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25 Jahre Mauerfall sind 25 Jahre Freiheit

Du kannst alles machen, aber du kannst auch alles falsch machen. Unbegrenzt viele Möglichkeiten auf verschiedenste Arten zu scheitern.
Foto: Grey Hutton

One morning in June
some twenty years ago
I was born a rich man's son
I had everything that money could buy,
but freedom I had none – David Hasselhoff: Looking for Freedom

Ich bin vor einigen Wochen umgezogen. Von Berlin Kreuzberg nach Mitte, von Westen nach Osten, wo die Altbauten genauso aufwendig saniert sind und der Berliner Herbst genauso grau. Mindestens zwei Mal am Tag passiere ich die ehemalige Grenze und merke es meistens nicht mal. Ich wohne an der Bernauer Straße, auf deren südlicher Seite von 1961 bis 1989 in gesamter Länge die Berliner Mauer verlief. Die Häuser wurden im Zuge des Mauerbaus zwangsgeräumt und die Fenster zugemauert, um die zahlreichen Fluchtversuche in den Westen zu unterbinden. Heute versammeln sich hier die Touristen an der Gedenkstätte Berliner Mauer und laufen zwischen den nackten Stahlstäben Slalom von Ost nach West und wieder zurück. Eine meiner Nachbarinnen wohnt hier seit über 40 Jahren. Früher hat sie über die Mauer hinweg mit sehnsüchtigem Blick die Doppeldeckerbusse im Westen vorbeifahren sehen—oder zumindest deren obere Hälfte. Heute fahren hier die Sightseeing-Busse, die sieht sie ganz, die obere Hälfte und die untere, und trotzdem wirkt sie ein bisschen wehmütig, wenn sie mir von früher erzählt.

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Foto: ​Daniel Antal | ​Flickr | ​CC BY 2.0

Am Sonntagnachmittag ziehen die Menschenmassen über die Bernauer Straße zum nahe gelegenen Flohmarkt im Mauerpark. Übernächtigte Touristen aus aller Welt mit ihren Vintage-Brillen, Karottenhosen und Streifenpullis in Oversize. Früher war hier Todesstreifen, das war auch nicht besser. Lustigerweise sehen die Leute, die heute auf dem Gelände des ehemaligen Todesstreifens herumhängen und überteuerten Trödel kaufen, denen, die wenige Wochen nach dem Mauerfall vor dem Brandenburger Tor David Hasselhoff zujubelten, verdammt ähnlich. Nur, dass die Streifenpullis und Karottenhosen der begeistert „Looking for Freedom" mitsingenden Ostler noch originaler aussahen. Und sie hatten gute Laune. Sie freuten sich auf die Zukunft und blickten voller Zuversicht nach vorne, denn sie waren ihren Fesseln entkommen und hatten endlich das, was sie wollten: Freiheit.

Foto: ​abbilder | ​Flickr | ​CC BY 2.0

Doch die Zeiten haben sich in den letzten 25 Jahren geändert. David Hasselhoff singt inzwischen für ​die Mauer und die Menschen, die sich am Tag ihres Falles überglücklich in den Armen lagen, hatten schnell ganz andere Sorgen. Die neugewonnene Freiheit stellte sie vor neue, nie erwartete Probleme, und während die großen Erwartungen an die große Freiheit bröckelten wie die Überreste der zerschlagenen Mauer, mag sich der eine oder andere gewünscht haben, er hätte nie Revolution gemacht. Das Ende der kommunistischen Diktatur konfrontierte die Menschen mit der Last der eigenen Verantwortung und der Realität des modernen Kapitalismus. Die DDR verschwamm derweil in Retrospektive zu einem nicht ganz perfekten, aber doch liebenswerten Ort, den es so nie gegeben hatte, und die Erinnerung an sie zu einem verklärten Film, so niedlich und harmlos wie Leander Haußmanns Sonnenallee.

