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The Syria Issue

Wenn Unterdrückung erfinderisch macht

Fünf kreative Methoden des gewaltlosen Widerstandes aus Syrien

Damaskus. Es war 1 Uhr nachts, als Ahmad Z. statt zu schlafen ungeduldig in seiner Zelle auf und ab lief. Immer wieder hielt er inne, stellte sich
so nah wie möglich an das kleine, vergitterte Fenster, legte ein Ohr an die kalte Mauer und lauschte. Die Hoffnung, doch etwas zu hören, hielt ihn auf den Beinen. Ein Lied über die Heimat, ein vorgelesenes Manifest der Widerstandsbewegung oder zumindest den Adhan, der, vermischt mit der Stimme des Predigers der Kirche in Assaa, nichts Geringeres als ein Statement war. Schließlich wusste er, dass seine Freunde auch ein paar Megaphone in der Nähe des Gefängnisses aufgestellt hatten.
Doch Ahmad wartete vergebens. Zu dick waren die Wände der Haftanstalt, zu laut seine Gedanken. Irgendwann frühmorgens, Stunden nach der vereinbarten Zeit, schlief Ahmad schließlich auf den spärlich gepolsterten Holzbrettern seiner Zelle ein. Welch ein Unglück, sagte er sich immer wieder in Gedanken, dass er ausgerechnet zwei Tage vor der Aktion bei einer Demonstration festgenommen wurde. Mehrmals fragte er sich, ob seine Kameraden tatsächlich erfolgreich gewesen waren. Vielleicht konnte er sie gar nicht hören, weil das Vorhaben gescheitert war? Vielleicht hatte sie die Polizei beim Aufstellen der Megaphone erwischt? Vielleicht haben sie das Ganze sogar im letzten Moment abgeblasen, weil die Gefahr bei einer solchen Aktion erwischt zu werden viel zu groß gewesen sei?
Nachdem Ahmad einige Tage später aus dem Gefängnis entlassen wurde, waren alle diese Gedanken mit einem Schlag aus der Welt geräumt. Seine Freunde hatten ihren Plan nicht nur durchgezogen, sie waren auch sehr erfolgreich damit. Dementsprechend begeistert war die Bevölkerung in den betroffenen Vierteln und Bezirken. Ganz im Gegensatz zur Polizei und Al-Assads Schergen. Sie hatten massive Probleme damit, die von Ahmad und seinen Freunden in langer Planung in ganz Damaskus verteilten und an den unmöglichsten Orten versteckten 80 Megaphone zu finden.
Die Megaphone, die an batteriebetriebene Billig-MP3- Player gekoppelt waren, gaben in einer Endlosschleife das Widerstandslied „Mawtini“ (zu dt.: Meine Heimat), eine Deklaration des gewaltlosen Widerstandes, sowie die Stimmen des Adhan der Omajadan-Moschee, vermischt mit den Gebeten der Kirche in Assaa, wieder. Und sie starteten alle zur gleichen Zeit, denn die Aktivisten hatten alle Einheiten mit einem Zeitzünder versehen. Assads Sicherheitskräfte wussten mit den Raketen und Granaten der Freien Syrischen Armee viel leichter umzugehen, als mit den 80 Megaphonen der gewaltlosen Aktivisten. Der kreative und gewaltlose Widerstand des 21. Jahrhunderts hat sie mit voller Wucht getroffen—was in Assads Sicherheitsapparat blieb, war Angst. Die Angst vor einer Kraft, auf die man keine Antwort weiß.
In Syrien gab es schon vor dem bewaffneten Konflikt eine lebhafte, enorm einfallsreiche und vor allem gewaltlose Widerstandsbewegung. Und es gibt sie heute noch, auch wenn sie leiser geworden ist. Denn es ist nicht leichter geworden, in einem von Gewalt und Blutvergießen geprägten Konflikt auf die Mittel der Gewaltlosigkeit zu setzen.
Mein Bruder Arash, unser Filmteam und ich haben Ahmad Z., einen herzlichen und überaus freundlichen Aktivisten, bei den Dreharbeiten zu unserem Cross-Media-Projekt und Kinodokumentarfilm Everyday Rebellion getroffen, der eine Hommage an den globalen, kreativen und gewaltlosen Widerstand des noch jungen Jahrhunderts darstellt. Ahmad ist jetzt Flüchtling und wartet in der jordanischen Hauptstadt Amman auf sein französisches Visum. Nach seiner zweiten Festnahme hat er von Bekannten erfahren, dass die syrischen Sicherheitskräfte planen, ihn und andere Aktivisten „zur Rechenschaft zu ziehen“. Nachdem bereits andere Mitstreiter spurlos verschwunden waren, hatte sich Ahmad entschlossen, endgültig das Land zu verlassen.
Ahmad steht mit seinen Aktivistenfreunden in regem Austausch, über Facebook und ständig wechselnde Telefonnummern hält er sich am Laufenden. Wir kamen mit ihm über eine in Wien lebende Gruppe von Exil-Syrern in Kontakt, die vom Ausland Unterstützung für syrische Flüchtlinge im Libanon, in der Türkei oder eben in Jordanien leisten. Gemeinsam verbrachten wir einige Tage in Jordanien, besuchten die desolaten jordanischen Flüchtlingslager an der syrischen Grenze und ließen uns inspirieren von den Methoden und Geschichten, aus denen Ahmad und eine ganze Generation von jungen Syrern Hoffnung für die Zukunft schöpfen. Und wir mittlerweile auch.

