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Die Do it Well and Leave Something Witchy Issue

Rumpelstilzchenkredite: Heute Geld für den Erfolg von morgen

Humankapitalverträge könnten unsere Kreditsysteme revolutionieren. Oder sie sind „dystopische Vertragsknechtschaft."

Es war einmal, vor langer, langer Zeit, in einem weit entfernten ökonomischen Klima und Bildungs- und Beschäftigungssystem, dass ich eine Collegestudium begann.

Es waren die frühen 90er, und obwohl einige andere Nerds schon begonnen hatten, den dunklen Verlockungen des leichten Gelds im Silicon Valley nachzu­geben, wählte ich das Hauptfach Kreatives Schreiben.

Mein Vater, ein Experte für Computersicherheit, der sein Leben der unternehmerischen Arbeit gewidmet hatte, akzeptierte meine Entscheidung mit Würde. Konfrontiert mit einem jüdischen Sohn, der entschlossen war, sein ihm quasi vererbtes Anrecht auf eine medizinische Karriere auszuschlagen, schlug er sich zwar in Verzweiflung auf die Brust, zerriss sich aber immerhin nicht die Kleider, sondern fragte mich stattdessen: „Würde es dich wirklich umbringen, den einen oder anderen Computerkurs zu besuchen?" Aus Gründen, die mir heute schleierhaft sind, ignorierte ich seinen Rat und Java und studierte stattdessen Sestinen und Villanellen. Mein Kontostand bereut diese Entscheidung seit jeher.

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Letzten Winter fand ich mich in einer Situation wieder, in der ich einen Job brauchte und dafür eine gewisse Geschicklichkeit im Umgang mit Technologie von Vorteil gewe­sen wäre. (Data Journalism: Boom!) Nachdem ich von einem potenziellen Auftraggeber abgelehnt worden war, dachte ich darüber nach, mich an einem örtlichen Technikzentrum für einen Informatiklehrgang anzumelden, um mich zu einem zweiten Nate Silver umzuprogrammieren. Das einzige Problem waren die Studiengebühren: 4.000 Dollar für einen elfwöchigen Kurs. Laut der US-Notenbank belaufen sich die von amerikanischen Studierenden angehäuften Schulden auf über eine Billion Dollar, ein Wucherszenario finsterster Sorte, darauf angelegt, mich und die zahllosen anderen überqualifizierten und unterbeschäftigten Amerikaner an unsere Schreibtische und Kreditraten zu fesseln.

Ich war kurz davor, das Handtuch zu werfen, als ich über eine Finanzierungsmethode aus der Tech-Szene stolperte. Pave und Upstart, zwei hoch gepriesene Online-Start-Ups, hatten einen Weg entdeckt, die gängige Kreditformel­­-ob nun mit festem oder variablem Zins, als Jumboanleihe oder mit einem einkommensabhängigen Rückzahlmodus-zu „hacken". Diese sogenannten „Humankapitalverträge", die von den neuen Firmen angeboten werden, funktionieren nicht über eine Rückzahlung der gesamten Kreditsumme nebst Zinsen. Stattdessen verpflichten sich die Kreditnehmer, die man bezeichnenderweise „Talents" oder „Upstarts" nennt, den Unterstützern, die sie über die Pave- oder Upstart-Plattformen finanzieren, einen fixen Anteil ihres zukünftigen Einkommens-typischerweise zwischen drei und zehn Prozent-über einen Zeitraum von bis zu zehn Jahren auszuzahlen. Genaugenommen also eine Art Rumpelstilzchen-Deal: Du versprichst, für (beinahe) alle Ewigkeit, einen Teil deiner Einnahmen an einen Investor zu zahlen, der dir das Gold gibt, das du für den Einstieg brauchst.

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Diese Humankapitalverträge verkörpern für ihre Anhänger das Ende der eingefahrenen und oft ausbeuterischen Darlehensstrukturen eine Lösung, die so nur im Tech-Sektor entstehen konnte, der unbeeinträchtigt von den überkommenen Traditionen und Fesseln der Vergangenheit ist. „Die frühere Welt der Bankkredite basierte auf einem stabilen Arbeitsmarkt, der jedem ein festes Einkommen garan­tierte", schrieb James Surowiecki im New Yorker. „Diese Welt verändert sich aber immer mehr."

Kritiker der Humankapitalverträge verweisen auf das ethische Dilemma, seine persönlichen Talente gegen Bargeld zu verpfänden. Dies wären keine Kredite, argumentieren sie, sondern eine Art technisch ermöglich­ter „Vertragsknechtschaft", ein „dystopischer" Trickbetrug, der als finanzielle Innovation daherkomme, aber einfach nur einen neue Art darstelle, wie der Kapitalismus uns alle entmenschlicht.