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Die Zeiten haben sich geändert. Wer heute zwischen 20 und 30 ist, kann sich an ein geteiltes Deutschland nicht mehr erinnern. Wir kennen nur die Freiheit, den fundamentalen Wert der westlichen Welt, die Freiheit und ihre unbegrenzten Möglichkeiten. Und gerade diese Unbegrenztheit der Möglichkeiten macht uns das Leben so verdammt kompliziert. Freiheit bedeutet: Du kannst alles machen. Aber auch: Du kannst alles falsch machen. Unbegrenzte Möglichkeiten sind unbegrenzt viele Möglichkeiten auf verschiedenste Arten zu scheitern. Freiheit ist nicht einfach und schwerelos. Freiheit ist eine schwere Aufgabe. Freiheit ist ein beschissener Song von Marius Müller Westernhagen.

Freiheit bedeutet Verantwortung. In der DDR konnte man lange Zeit arglos von ihr träumen ohne Angst davor haben zu müssen, dass sie irgendwann Realität werden würde. Wer in Ostberlin geboren wurde, hatte eben Pech gehabt. Und wenn das Leben in die Hose ging, konnte nur einer daran Schuld sein: der Staat. Man hat uns eingemauert, was können wir da tun?

Heute sind wir frei und niemand sagt uns, was wir zu tun haben. Wir sind für uns selbst verantwortlich. Für unser Leben, unser Handeln, unsere Entscheidungen. Wir haben die Entscheidungsfreiheit und fühlen uns unfrei, weil wir gezwungen sind, Entscheidungen zu treffen.

Die freie Wahl zu haben ist ein großer Luxus, aber auch belastend und überfordernd bei all den Möglichkeiten, die wir haben und uns alles jederzeit zur Verfügung steht. Der Mensch ist kein sonderlich entscheidungsfreudiges Wesen. Ich brauche beim Bäcker schon Ewigkeiten, bis ich weiß, welches Brötchen ich will oder welchen Kaffee. Welche Serie ich sehen will, welche Musik hören oder in welchen Club ich gehen will, weil das Angebot so verdammt riesig ist. Immer müssen wir uns entscheiden. Welche Ausbildung? Welches Studium? Welcher Job? Welche Freunde? Welcher Mann? Welche Frau? Welches Leben? Wir versuchen, uns in Abhängigkeiten zu flüchten, in Festanstellungen oder feste Beziehungen (was schon schwer genug ist) und haben gleichzeitig Angst davor, die Freiheit zu verlieren und davor, eine Entscheidung zu treffen, die vielleicht am Ende die falsche war. Wir rennen dem Traum von einem perfekten Leben hinterher, während das Leben der anderen immer noch perfekter erscheint (gemeint ist das echte Leben, nicht der Film mit Ulrich Mühe, wobei der natürlich auch perfekt ist). Wir allein tragen die Verantwortung und es gibt keinen Staat und kein Regime, die wir für unsere Fehler zur Rechenschaft ziehen könnten. Denn wenn wir unsere Chancen verpassen und unser Leben verkacken, ist am Ende nur einer daran Schuld, nämlich wir selbst.

Dazu kommt noch das schlechte Gewissen. Dürfen wir uns über etwas beklagen, was wir zufälliger- und glücklicherweise besitzen, das aber für Millionen von Menschen auf der Welt alles andere als selbstverständlich ist? Schön blöd, sich zu beschweren, wenn man nicht einmal das Recht dazu hat. Denn bis auf dieses Recht haben wir fast alles. Wir haben viel zu viel und sind viel zu undankbar, weil wir uns nicht darüber freuen, dass wir in einem Land leben, in dem wir unser Leben zum allergrößten Teil selbst bestimmen können und in dem die Regierung nichts tut, aber uns wenigstens in Ruhe lässt. Und weil wir unsere Zeit nicht damit verbringen, darüber nachzudenken, welche Probleme wir alle nicht haben. Probleme, die wir nicht nachvollziehen können, weil wir nicht eingesperrt in einem Flüchtlingslager sitzen oder vor dem IS aus unserer Heimat vertrieben wurden oder gerade unsere gesamte Familie an Ebola verloren haben. Stattdessen verbringen wir unsere Zeit damit, uns darüber den Kopf zu zerbrechen, was wir alles tun könnten. Wir könnten glücklich sein.