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Massenselbstmord per Lautsprecherbefehl: Die Geschichte des Jonestown-Massakers

Mit Hilfe eines omnipräsenten Lautsprechersystems indoktrinierte Father Jones seine rund 1.000 Anhänger rund um die Uhr mitten im Regenwald Guyanas. Fast alle folgten auch seinem letzten Aufruf zum „revolutionären Selbstmord“.
Das Willkommensschild am Eingang zum „Peoples Temple Agriculturural Project". Foto: Jonestown Institute

Das Willkommensschild am Eingang zum „Peoples Temple Agriculturural Project". Foto: Jonestown Institute

„Es schmeckt nur ein bisschen bitter", erklärte Jim Jones seinen Anhängern am Nachmittag des 18. November 1978. Der vollkommen abgemagerte Mann, der im zarten Alter von 25 Jahren seine eigene Religionsgemeinschaft gegründet hatte, war kurz davor, seinen Peoples Temple für immer auszulöschen.

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Unter dem Pavillon der nach ihm benannten Siedlung Jonestown hatten seine Helfer eine Badewanne voll Zyanid vorbereitet. Sie mischten es mit dem US-amerikanischen Softdrink-Klassiker Flavor Aid, ergänzten die tödliche Mischung um verschiedene Sedative und Valium. Über 900 Menschen tranken den giftigen Cocktail, Eltern spritzten ihren Kindern und Säuglingen den Todesdrink per Spritze in den Mund.

Noch am Morgen waren elf Personen aus der von bewaffneten Männern bewachten Siedlung im Regenwald Guyanas geflüchtet. Jones hatte das 15.4 km² große Areal bereits 1974 von der guyanischen Regierung gepachtet, 500 Anhänger des Peoples Temple begannen fortan unter Abwesenheit ihres Meisters mit der Konstruktion einer Agrarkommune.

Schulunterricht für die Kinder von Jonestown, 1978. Foto: Doxsee Phares/ Peoples Temple Jonestown Gallery

In einfachen Hütten lebten hier mitten im guyanischen Dschungel zu Hochzeiten über 1.000 US-Amerikaner—„für den Sozialismus und vollkommene ökonomische, ethnische und soziale Gleichheit", wie es Jones Ehefrau Marceline gerne verklärend ausdrückte. Im konservativen US-Bundesstaat Indiana der 1950er Jahre hatte ihr Mann vor allem die vermeintlichen Verlierer einer kapitalistischen Gesellschaft um sich geschart: Arbeitslose, Arme, Kommunisten, Drogenabhängige, Diskriminierte und Ausgebeutete.

Mit dem Versprechen auf ein glücklicheres Leben konnte Jones zunächst Hunderte seiner Anhänger motivieren, nach Kalifornien überzusiedeln. Zu diesem Zeitpunkt ging er bereits von einer nahenden Apokalypse aus, aus der ein sozialistischer Garten Eden hervorgehen würde. Die zunehmend kritische Medienberichterstattung über Prügelstrafen, Vergewaltigungen und Erpressung innerhalb des Peoples Temple gipfelte 1977 dann in einem Artikel des New West, in dem ehemalige Mitglieder der Sekte glaubhaft von körperlicher, emotionaler und sexueller Misshandlung durch Jones berichteten.

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Dieser hatte bereits im Vorhinein von der Veröffentlichung des Textes erfahren und sich samt seiner Jünger nach Guyana abgesetzt. Der selbsternannte Messias war in seinem kommunistischen Paradies angekommen—und niemand durfte es wieder verlassen.

Seine Herrschaft in der Dschungel-Siedlung übte Jones dabei auch dank eines extra aufgestellten technischen Systems aus: Über eine omnipräsente Lautsprecheranlage, die sich über die komplette Siedlung erstreckte, hielt Jones Tag und Nacht Ansprachen an seine Untertanen. Falls er gerade nicht vor dem Mikrofon sitzen konnte, spielte er Kassetten mit aufgenommenen Predigten von sich ab. Überall auf dem Territorium war so nahe zu rund um die Uhr die sonore Stimmte des Sektenführers zu vernehmen, mit der er den Bewohnern seine ganz eigene Sicht auf die Dinge der Welt eintrichterte. Da es außer dem Lautsprechersystem keine anderen Medien in Jonestown gab, war diese Art Dorffunk die einzige Informationsquelle für die Mitglieder des Peoples Temple.

In der Abgeschiedenheit des Urwalds kommentierte Jones am liebsten internationale Nachrichten: Während er die USA stets als Kapitalisten und Imperialisten beschimpfte, lobte er Nordkoreas Kim Il-sung und Simbabwes Diktator Mugabe in höchsten Tönen. Auch die Sicherheit von Jonestown war immer wieder Thema in Jones' Ansprachen: So trichterte er seinen Anhängern ein, dass die CIA das Camp stürmen wolle, um den Bewohnern Schaden zuzufügen. Dies wiederum führte er als Begründung für die immer hermetischere Abriegelung und die bewaffneten Wächter in Jonestown an.

