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Musik

Echte Gefühle und schlechte Sitten mit Scraps of Tape

Scraps of Tape sind nicht vom Blog-Hype nach oben gepeitscht worden, sondern haben es ihrem Bekehrungstalent zu verdanken, dass ihre Konzerte sich in ekstatische Messen verwandeln.

Manche Bands begreifst du erst, wenn du sie live siehst. Diese Bands trifft ein hartes Los, denn wer geht denn heutzutage noch einfach so auf Konzerte, selbstbestimmt, ohne von irgendeinem Blog-Hype in den Club gepeitscht zu werden? Mit Scraps Of Tape aus Schweden muss man trotzdem kein Mitleid haben, denn ihr Bekehrungstalent, mit dem die fünf Jungs ein Postrock-Konzert plötzlich in eine ekstatische Messe verwandeln, scheint sich auch ohne große Hypeblase herumzusprechen. Abseits der Bühne sind sie zu allem Überfluss auch noch so entspannt und herzensgut, dass du mit ihnen lieber einen Abend mit Kicker, Pizza und Bier verbringen würdest als sie zu interviewen. Was soll’s, wir haben das trotzdem durchgezogen: Ein Interview mit Johan Gustavsson und Kenneth Jansson (und Marcus Nielsson aus dem Off).

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VICE: Am 7. August habt ihr auf eurer Facebook-Seite gepostet: „Wir entschuldigen uns dafür, dass Marcus gerülpst hat.“
Kenneth Jansson: Hahaha. Da haben wir auf einem kleinen Festival in Schweden gespielt.
Johan Gustavsson: Haha. Marcus hat einen so gewaltigen Rülpser losgelassen.
Marcus Nielsson: (aus dem Off) Irgendjemand hielt eine sehr emotionale Rede. Ich hatte viel Bier getrunken und war auf der Bühne herum gesprungen, da musste ich eben extrem laut rülpsen.

Ins Mikro?
MN: (aus dem Off) Nein, aber trotzdem hat es jeder im Publikum gehört. Es war unglaublich laut … glaub mir, ich hab sehr viel Power.

In euren Songs gibt es nicht viel Gesang. Rülpst ihr lieber als zu singen?
KJ: Markus ist der Rülpser unter uns.
JP: Bezüglich der Vocals sind wir ein bisschen gehemmt. Während unserer Anfangszeit waren wir von Gesang genervt, weil wir fanden, dass zu viel Wert darauf gelegt wird. Als wir also beschlossen, Post-Rock zu machen, hatten wir uns bewusst das Ziel gesetzt, nicht zu singen.

Legt ihr deswegen jetzt besonderen Wert auf die Texte?
JP: Unser neues Album ist häufig im Up-Beat gehalten. Deswegen wollte ich düstere, zynische Texte. Sie sollten das genaue Gegenteil zur Musik darstellen, denn die ist ziemlich fröhlich und voller Energie. Eine Textpassage bei uns lautet: „The sickness of the world is called people.“

Und ist das wirklich eure Meinung von der Welt?
JP: Nein. Ich finde aber, dass Lyrics nicht autobiografisch sein müssen. Ich habe ein bisschen Angst, dass die Leute glauben, wir wären wirklich so zynisch. Doch diese fröhliche Melodie zu den schweren Texten erzeugt eine interessante Spannung. Worte sind wunderbar. Mit nur drei Wörtern kann man „Ich liebe dich“ sagen. Andererseits kann man damit auch das komplette Gegenteil sagen: „Ich hasse dich.“
Findet ihr denn, dass man Wörter braucht, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen?
KJ: Nein. Aber natürlich können sie Gefühle sehr gut erklären.
JP: Musik ist viel ausdrucksstärker. Zwei Menschen können zwei komplett unterschiedliche Emotionen aus dem gleichen Musikstück ziehen. Musik lässt also viel mehr Spielraum für Interpretation—das ist etwas, das Wörter häufig nicht können.