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1. DER MEGAPHON-STREICH

Megaphone als Verstärkung der eigenen Stimme, als technologischer Wurmfortsatz der Unmutsverkündung haben seit jeher einen fixen Platz im Instrumentarium des Protestes. Doch was tun, wenn das Protestieren, das Demonstrieren, das Versammeln von der eigenen Regierung, oder besser gesagt dem Regime, verboten wird?
Um das Megaphon nicht auf dem Regal verstauben und dessen eindrucksvolle Macht ungenutzt zu lassen, entwickelten Ahmad und andere syrische Aktivisten einen originellen Plan. Sie besorgten gleich 80 Megaphone, koppelten sie über ein ultra-reduziertes Mini-Verstärkersystem an billige Flash-Memory-MP3-Player, die drei Knöpfe hatten: Play, Pause und Repeat. Dazu ein Zeitzünder, ein bisschen Elektrotechnik, und schon hat man die selbstständige Megaphon-Einheit, die keinen Menschen mehr braucht. Länger als das Zusammenbasteln dieses modernen Widerstandshybrides hat es gedauert, sich über den auszustrahlenden Inhalt einig zu werden. Welche Worte, welche Lieder, welche Nachrichten transportieren die Message der syrischen Aktivisten am besten? Also entschloss sich die Gruppe um Ahmad, eine kurze Rede aufzunehmen, die die Botschaft der Revolution auf den Punkt bringt.
Nach dieser Ansage wurde das palästinensische Gedicht „Meine Heimat“ von Ibrahim Touquan, das im gesamten arabischen Raum als populäres Widerstandslied gegen Besetzung und Unterdrückung verbreitet ist, gespielt. Schließlich folgten noch der Adhan einer wichtigen Moschee sowie ein christlicher Prediger, um die Einigkeit der zwei großen Glaubensrichtungen Syriens zu betonen. Die Megaphone wurden in der Stadt großflächig verteilt, damit so viele Damaszener wie möglich erreicht werden konnten. Während Ahmad in seiner Zelle vergeblich lauschte, erlebten seine Freunde beim Aufstellen der Megaphone skurrile Situationen.
Ein Straßenkehrer schöpfte Verdacht und kehrte minutenlang den gleichen Quadratmeter, während er eine Gruppe von Aktivisten beobachtete, die ein Megaphon im Mistkübel verstecken wollten. Beim Aufstellen einer Megaphon-Einheit auf dem Dach eines großen Wohnhauses verbrachten Aktivisten sechs Stunden damit, das Schloss zum Dachzugang aufzusägen. Einige Zeitzünder gingen voreilig los und ließen manche Mitglieder des Widerstandes beinahe auffliegen. Als es schließlich so weit war, konnte man die syrische Polizei vielerorts dabei betrachten, wie sie panisch nach den Einheiten suchte. Sogar in den Mülleimern. Auch wenn am Ende alle Megaphone gefunden wurden, die Message kam bei den Damaszenern an. Sogar bei denen, die durch das digitale Widerstandstonband aus dem Schlaf gerissen wurden.

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2. DER ANGRIFF DER (PINGPONG-)BÄLLE

