Michel Reimon sitzt für die österreichischen Grünen im EU-Parlament.Na, jetzt hab ich schon einige ärgerliche Wahlanalysen gelesen, die Ärgerlichste geht sinngemäß so: FPÖ/Hofer-WählerInnen haben im Schnitt den geringsten Bildungsgrad, also sind sie dumm. Gratuliere, was für ein arroganter Blödsinn.Ganz abgesehen davon, dass Bildungsgrad und Intelligenz natürlich nicht unbedingt zusammenhängen, wird hier Kausalität und Korrelation brutal verwechselt. Ja, Hofer-WählerInnen haben im Schnitt den geringsten Bildungsgrad. Aber sie leben meist auch in ländlichen Regionen und sind vorwiegend männlich. Was jetzt? Sind Landbewohner auch dümmer und Männer genetisch rechts?
Anzeige
Nein, die Sache ist meiner Meinung nach ganz anders. Also eine kleine Wahlanalyse, aber mich interessieren nicht die Details des Ergebnisses, sondern das große Bild: Die Gesellschaft bricht um, spaltet sich—und Menschen, für die ich mich politisch einsetzen möchte, driften weg in das rechte Lager. Warum?
Was haben Menschen mit geringer Bildung, LandbewohnerInnen und Männer oft gemeinsam? "Oft" ist hier wichtig, es geht um die Strukturen, nicht um Einzelfälle. Und das Gemeinsame ist: Abstiegsangst. Jobs erfordern ein immer höheres Bildungsniveau, das Lohnniveau ein einfachen Berufen sinkt relativ. Da werden die Chancen immer schlechter. Das Land verliert an Bedeutung zunehmend gegen die Stadt. Einst stolze Industrieregionen wie die Obersteiermark haben keinerlei Perspektive für die nächsten 30 Jahre.Und Männer? Ja, denen geht es immer noch viel besser als Frauen, wir haben noch lange keine Gleichberechtigung. Aber da geht es nicht um absolute "Messzahlen", sondern um das Relative, um die Entwicklungsmöglichkeit. Frauen haben eher das Gefühl, dass es in Zukunft besser wird als jetzt. Und Gleichberechtigung bedeutet, dass Männer etwas abgeben müssen. Sie werden relativ zu Frauen also absteigen. Das ist gerecht, als Feminist kämpfe ich für diese Gleichberechtigung. Aber vielen macht das Angst, weil sie nicht gleichzeitig andere Aufstiegs-/Entwicklungsmöglichkeiten sehen.Frauen haben eher das Gefühl, dass es in Zukunft besser wird als jetzt.
Anzeige
Warum gelingt es den Rechten, diese Abstiegsangst zu bündeln, während die progressive Linke das nicht tut? Darum geht es hier.Mit einer Wirtschaftskrise vor Augen und einer Rechten im Nacken, deren wirrste Vertreter bereit sind, Massenmorde zu verüben beziehungsweise zu relativieren, sehen immer mehr Linke die Gefahr einer Wiederholung der 30er Jahre auf uns zukommen. Aber (noch) ist die Situation eine völlig andere. Die Neue Rechte, deren erfolgreichste Vertreterin die FPÖ ist, unterscheidet sich in ihrer Argumentation und Strategie wesentlich von der alten, faschistischen Rechten.Die Faschisten schufen Feindbilder von geheimen, überlegenen Mächten (jüdische Weltverschwörung, Freimaurer), gegen die sich die armen unterdrückten Massen wehren müssten. Das ist sehr wichtig, um den Erfolg der Nazis zu verstehen: Sie haben die Juden nicht zu allererst als Minderwertige dargestellt, sondern als mächtige, geldgierige, fette Säcke. Als Spinnen, die Deutschland aussaugen. Sie gaben vor, "für die da unten" (deutsche Arbeiter) gegen "die da oben" (jüdische Kaufleute) zu kämpfen. Der typische faschistische Pflichterfüller sah sich als Habenichts, der auch etwas haben wollte. Der Feind war überlegen (weil reich und bestens vernetzt), deshalb musste man ihn grausam bekämpfen, um überhaupt eine Chance zu haben. Die angebliche rassische Minderwertigkeit der Juden bildete die Legitimation für diesen Hass, aber nicht seine Motivation.
