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Erst Party, dann Revolution: Der erste Mai in Kreuzberg

Das Zusammenspiel aus Sirenen, zersplitterndem Glas und Techno-Beats, ist ziemlich genauso wie an jedem anderen Wochenende, doch Berlin ist nie so viel Berlin, wie am ersten Mai. So kaputt, so abhängig, betrunken und verkorkst.

Berlin ist nie so viel Berlin, wie am ersten Mai; ebenso wie übrigens Kreuzberg. Dabei sollte man die Stadt nicht mit randalierenden, schwarzen Hoodies und genauso wenig mit zusammengepanschten Mojitos aus Plastikbechern gleichsetzen, aber irgendwas an diesem Tag fängt einfach perfekt die Essenz Berlins ein. Zumindest meiner Meinung nach. Dieses Spiel aus Sirenen, zersplitterndem Glas und Techno-Beats, das sich über das Kottbusser Tor erbricht, ist ziemlich genauso wie an jedem anderen Wochenende. Aber es geht ja auch nicht darum, wo alles endet, sondern wie wir dort hin kommen.

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Es gibt keine bessere Gelegenheit, um sich auf eine Millionen verschiedene Arten einfach mal gehen lassen kann, als der erste Mai; Genauso wie dein Trommelfell, deine Leber und deinen Kontostand. Wir sind deshalb losgezogen, um uns in den Wahnsinn zu stürzen und an so vielen Orten wie möglich zu herumzutollen. Als erstes sind wir zum Soundtunnel an der Oranienstraße, wo ein paar Arthritiker ziemlich angestrengt die Rockgötter verehrten.

Andere Zuschauer waren weniger begeistert. Ich war immer der Meinung, sich ein schickes Kleid anzuziehen kann echt riskant sein; sowohl auf ein gute, als auf eine schlechte Art. Klar, ein lustiger Tanzstil ist unfassbar viel lustiger, wenn du als Gorilla verkleidet bist, aber eine kleine Indiskretion und du verstärkst das Ganze hoch oh scheiße. Diese stehende Mittagspause hier beispielsweise, wäre wahrscheinlich unbemerkt geblieben, wenn es nicht diese unkontrollierte Haarsituation gegeben hätte. Zum Glück hatte er diese kleine, pinke Ukulele als Retter, die garantierte, dass er auf der richtigen Seite von Geil blieb.

Der erste Mai ist für mich auch immer der Sommeranfang. Wenn der Wintermantel ein für alle Mal eingemottet wurde, können wir wieder aus dem Gefängnis unserer Wohnungen ausbrechen und eine Welt voller Möglichkeiten begrüßen. Öffentliche Schaumbäder sind dabei nur der Anfang …

Diese Typen hier fühlten die kalten Monate wahrscheinlich stärker als die meisten. Du willst wohl nicht neben ihnen wohnen, wenn sie den ganzen Winter lang trainieren. Aber jetzt ist es Zeit die T-Shirts auszuziehen und Saltos zu machen, wie dieser brasilianische Hau den Lukas hier. Meister Proper auf der rechten Seite hatte tatsächlich Capoeira auf seiner Brust tätowiert. Solche Brustmuskeln müssen wirklich hervorragende Werbeträger sein.

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Zurück an ihrem rechtmäßigen Sommerort, hatten die weniger rüstigen unter uns genauso viel Spaß wie der Rest. Man hörte keine Wort, aber ihre silbernen Schnurrbärte bewegten sich und ich nehme an, dass alle Fehler der Welt wieder ausgebügelt waren.

Ob als Pfandpirat, der seine größte Ernte dieses Jahr einfährt oder als plündernder, mexikanischer Koch, konnte quasi jeder mit einem Bollerwagen ein Tag lang ein zweitklassiger Geschäftsmann werden. So sehr ich diesen Versuch eines Sombreros, die Oberlippenparty und die Betonung des Worts Chili auf dem Schild, zu schätzen weiß, machte dieser Metallkanister doch den Eindruck, als würde dort drinnen etwas lauern, das jedem der hineinschaut eine ganze Menge Schmerzen bereitet.

Dieses Foto ist der Grund, wieso ich Kreuzberg liebe. Es mag zwar der teuerste Stadtteil geworden sein, aber ohne solche Helden wäre es noch zehn Mal schlimmer. Mit dieser einfachen Hund-als-Baby-verkleiden Aktion haben sie wahrscheinlich mehr Investoren vertrieben, als die Antifa je zu träumen wagen würde. Seiner eigenen Genialität natürlich voll bewusst, schaffte es der Vater hervorragend die ganze Zeit ein ernste Mine aufzusetzen, während er heimlich die Bestürzung feierte, die sein kleiner Bello hervorrief.

