen. Grosses Kino.

Die Leute tanzen wild und solange die Kamera in der Tasche ist bleibt alles friedlich. Ab dem Augenblick, in dem die ersten Exemplare der Gattung »Partypeople« unsere Fotografin ins Visier nehmen, fallen exhibitionistisch veranlagte möchtergern Models von allen Seiten über uns her. Nichts wie weg hier!

Beim Ostausgang hat sich so ein alter Obdachloser ein ganzes Vogelnest gebastelt aus Flyern über alle möglichen Verschwörungstheorien und von Minute zu Minute wird der Mist wirrer, mit dem er uns voll quatscht. Er heisse »Antonio el Anticristo«, sei Künstler und Filmemacher und er will unbedingt dass wir ihn dabei fotografieren, wie er einen Joint raucht. So etwa alle 20 Sekunden ändert er seine Meinung und erst nach geschlagenen 50 Minuten bietet sich ein günstiger Moment zur Flucht an.

Da bald der Headliner des Festivals, die Koduro Band »Buraka Som Sistema« im Mad Club ihre Show zum besten geben will, befinden wir uns also wieder am Anfang der Geschichte. Wir haben wirklich keinen blossen Schimmer, wie wir es geschafft haben den Abend zu überstehen ohne abgebissene Körperteile unsererseits, aber bevor wir jemals wieder diesen unglaublichen Club betreten, bewaffnen wir uns bis an die Zähne mit Bärenfallen, Alien Abwehr Strahler und schwerer Artillerie. Idealerweise spielt man vorher noch mindestens dreimal alle Editionen Max Paine, Mass Effect,Asassines Creed oder Mindcraft durch, die man auftreiben kann.

Ein weiser Rat, den man sich zu Herzen hätten nehmen können ist die folgende Prophezeiung aus dem Interview mit Kalaf Ângelo von Buraka Som Sistema: »There are no rules in a Buraka show!«