„Wir werden uns auf die guten Seiten, die inspirierenden Erfolgsgeschichten konzentrieren", sagt der kommunistische Journalist Malcolm Harris von Al-Jazeera America voraus, „und wir werden [es] auf dieselbe Weise rechtfertigen, auf die es die Menschen schon immer gerechtfertigt haben, sich gegenseitig zu kaufen und zu verkaufen."

Humankapitalverträge haben als versteckte Fußnote in dem unter anderem von Milton Friedman 1945 verfassten Buch Income from Independent Professional Practice begonnen. Friedman, der Schutzheilige des freien Marktes, träumte von einer Welt, in der sich Individuen in lebendes, atmendes Kapital verwandeln lassen, das man wie jedes andere finanzielle Instrument verkaufen und erwerben kann.

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Zu den ersten größeren Bemühungen, Humankapitalverträge in die Realität umzusetzen, kam es aber erst 2001, als ein unter dem unglücklich gewählten Namen MyRichUncle.com firmierendes und inzwischen nicht mehr existentes Unternehmen sie anzubieten begann.

„Wir fanden uns sechs Wochen lang unglaublich originell", sagte mir der Mitbegründer der Firma, Raza Khan. „Dann fanden wir den Artikel von Friedman und stellten fest, dass alles Neue irgendwie schon einmal dagewesen ist."

MyRichUncle hielt nur ein paar Jahre durch. Sie waren, in den Augen Khans, ihrer Zeit einfach voraus. „Es hatte noch keiner eine Kreditplattform für dieses Produkt gebaut", sagte mir Khan. „Wir haben logisch dargelegt, wie es funktio­nieren würde, aber das ist natürlich nicht so überzeugend wie reale Zahlen."

Pave und Upstart gingen in den USA 2012 mit nur wenigen Monaten Abstand ins Netz und betrachten sich als die Antwort der Finanzwelt auf Crowdfunding und Sharing-Ökonomien. „Wir fanden, dass [Humankapitalverträge] für viele Leute eine bessere Lösung wären", sagte der Mitbegründer von Pave, Oren Bass, ein britischer Banker und Anwalt, der seine Laufbahn bei Goldman Sachs in London begonnen hat. „Und es stellte eine Möglichkeit dar, einen tiefgreifenden sozio­ökonomischen Umschwung einzuleiten, indem man Leuten Zugang zu finanziellen Mitteln verschaffte, denen so etwas zuvor nicht offen stand."

Zukünftige Kreditnehmer wurden an Investoren vermittelt, die sich durch ihre Profile klicken und dort diverse gut ausgeleuchtete Fotos und Meme-verdächtige Videos finden konnten, in denen die Leute erzählten, was sie mit dem Geld zu tun gedachten. Die Projekte gingen meist, wie in meinem Fall, in die Richtung technologiebasierter Aus- und Weiterbildungen, aber nicht ausschließlich.

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In gewisser Weise ist es nicht wichtig, für was das Geld genau verwendet wird, und ob man damit schwindelerregende Gewinne erzielt. Sowohl bei Pave als auch bei Upstart gibt es dafür speziell entwickelte Apps. Beide haben firmeneigene Modelle zur Berechnung der zu erwartenden Einkommen verschiedener Karrieren, von Ärzten, hin zu Rechtsanwälten und Kinoautoren. Die jeweilig geforderten Prozente und erwarteten Rückzahlungen werden anhand dieser Modelle errechnet, die auf Daten aus der Volkszählung und anderen Quellen aufbauen.

Auch die amerikanische Regierung interessiert sich für Humankapitalverträge. Die Demokraten haben im Kongress einen Gesetzesvorschlag für eine „pay-it-forward" genannte Alternative zu Studiengebühren eingebracht, bei der ein Teil des zukünftigen Einkommens jedes Studierenden zur Finanzierung kommender Generationen verwendet werden würde.

Auch wenn noch unklar ist, welche Risiken diese Kredite, bei denen sich Leute „gegenseitig kaufen und verkaufen", mit sich bringen, so ist klar, dass Pave und Upstart eine revolutionäre Eigenschaft haben: Sie haben das Machtverhältnis der Kreditfinanzierung umgekehrt. Traditionelle Kredite werden auf Grundlage der finanziellen Vorgeschichte des Kreditnehmers und der Renditen vergleichbarer Investitionen vergeben.

Die eigene finanzielle Vergangenheit verliert aber an Relevanz, wenn ein Kredit davon abhängt, was man in Zukunft einmal machen wird. Humankapitalverträge werden auf das latente Potenzial eines Individuums abgeschlossen-also auf seine Zukunft, nicht seine Vergangenheit, womit das Risiko vom Kreditgeber statt dem Schuldner übernommen wird. Nicht anders als bei klassischen Krediten können für den Kreditgeber dabei schon kleine Investitionen sehr große Renditen erzielen. Sollte mein Data-Journalism-Kurs z. B. wenig später zu einer Anstellung mit sechsstelligem Gehalt führen, und ich in die schwindelerregenden Höhen einer Bloggersuperstarkarriere à la Ezra Klein aufsteigen, könnte ich meinem Geldgeber am Ende sehr viel mehr Geld zurückzahlen, als seine ursprünglich angelegten 4.000 Dollar (beide Firmen begrenzen die Rückzahlungen aber auf das Fünffache der Kreditsumme). Dieses Szenario, bei dem die Rendite den Wert einer Einlage ohne zusätzlichen Arbeitsaufwand übersteigt, ist das, was der politische Ökonom Henry George als „Rent", also Pachtzins, bezeichnet hat.