Der gewaltfreie Protest bekommt generell viel weniger Aufmerksamkeit von den Medien als der gewalttätige. Einerseits logisch, da bei Letzterem Dinge kaputtgehen, Menschen sterben und Waffen für Lärm und Aufmerksamkeit sorgen. Das Spektakel ist deutlicher sichtbar, die letzte Ebene der Konfrontation ist erreicht und es geht um Leben oder Tod. Meist wird der gewalttätige Widerstand bewusst von Regimes und Medien ins Rampenlicht gerückt, um Nachahmer abzuschrecken, aber auch die Bevölkerung gegen die Protestbewegung zu mobilisieren. Schließlich warten die Regimes nur darauf, sich mit den Widerständlern auf bewaffnete Art und Weise zu bekämpfen, weil der Krieg ihr Terrain und der Staatsapparat dafür bestens gerüstet ist.
Doch manchmal ist der gewaltlose Widerstand so überraschend, so spektakulär und kreativ, dass sogar die Massenmedien sich erbarmen, darüber zu berichten. Wie geschehen im Fall der berüchtigten Pingpong-Ball-Aktion, die rasch auch Nachahmer fand. Ahmad Z. war in diesem Fall für das Auftreiben einer großen Zahl von Tischtennisbällen verantwortlich. Tischtennisbälle deshalb, weil sie nur schwer zu erwischen sind, wie jeder weiß, der schon einmal meterweit dem kleinen Plastikball nachgelaufen ist. Nach der Übergabe der Bälle wurden mehrere Tausend davon mit Slogans gegen Assads Regime und für dessen Sturz bemalt. Auch die syrische Flagge verwandelte so manchen Tischtennisball vom banalen Sportgerät in eine subversive Anti-Regime-Waffe ganz im Sinne Monty Pythons. Als die Aktivisten das Potential der Aktion erkannten, erweiterten sie das Konzept auf verschiedenfarbige Gummibälle unterschiedlicher Größe, die ähnliche Sprungeigenschaften haben wie ihre kleinen Brüder aus der Sportabteilung.
Als es schließlich so weit war, nutzten die syrischen Aktivisten die höhergelegene Al-Mhajreen-Straße und ließen die Bälle von dort aus auf die Stadt los. Den Anblick werde er niemals vergessen, meint Ahmad lächelnd. Die Bälle zogen Kinder an, die nach erster Überraschung auch die Slogans auf ihnen entdeckten. Emsig sammelten Passanten die Bälle und präsentierten sie wie Trophäen. Autofahrer blieben verwirrt stehen, und der Verkehr wurde zumindest kurzzeitig gestört. Doch erst beim Anblick der Polizisten, die den bekritzelten Bällen hinterherliefen und hektisch versuchten, sie einzusammeln, wurde dem Betrachter das Ausmaß dieser kleinen Aktion klar. Sie steht symbolisch für die Kraft des gewaltlosen Widerstandes.

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3. DER GEWALTLOSE MÄRTYRER VERWENDET THEATERBLUT

Obwohl Märtyrer für gewöhnlich aufgrund ihres Glaubens leiden oder sogar umkommen, ist der Begriff mittlerweile im politischen Kontext des 21. Jahrhunderts angekommen. Regimes verwenden ihn für ihre gefallenen Soldaten, Oppositionsgruppen für ihre ermordeten Widerständler. Doch wenn man Leid, Gewalt und Tod aus der Gleichung weglässt, bleiben interessante Möglichkeiten, den Begriff zu erweitern. So geschah es, dass die syrische Polizei eines Tages blutgefärbte Brunnen in ganz Damaskus vorfand. Symbolisch für das Blutvergießen des Regimes wurde das Wasser etlicher Brunnen an touristisch wichtigen Knotenpunkten der Stadt von den Aktivisten rot gefärbt. Was auf den ersten Blick vielleicht abschreckend wirkte, kam bei der Bevölkerung sehr gut an. Stolz solidarisierten sich die Zivilisten mit den Aktivisten und dadurch stellvertretend mit der Jugend des Landes, die in ihren Augen trotz Mord und Totschlag immer noch solch starke und kreative Ausdrucksmöglichkeiten gegen das Vorgehen des Regimes fand.
Dazu genügten simple Färbemittel aus dem Baumarkt, die in der Regel keine Stunde brauchen, um einen ordinären, mittelgroßen Brunnen umzufärben. Ahmad Z. und die syrischen Freunde rechneten sich dazu aus, dass sie für jeden Brunnen 15 bis 20 Gramm brauchen würden. In Papiertaschentücher verpackt sind sie schnell und unauffällig ins Wasser geworfen und sorgen rasch für den gewünschten Effekt. Wieder eine Nacht-und-Nebel-Aktion, wieder war die trügerische, brutale „Normalität“ des Regimes durch ein kleines Detail konterkariert. Wieder blieb Assads Leuten nichts anderes übrig als hinterherzulaufen. Sämtliche Brunnen wurden außer Betrieb genommen, in wochenlanger Arbeit abgepumpt und neu gefüllt.