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Hier, wo Jones seine Pseudo-Verwirklichung des Kommunismus lebte, wurden „aufsässige Mitglieder in Käfige gesperrt, mit Elektroschocks traktiert und bis zur Bewusstlosigkeit verprügelt". Dass der Guru dabei tatsächlich unter Verfolgungswahn und Paranoia litt, legen die Eindrücke eines Journalisten nahe, der Jonestown am 17. November 1978 besuchen konnte: „Es war schockierend seine glasigen Augen und ausufernde Paranoia von Angesicht zu Angesicht zu sehen", erklärte Tim Reiterman, der Jones' bereits aus früheren Interviews und noch vor dessen in Jonestown zunehmenden körperlichen Verfall kannte.

Schließlich begann sich der damalige demokratische Kongressabgeordnete Leo Ryan aus Kalifornien für Jonestown zu interessieren: Ein Mann aus Ryans Wahlkreis, ehemaliges Mitglied der Sekte, hatte sich vor einen Zug geworden. Außerdem war der Politiker mit dem Vater des früheren Peoples Temple-Anhänger Bob Houston befreundet. Dessen verstümmelter Leichnam war nach einem Fluchtversuch Houstons aus Jonestown 1976 an einer Eisenbahnstrecke im Dschungel gefunden worden. Ryan versuchte vergeblich, mehrere Politiker davon zu überzeugen, ihn auf eine Reise zu der Sekte zu begleiten, um sich von den Zuständen vor Ort ein Bild zu machen.

Mitglieder des Peoples Temple bei der Konstruktion der Holzhütten, 1977. Foto: FBI/Peoples Temple Jonestown Gallery

Er erreichte Jonestown am 17. November 1978. Nachdem Ryan jegliche juristische Einschüchterungsversuche durch Jones ignoriert hatte, bereitete dieser ihm und seiner Begleitung einen scheinbar herzlichen Empfang mit Abendessen und musikalischen Darbietungen. Wie später durch Audio-Aufnahmen bestätigt werden konnte, hatte Jones die Willkommensprozedur für Ryan mehrmals proben lassen.

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Von der achtzehnköpfigen Delegation, darunter mehrere Journalisten und einige Angehörige von Sektenmitgliedern (die sogenannten „Concerned Relatives"), durften allerdings nur Ryan und drei weitere Personen in Jonestown übernachten. Bereits kurz nach seiner Ankunft wurden dem Politiker Hilferufe in Form von handgeschriebenen Zetteln zugesteckt. Als Ryan am nächsten Morgen gegenüber Jones erklärte, zwei Familien würden das Camp gemeinsam mit ihm Richtung USA verlassen, erklärte sich dieser überraschenderweise einverstanden.

Die Ausreisegruppe, der sich in letzter Minute auch das Sektenmitglied Larry Layton angeschlossen hatte, machte sich auf den Weg zu einer sechs Kilometer von Jonestown entfernten Star- und Landebahn für Flugzeuge, mitten im Dschungel. Nachdem alle Passagiere die zwei mit Hilfe der US-Botschaft in Guyanas Hauptstadt Georgetown organisierten Flugzeuge betreten hatten, zückte Layton eine Waffe und begann auf die anderen zu schießen. Zeitgleich erreichte ein Traktor mit Wächtern aus Jonestown, genannt die „Rote Brigade", die Landebahn und eröffnete das Feuer. Während einem Flugzeug die Flucht gelang, wurden mehrere Personen, darunter auch Leo Ryan, ermordet.

Die letzte Ansprache von Jones an seine Anhänger wurde auf Band aufgenommen und später vom FBI veröffentlicht. Sie ist als „death tape" bekannt geworden:

In diesen Minuten hatte Jim Jones seine Anhänger bereits ein letztes Mal über das Lautsprechersystem zum Pavillon gerufen. Er erklärte ihnen, dass Leo Ryan

tot sei und die Vernichtung von Jonestown durch die CIA nun unabwendbar. Da eine Flucht in die Sowjetunion, über die Jones in der Vergangenheit mit russischen Diplomaten gesprochen hatte, aus logistischen Gründen nicht mehr zu machen war, gab es für ihn nur einen Ausweg: den „revolutionären Selbstmord". Er hatte diesen mit den Bewohnern von Jonestown in der Vergangenheit mehrmals geprobt. „Wenn man uns nicht in Frieden leben lässt, so wollen wir jedenfalls in Frieden sterben. Der Tod ist nur der Übergang auf eine andere Ebene", versuchte Jones inmitten weinender Kinder seine Anhänger zu beruhigen. Und während die ersten Menschen mit Schaum vorm Mund zu Boden sanken, gab ihnen Father Jones einen letzten Befehl: „Sterbt mit etwas Würde."

Als am nächsten Morgen guyanische Soldaten eintreffen, zählen sie 400 Leichen. Erst Angehörige der US Army entdecken, dass sich unter den Leichen noch weitere Tote verbergen. 909 Menschen waren Jim Jones in den Tod gefolgt. Der Father selbst trank nicht aus der Badewanne. Jones wurde mit einem Kopfschuss durch die linke Schläfe inmitten der toten Körper gefunden. Ob er ihn selbst abgefeuert hat, konnte bis heute nicht geklärt werden.