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Und was wäre andersherum, wenn aus meinen Plänen nichts würde und ich für immer ein frustrierter, hoffnungsloser Autor bliebe? Mit einem Humankapitalvertrag würde ich dann nichts zurückzahlen. Der Kreditgeber würde Geld verlieren, aber es käme aufgrund meines Bankrotts zu keinem Harakiri, keiner atomaren Vernichtung meiner Kreditwürdigkeit. Für mich bestünde das einzige Risiko meines Versagens in genau dem: meinem Versagen.

Dann, am 7. Mai, als ich gerade mein Profil auf der Pave-Seite vorbereitete, las ich auf dem Blog von Upstart den Eintrag, dass man die Humankapitalverträge „ausschleichen" wolle. Schon wenige Tage später zog Pave nach und ersetzte die Kredite durch konventionelle Studienkredite.

Was war also passiert? Anfang des Sommers traf ich mich mit Oren Bass von Pave, einem schlanken Mittdreißiger, locker gekleidet in braunen Shorts und weißem Hemd, in einem Biorestaurant unweit des Büros der Firma in Lower Manhattan. Bei einem Cranberry-Saft erzählte er mir, dass Pave versuche, ein kleines Humankapitalprogramm fortzusetzen, das sich an Studierende mit geringem Einkommen richten, und bei dem das „pay-it-forward"-Modell verwendet werden solle. „Aber", sagte er, wobei sich unter die Reserviertheit des Bankers und die optimistische Energie des Tech-Unternehmers spürbare Enttäuschung mischte, „man kann ein Geschäft, das eine so geringe Wachstumsrate hat, wie unseres es hatte, auf Dauer nicht halten."

„Jeder weiß, wie ein Kredit behandelt wird, wie er besteuert und seine Rückzahlung notfalls durchgesetzt wird", sagte Bass. „Jeder weiß, wie es läuft, wenn man in ein Start-up oder eine Firma investiert. Wenn man in die zukünftigen Einnahmen eines Individuums investiert, hat man diese Klarheit nicht." Pave hat auf der Suche nach dieser Klarheit 1,7 Millionen Dollar dafür ausgegeben, sich von der Bundessteuerbehörde IRS und der Unternehmensberatungsfirma Ernst & Young beraten zu lassen, um sicherzugehen, dass ihr Vorhaben mit dem Gesetz in Einklang war.

Ein anderes Problem war die Frage, wer die Investitionen überhaupt tätigen durfte. Laut Gesetz dürfen sich auf Pave und Upstart nur sogenannte zugelassene Investoren in eine Person wie mich einkaufen. Zu diesen zugelassenen Investoren gehören große Banken oder Investmentfirmen, Rentenfonds und karitative Vereine sowie natürliche Personen mit einem Nettoeinkommen von über 200.000 Dollar pro Jahr oder einem Reinvermögen von über einer Million Dollar. Die Latte für eine mögliche Beteiligung lag also relativ hoch, sodass der „virale Faktor", der nötig ist, um sich online einen Ruf zu erarbeiten, sich in Grenzen hielt. „Schau dir Kickstarter an. Es verbreitet sich online sehr rasch, weil die Leute ihren Freunden sagen können: ‚Investiert in mein Projekt. Gebt 70 oder 80 Dollar.' Aber wie viele Leute, die auf der Suche nach Kapital sind, kennen schon einen zugelassenen Investor? Oder eine Institution? Das ist sehr begrenzt."

Ich neige dazu, eher fatalistisch zu sein, was den Zusammenhang zwischen Geld und guten Projekten angeht. Letztendlich können auch Computerprogrammierer, die mit Milton Friedmans Theorien und jeder Menge Venture Capital bewaffnet sind, nicht immer kontrollieren, wohin der Dollar fließt. Pave und Upstart hätten einen intelligenten, zeitgemäßen und humanen Service anbieten können, der auf die Fähigkeiten ihrer Kunden vertraut-was mir ein recht sicherer Hafen zu sein scheint. Aber die Idee, dass man, um ein Problem zu lösen, nicht mehr braucht als Technologie und eine clevere Idee, ist etwas zu simpel. Was mich betrifft, liebäugele ich immer noch mit einem Informatikkurs, und ich hätte eine dieser Vorlesungen besuchen sollen, zu denen mir mein Vater damals geraten hat. Vielleicht hole ich es eines Tages wirklich noch nach. Sobald ich die nötige Knete aufgetrieben hab.