Zunächst: Die alten Rechten und die alten Linken
Anzeige
In ihrem Kampf "gegen die da oben" konkurrierten die Rechten der 20er und 30er mit den Linken. Sie propagierten andere Feindbilder und andere Lösungen, zielten aber in die selbe Stoßrichtung.Die Neuen Rechten aber treten nach unten. Der typische FPÖ-Wähler glaubt, dass ihm etwas weggenommen wird, und zwar von den Habenichtsen: den ZuwandererInnen. Dieses Etwas—den Arbeitsplatz und/oder Sozialleistungen—will er behalten und verteidigen. Und zwar gegen die da unten. Das ist ein fundamentaler Unterschied und er ist der Dreh- und Angelpunkt, um die Kampagnen, die Rhetorik und den Erfolg der Neuen Rechten zu verstehen. Sie sprechen Leute an, die nicht viel besitzen, aber gerade deshalb Angst haben, auch noch dieses Etwas zu verlieren. Weil diese Klientel nur behalten will, was sie hat, kommt die FPÖ auch praktisch ohne Inhalte aus. Deshalb greifen Programme, die bessere Bildung, Investitionen in Zukunftsbranchen und dergleichen versprechen, auch nicht. Solche Programme decken Bedürfnisse, die diese Zielgruppe nicht oder nicht primär hat. Was greift, ist: Wir verteidigen deinen Job, dein Sozial-, Gesundheits-, und Pensionssystem gegen die, die nachdrängen.Kommunikationstechnisch ist das übrigens eine Herausforderung, denn wer steht schon offen dazu, auf Schwächere hinzutreten? Niemand, also muss man aus den armen Massen trotzdem eine Bedrohung konstruieren—und zwar eben über die "Massen". Die Moslems unterwandern uns und haben eine wesentlich höhere Geburtenrate, in ein bis zwei Generationen werden sie die Macht übernehmen, also müssen wir etwas tun und sie heute schon zu bekämpfen. Das ist der Kunstgriff, dessen sich die Neue Rechte bedient. Die Terrorangst trägt das ihre dazu bei, aber sie ist nur ein Zusatz. Im täglichen Leben in Fünfhaus oder Favoriten sieht man keine Terrorverdächtigen, aber Mütter mit Kopftuch und drei Kindern. Die Kinder werden als KonkurrentInnen um knappe Ressourcen wahrgenommen—und schon klappt der Slogan: "Unser Geld für unsere Leut'". Die kulturelle "Andersartigkeit" der AusländerInnen legitimiert den Rassismus nur, sie ist nicht die zugrunde liegende Motivation. Die liegt im Verteilungskampf.
Der Erfolg der Neuen Rechten
Anzeige
Der Kampf gegen das Soziale
Anzeige
Die völlig verzerrte Perspektive
Anzeige
Manufacturing Consent
Anzeige
Die Berichte zum Pensionssystem, die ich oben erwähnt habe, sind Produktion von kultureller Hegemonie in Reinform. Dass 80 Prozent der jungen ArbeitnehmerInnen am öffentlichen Pensionssystem zweifeln, soll die verbliebenen 20 Prozent verunsichern. Genau das ist die Intention der Wirtschaftskammer, welche die Versicherungsbranche vertritt. Diese Umfrage sagt aber nur etwas über den öffentlichen Diskurs und nichts über die Sicherheit des Systems aus - oder gar über einen Vergleich mit privaten Vorsorgemodellen. Auch dazu gibt es schließlich Studien. An der Unsicherheit hängen aber Milliardenprofite der Versicherungsbranche.
Das österreichische und das deutsche öffentliche Umlage-Pensionssystem haben einen Verwaltungsaufwand von zwei Prozent der Beiträge. Private Versicherungen verbrennen zwischen zehn und 40(!) Prozent der Beiträge. Sie haben eine kompliziertere Verwaltung ("maßgeschneiderte Angebote" gibt's nicht ohne Aufwand), dazu muss noch der Profit für das Versicherungsunternehmen und den netten Makler abfallen. Soviel Rendite können die Produkte kaum erwirtschaften. Und dann kommen noch die Werbekosten oben drauf. Ja, jedes Mal, wenn Sie ein Inserat oder einen TV-Spot für Ihr Vorsorgeprodukt sehen, sollten Sie sich betrogen fühlen.Manipuliert mit Werbung, die Sie selbst bezahlen. Die perverseste Form der Hegemonieproduktion. Und sie ist ein Teufelskreis: Die Leute kaufen ein Vorsorgeprodukt, um sich abzusichern, verlieren aber Geld. Also kaufen sie Immobilien mit Frankenkrediten, die ihnen unter dem Hintern explodieren. Dann kaufen alle wie verrückt Gold—physisches Gold!—, nur um am Schluss wieder draufzuzahlen. Es muss ein Gefühl wie im Treibsand sein: Du suchst nach festem Boden, aber je mehr du strampelst, desto tiefer versinkst du. Panik steigt auf … und du willst nur noch halten, was du hast. Unser Geld für unsere Leut'. Es ist so simpel.Die Leute kaufen ein Vorsorgeprodukt, um sich abzusichern, verlieren aber Geld.
Anzeige
Österreichs monothematische Politik
Der erste Schritt: Bewusst machen
Anzeige
Langfristig gilt: Wenn wir weiterhin mehr Wohlstand produzieren, kann dieser Zugewinn gerechter verteilt werden. Natürlich, in einem begrenzten System ist unbegrenztes physisches Wachstum unmöglich, also kann darauf kein Konzept für die Ewigkeit begründet werden. Wir würden ökologisch zu Grunde gehen. Als Grüner muss ich für ein ressourcenneutrales Wachstum des Wohlstands, aber nicht des Konsums, kämpfen.Aber die Verteilung des real stattfindenden Wachstums ist dennoch möglich, gerecht und notwendig. Dafür gilt es, wieder das Bewusstsein zu schaffen. Leicht wird das Brechen der Hegemonie nicht. Dennoch, der Diskurs dreht sich spürbar, der lange vorherrschende Glaube an die Unfehlbarkeit des Marktes ist seit der Finanzmarktkrise 2008 nicht mehr Mainstream.Also müssen wir die Machtfrage stellen: Wir brauchen keine marktkonforme Demokratie und keinen autoritären Kapitalismus. Wir müssen gegen "die da oben" kämpfen: Banken, Konzerne, Lobbys, Steuertrickser, Raubtierkapitalisten. Wir müssen für die modernen Zeiten das schaffen, was die Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert geschafft hat: Die Massen vereinen.Langfristig gilt: Wenn wir weiterhin mehr Wohlstand produzieren, kann dieser Zugewinn gerechter verteilt werden