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4. LUFTBALLONFLUGBLÄTTER

Jeder, der sich länger mit den Strategien der Nonviolence auseinandersetzt, wird irgendwann seine Lieblings-Protestmethode finden. Nun gut, vielleicht nicht die eine, ultimative, sondern mehrere, die sich ins Gehirn einbrennen, obwohl man sie nur aus Erzählungen und wackeligen Handy-Videos kennt und sich wünscht, man wäre dabei gewesen. Eine dieser Aktionen ist jene der syrischen Aktivisten, bei der sie heliumgefüllte Luftballons mit Anti-Regime-Flyern präparierten und diese durch eine simple, aber clevere Methode nach einem bestimmten Zeitpunkt zum Platzen brachten und so ihre Nachrichten unters Volk brachten. Ein Zeitpunkt, der durch die Lebensdauer eines Eiswürfels vorbestimmt war.
Die „Luftballone der Freiheit“, wie sie die syrischen Aktivisten nannten, waren—ähnlich den Megaphonen—mobile Einheiten, die, wenn einmal präpariert und auf den Weg geschickt, ihre Arbeit von selbst verrichteten, ohne den Sender in Gefahr zu bringen. Wieder ist die Herstellung und das dazu benötigte Material ziemlich trivial: Luftballons, kleine Haarspangen, eine Büroklammer, Klebstoff, eine Stecknadel, Klebeband, zwei abgebrochene Plastikhaken von Kugelschreibern und natürlich Helium. Wobei Letzteres wohl noch am schwierigsten zu besorgen ist.
Die Hebel der Haarspange werden mit Hilfe der Plastikhaken verlängert, die Büroklammer wird zu einem „S“ umgeformt und dient als Befestigungshilfe am Luftballon. Die Stecknadel wird auf die Haarspange geklebt und leicht gebogen, damit sie im richtigen Winkel auf den Ballon trifft. Schließlich wird die Haarspange im Eiswürfelbehälter eingefroren und vor dem Start mit den Klebestreifen am heliumgefüllten Ballon montiert. Schmilzt der Eiswürfel, klappt die Haarspange zu und die Stecknadel bringt den Luftballon zum Platzen. Die Flugblätter, Schilder, Nachrichten und an das Regime gerichteten ironischen Liebesbriefe landeten meist in den Händen überraschter Zivilisten.
Und nicht nur Zivilisten staunten ob der schönen Protestmethode. Die Ballons waren nicht komplett mit Helium gefüllt, also stiegen sie nicht lange auf und blieben stets in Blickweite der Bevölkerung. Manche waren mit Schildern verziert, manche mit Flugblättern, manche waren auch bunt und regimekritisch
bemalt. Beispielsweise mit den Namen verhafteter, gefolterter oder getöteter Syrer. Oder mit der Fahne der Unabhängigkeit, welche die Revolution symbolisiert. Aktionen, an denen die syrische Regierung verzweifelte. Und das von einer Generation, die wohl noch nichts von MacGyver gehört hat.

5. DIE DIY-GASMASKE

Last but not least erzählte uns Ahmad während eines unserer Gespräche von den DIY-Gasmasken ihrer Bewegung. Da die Sicherheitskräfte den friedlichen Protesten im Laufe der Zeit mit Tränengas und Ähnlichem begegneten, war es für Ahmad und seine Freunde notwendig zu reagieren. Also bastelten sie aus Cola-Plastikflaschen, Aktivkohle zum Absorbieren der chemischen Substanz sowie einem Stoffüberzug und einem Gummiband zum Fixieren funktionierende Gasmasken, die unter den Aktivisten verteilt wurden. In 2 Tagen wurden 50 davon produziert, und obwohl sie zufällig mit einer solchen Ladung von einer Militärkontrolle angehalten wurden, schafften sie es, die Gasmasken an die Männer und Frauen der Protestbewegung zu bringen.
Ahmad Z. lebt heute in Frankreich und beendete vor kurzem einen Hungerstreik gemeinsam mit weiteren Aktivisten, um auf das Blutvergießen Al-Assads aufmerksam zu machen. Nach der Zeit mit ihm und anderen syrischen Aktivisten hat sich unser Blick auf den Konflikt in Syrien verändert. Die Wehmut, mit der uns teils blutjunge Aktivisten wie Ahmad manche dieser Geschichten erzählten, oder gar der Schmerz über das Geschehene, über die Getöteten oder den Status ihrer Heimatlosigkeit, wurde stets entschärft von der kindlichen Begeisterung der politischen Aktivisten für die Momente des Triumphes gewaltloser Methoden über die Brutalität des starken syrischen Regimes. Der ewige Kampf Davids gegen Goliath, und obwohl sich im Fall Syriens die Steinschleuder in eine Haubitze verwandelt hat, lebt die Hoffnung auf einen gewaltlosen Sturz gewalttätiger Regimes, wenn man sich das Beispiel Ahmads und der syrischen Protestbewegung ansieht. Ihre Kreativität und ihr Einfallsreichtum werden weitere Generationen von Aktivisten inspirieren.

Falls ihr mehr über Arman und Arash T. Riahis Multimediaprojekt Everyday Rebellion wissen wollt, solltet ihr diesem Link folgen.