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Ihr habt ja gesagt, dass eure Musik fröhlich klingt, aber düstere Texte hat. Welche Gefühle soll sie bei den Menschen auslösen?
KJ: Wir hoffen, dass die Leute durch unsere Musik Kreativität spüren. Sie sollen fühlen, was wir tun und dann fühlen, dass sie ebenfalls so etwas Interessantes erschaffen können.
JP: Kreativität ist uns am Wichtigsten. Es ist egal, ob unsere Songs Texte haben oder nicht. Wenn sie welche haben, sind die nicht wichtiger als jedes einzelne unserer Instrumente. Es ist nur ein anderer Weg, eine bestimmte Stimmung zu erzeugen.
KJ: Wir machen gerne Neues und entwickeln neue Gedanken—nicht nur in der Band. Auf dem neuen Album findet man eine Menge Kooperationen. Wir haben mit 12 verschiedenen Künstlern—Malern und Fotografen—zusammen gearbeitet und außerdem mit Gastsängern. Es gab eine Ausstellung mit den Bildern, die wir auch als Coverart unseres Albums genutzt haben. An diesem Tag haben wir außerdem noch ein paar Songs gespielt und ein Video gedreht. Unser Album erscheint als Buch, für jeden Song und jedes Artwork gibt es eine Doppelseite.

Gerüchteweise wart ihr für die Aufnahmen nur vier Tage im Studio. Fünf Tage gebucht, zwei Tage gebraucht, zwei Tage für andere Aufnahmen genutzt und den letzten Tag frei genommen. Stimmt das?
JP: Wir haben im Studio eine Party veranstaltet und dort übernachtet. Wir hatten ein paar Drinks intus und spielten noch ein bisschen zusammen. Plötzlich hatten wir zwei neue Songs.

Seid ihr also am kreativsten, wenn ihr betrunken seid?
JP: Das Ding ist: Wir sind seit fast 11 Jahre in einer Band. Es ist verrückt. Wir spielen schon so lange zusammen und kennen uns so gut, dass wir scheinbar gerade an einem kreativen Höhepunkt angelangt sind. Wir arbeiten fast unterbewusst miteinander und so geht alles ganz schnell. Die Musik schreibt sich fast von alleine.
KJ: Für das neue Album haben wir uns nur an sechs Wochenenden getroffen. Das ist ziemlich schnell, ging aber auch nicht anders. Wir leben alle in unterschiedlichen Städten …
JP: … und haben Familie und Jobs. Außerdem hat jeder von uns noch andere Dinge am laufen.

Ihr beschäftigt euch alle noch mit anderen kreativen Sachen wie Malerei oder Fotografie. Reicht es heute denn nicht mehr aus, nur in einer Kunst gut zu sein?
JP: Interessante Frage, so habe ich noch nie darüber gedacht.
KP: Wenn du dich mit etwas Kreativem beschäftigst, bist du vielleicht auch daran interessiert, dich selbst weiterzuentwickeln.
JP: Es ist in dieser Zeit des Internets auch so einfach, an Informationen und Wissen zu kommen. Nur drei Klicks und du findest alle Informationen, beispielsweise über die neueste Kunstform.

Findet ihr das nicht ermüdend? So viele Informationen und keiner weiß mehr, worauf er sich konzentrieren soll.
JP: Das ist definitiv ein Drahtseilakt … aber ein typisches Symbol unserer Zeit. Alles geht so schnell. Das ist sicherlich auch ein Grund für die mehreren, parallelen Projekte. Man darf sich davon aber nicht unter Druck setzen lassen, sondern muss es als Inspiration ansehen.
KP: Die Band bringt uns kein Geld, sie ist nicht unser Leben. Wenn wir nicht wollen, müssen wir nicht touren oder ein neues Album aufnehmen und davon tausende Exemplare verkaufen. Wir können tun und lassen, was wir wollen—und genau das tun wir auch.
JP: Wir haben alle ja noch andere Jobs: Ein paar von uns studieren, ich bin Buchbinder, Kenneth ist Lehrer.
KP: Es ist echt witzig. Ich unterrichte Geschichte, Geografie und Sozialwissenschaften am Gymnasium. Meine Schüler aber denken, ich wäre ein Rockstar. Die schreiben mir mehr zu, als ich bin.

Foto: Grey Hutton