Auf dem Bildschirm sind leichtbekleidete Damen zu sehen, die mit Champagner in der Hand sinnlich auf einer Yacht tanzen. Zwischen ihnen hält ein Mann die dazugehörige Flasche in die Luft. Er trägt ein aufgeknöpftes Hemd, eine weiße Hose und eine Goldkette und strahlt viel Selbstbewusstsein aus. Es handelt sich um den französischen Rapper Lacrim. Vor dem Bildschirm sitzt Nasrat al-Bader, quasi der Chef der irakischen Musikszene. Er zündet sich eine Zigarette an, zieht die Augenbrauen hoch und gibt offen zu: "Ja, der Typ könnte wirklich mein Doppelgänger sein. Vor der Kamera siehe ich aber viel besser aus." Al-Baders Gesicht ist von Falten durchzogen, seine Augenringe könnten deutlicher nicht sein und seine Stimme klingt gequält. Im Gegensatz zu Lacrim hat der 37-jährige Iraker noch nie im Gefängnis gesessen. Trotzdem ist sein Werdegang viel extremer als der seines französischen Ebenbilds.
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Beats für Saddam
Al-Bader und einige andere Musiker bekamen die Aufgabe, 100 Musikstücke zu komponieren, die landesweit im Fernsehen und Radio laufen sollten. Unter den wachsamen Augen zugewiesener Baath-Partei-Mitglieder mussten also Songs geschrieben werden, obwohl draußen der Lärm der Bombenexplosionen tobte. "Da sich das Studio in der Nähe von Saddam Husseins Palast befand, hörten wir rund um die Uhr, wie Bomben einschlugen", erinnert sich al-Bader. Das irakische Oberhaupt gab die Befehle und der Liedermacher wurde zusammen mit seinen Kollegen in das Studio eingesperrt. "Wir mussten sogar dort schlafen. Saddam stellte wirklich sicher, dass wir nicht abhauten", erzählt er.
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Whisky und Kekse
Draußen verschärfte sich die Situation jedoch: Die irakische Armee stand kurz vor der Niederlage und die Bombardierungen nahmen stetig zu. Muhammad as-Sahhaf, der berüchtigte und brutale Informationsminister unter Saddam Hussein, suchte zusammen mit seinen Dutzenden Bodyguards Schutz im Studio. Er war zu diesem Zeitpunkt eines der letzten treuen Mitglieder des Regimes und dafür zuständig, im staatlichen Fernsehen und Radio erlogene Propaganda zu verbreiten. Und so wurde al-Bader erneut zwangsverpflichtet. Dieses Mal musste er as-Sahhafs Ankündigungen mit Musik unterlegen. Im Studio verlor der gefürchtete Minister dann jeglichen Funken Glaubwürdigkeit, der ihm noch geblieben war: "Er beschrieb immer wieder, wie die irakische Armee siegreich gegen die Amerikaner kämpfte und amerikanische Panzer und Flugzeuge abgeschossen hatte. Das stimmte natürlich nicht. Danach setzte As-Sahhaf quasi keinen Fuß mehr vor das Studio", erzählt al-Bader lächelnd.
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Die Zeit verging, aber die Männer blieben weiter im Studio verschanzt. Irgendwann waren jedoch alle Bodyguards des Ministers abgehauen und die Essensvorräte gingen zur Neige. Am Ende waren nur noch ein paar Schachteln Kekse übrig. "Wir konnte ja nicht raus. Da hätten uns entweder die Amerikaner, der Mob oder die Bomben getötet", erinnert sich al-Bader. "Ich weiß noch, wie ich einmal riesigen Hunger hatte und deswegen an unsere Reserven gehen wollte. Der zuständige Typ sagte mir aber nur, dass der Scheißkerl as-Sahhaf sich in der Vorratskammer eingeschlossen habe, um alle Kekse aufzuessen!"
Als der Krieg schließlich vorbei war, versammelte sich eine große Menschenmenge vor dem Studio und verlangte den Kopf des Informationsministers. Al-Bader gab dann zwar staatliches Radioequipment raus, aber den Mann, der ihn über einen Monat lang gefangen gehalten hatte, beschützte er. "Was dann aus as-Sahhaf wurde? Er stellte sich, wurde kurz darauf wieder freigelassen, floh zu seiner Familie und lebt heute in den Vereinigten Arabischen Emiraten", erzählt der Produzent mit einem Lächeln und ohne Groll.Nach über einem Monat im Studio ging al-Bader zum ersten Mal wieder ins Freie. Bagdad lag in Schutt und Asche. Seine Familie hatte es zum Glück geschafft, in den Norden des Iraks zu fliehen, aber er konnte nicht nachkommen. Autos und andere Transportmittel waren nämlich kaum mehr vorhanden. Also kehrte der Produzent zurück ins Studio. Dieses Mal erwarteten ihn dort neue Gesichter – Männer, die genauso gefährlich waren wie ihre Vorgänger. "Unter Saddam waren die Sänger noch schick herausgeputzt. Nach dem Fall des Regimes hatten aber plötzlich religiöse Sänger die Oberhand. Die wollten die irakische Musikszene aufmischen und neue Propaganda etablieren", erinnert sich al-Bader. "Die Männer gehörten zur Mahdi-Armee, einer vom Geistlichen Muqtada as-Sadr gegründeten paramilitärischen Streitkraft. Sie wiesen mich an, zwei islamische Melodien zu komponieren."Auch hier hatte al-Bader keine wirkliche Wahl. Also machte er sich an die Arbeit. In den Texten, die man ihm für die Lieder vorlegte, wurde jedoch Saddam Hussein aufs Übelste beleidigt und gleichzeitig Ruhollah Chomeini, der Feind des Ex-Regimes, in den höchsten Tönen gelobt. "Ich hatte über einen Monat lang Pro-Saddam-Musik geschrieben. Und nur 15 Tage später musste ich plötzlich Lieder komponieren, die ein direkter Mittelfinger ins Gesicht des Ex-Oberhaupts waren. Ich fragte den Studio-Manager, ob das wirklich klug sei. Immerhin waren noch Untergrundkämpfer in Bagdad unterwegs, die Saddam weiter unterstützten und uns locker hätten töten können. Ich hatte echt Angst."