Vor der Core-Tex Bühne hatte die Stunde des Moshpits noch nicht ganz geschlagen. Aber nachdem die Teufelshörner und Kiss Zungen anfingen aufzutauchen, war klar, dass es nicht mehr lange dauern konnte.

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Allein die Dichte der Menschen bedeutete, dass Handys bald schon ziemlich überflüssig waren. Ohne Signal konntest du schnell in einem Meer aus Körpern und Plastikbechern verloren gehen; jeder spielte das Soll-ich-bleiben-und-warten oder Gehen-und-Suchen-Spiel. Bis dieser Typ hier mit seinem grotesken „Land Ahoi!“ für ein wenig komische Erleichterung sorgte, immer und immer und immer wieder.

Und dann war da dieses herausragende, kleine Stillleben! Nicht nur, dass es auf einen Schlag die neue Jahreszeit des Freiluftbieren und Eiscremewaffeln einläutete, aber es schien auch mehr Fragen aufzuwerfen, als es beantwortete. Hatte dieselbe Person sowohl das Sterni getrunken, als auch das Stracciatella gegessen? Oder war es einfach das beste Gegensätze-ziehen-sich-an Paar? Oder vielleicht, um der Vernunft willen, funktionierten die Handys wieder …?

Demonstranten und Polizei versammelten sich jetzt um den Lausitzer Platz herum, um den großen Marsch zu veranstalten. Die Typen auf der Mauer führten einen stilleren Protest durch; über der Polizei, genau außerhalb ihrer Reichweite, schauten sie, wer den größten Joint bauen kann.

Die Stimmung auf der Demo war eindeutig angespannt. Es war eine beindruckende Ansammlung Linker, von Red-Bull angetriebener Ex-DDRler und Freizeit Antifas, zu Studenten und quasi jedem dazwischen.

Es war beruhigend zu sehen, wie viele Unzufriedene in unseren apathischen Zeiten, ihren Unmut über das System kund taten. Ich ging jeden sozialistischen Schritt mit ihnen den Weg entlang, aber die ganze Geschichte war ziemlich grimmig, deshalb verließen wir die Demo, um noch ein paar gute Moment zu finden, bevor die Sonne unterging.

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In vergangenen Zeiten läutete der erste Mai auch die Zeit der Open-Airs generell und vor Allem der Bar 25 ein. Und auch wenn Party Karl Marx sagte, dass sich die Clubs immer wiederholen, zuerst als Tragödie und danach als Farce; die Wiedereröffnung des Geländes als Holzmarkt war immer noch etwas, das wir uns anschauen mussten. Das Konfetti war so allgegenwärtig wie immer und es gab eine echt abgefahrene neue Ebene von Dancemoves. Mein süßes, traditionelles Grinsen und die halbherzige Diskofaust waren keine Gegner für diese beiden Funkmaster. Da ich das Gefühl hatte, absolut unverdient auf der Plattform zu stehen, war es Zeit für mich nach Hause zu gehen.

Wenn du etwas echt geheimes machst, sagen wir mal Drogen auf der Straße zu ziehen, gibt es zwei Denkrichtungen. Das Alte Testament der Koksnasen besagt, dass du so unauffällig wie möglich seien musst und dadurch unbemerkt bleibst. Die reviosionistische Schule hingegen besagt, dass du einfach dreist und frech wie möglich sein musst, weil dich niemand bemerken wird, wenn du einfach so tust als hättest du keine Probleme damit. Eine beleuchtete Telefonzelle zu benutzen um sich die Nase zu pudern, zeigt, dass diese beiden Avantgardisten offensichtlich letzterer angehören.

Dieser einsame Polizeimann warf neben der Wackelente und dem Federpferd einen langen Schatten, als er Wache hielt, während die Feierwütigen in ihre Betten zurückkehrten. Ihr Kater wird sich zwar genau gleich anfühlen, aber es war trotzdem ein Tag, an dem man aus seiner Routine ausbrechen und Blicke in andere Szenen werfen konnte. Es war ein ereignisreicher und aufstandsloser Tag; ein wunderbar chaotischer Schaukasten für Berlin und seine verschiedenen, technicolorfarbenen Stämme.

Fotos von Grey Hutton