"Ich hasste sie und hatte Angst"
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Weil zu diesem Zeitpunkt niemand wusste, wo sich das ehemalige Oberhaupt des Iraks aufhielt, herrschte eine allgemeine Furcht vor einer Rückkehr Saddam Husseins. Al-Bader komponierte trotzdem die von ihm verlangten Songs. Das einzige Problem: Es gab keinen Alkohol mehr. Der Schnapsverkäufer gegenüber war nach dem Einzug der streng religiösen Männer nämlich ermordet worden. "Ich hasste sie und hatte Angst. Ich brauchte meinen Alkohol. Bald wurde ihnen klar, dass ich an Entzugserscheinungen litt. Ich sagte ihnen ganz direkt, dass ich ohne meinen Whisky nicht arbeiten könne. Da ich unabdingbar war, ließen sie mich wieder trinken", erzählt der Liedermacher. So ging es dann sieben Monate lang. Danach zog al-Bader nach Damaskus, wo er endlich wieder ruhig schlafen konnte – und lernte, wieder ohne Alkohol zu leben.In der syrischen Hauptstadt machte al-Bader weiter Musik und produzierte Hits. Darin richtete er sich entschlossen gegen die Amerikaner und rief zum Widerstand gegen die Invasoren auf. "Ich meinte natürlich friedlichen Widerstand. Aber damals war es quasi unmöglich, mit den Marines ins Gespräch zu kommen. Zu groß war die Angst, getötet zu werden", seufzt der Produzent. Derweilen setzte Nuri al-Maliki, der damalige Ministerpräsident des Iraks, al-Bader auf die Liste der zu tötenden Terroristen. "Sie riefen sogar meine Familie an und sagten, dass sie alle meine Verwandten ins Gefängnis stecken würden, wenn ich nicht aufhöre." Trotz seines syrischen Exils wurde der junge Musiker im Irak immer beliebter. Seine entschlossenen Worte zum Krieg hatten einen direkten Einfluss auf die irakische Diaspora. So erzählt er auch: "Eines Tages rief mich Nuri al-Maliki persönlich an und bat mich, in meine Heimat zurückzukehren. Er versprach mir auch, mich von der Terroristenliste zu streichen und mir vier Millionen Dollar zu geben. Dafür müsste ich nur ein Lied schreiben, in dem ich alle Iraker im Exil zur Rückkehr auffordere."All das passierte im Jahr 2008, kurz vor den Wahlen. Der Irak brauchte Geschlossenheit. Also ging al-Bader das Risiko ein und kehrte zurück, obwohl das Angebot des Ministerpräsidenten auch eine Falle hätte sein können. Die Entscheidung des Musiker war jedoch goldrichtig: Viele verschiedene Politiker stellten sich bei ihm vor und baten ihn, bei ihren Kampagnen zu helfen. Al-Bader wollte sich jedoch keiner Partei anschließen und produzierte stattdessen nur das versprochene eine Video, in dem er im vornehmen Anzug wichtige irakische Politiker darum bittet, dem Terror ein Ende zu bereiten und eine Regierung zu bilden, die der Schönheit des Iraks gerecht wird.
Vier Millionen Dollar für die Rückkehr und ein Lied
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Zehn Jahren später ist der blutige Bürgerkrieg nur noch eine Erinnerung. Heutzutage hat al-Bader andere Probleme: Er bringt junge, aufstrebende Künstler ins Rampenlicht und einige dieser Künstler wollen ihren Lehrer herausfordern und übertreffen. "Dabei habe ich sie doch erst berühmt gemacht. Ihnen geht es sowieso nur ums Geld und um Frauen", erzählt der Musiker mit einem Seufzen.Einer von al-Baders Angestellten kommt ins Studio und reicht dem Chef verschiedene Verträge und dicke Schecks zum Unterschreiben. "Auch die ältere Generation hat früher Schwierigkeiten gemacht. Heute bin ich jedoch jedermanns Freund, weil ich Geld habe und die beste Musik im ganzen Land produziere. Ich bin das musikalische Prunkstück des Iraks und das haben sie endlich kapiert. Mir kann niemand mehr was." Beef zwischen berühmten Rappern ist im Irak sowieso undenkbar. "Anderswo brauchen Musiker Streit, um die Fans aufzupeitschen und CDs zu verkaufen", lacht al-Bader. "Hier funktioniert solche von den Medien gehypte PR aber nicht. In Bagdad gibt es auch so schon rund um die Uhr Spannungen."Quentin Müller is bei Noisey.Alle Fotos: Sebastian Castelier. Er ist auch auf Instagram.Folge Noisey auf Facebook, Instagram und Snapchat.