Die Binz spaltet sich von der Schweiz ab!

FYI.

This story is over 5 years old.

News

Die Binz spaltet sich von der Schweiz ab!

Ein Stadtteil erklärt sich unabhängig.

Der kulturell lebendigen Binz wurde von den Behörden auf Ende Jahr die Räumung angekündigt. Die Bewohner des besetzten Hauses reagierten staatsmännisch; mit einer Unabhängigkeitserklärung!

Es ist gut sechs Jahre her, seitdem die Familie Schoch (so nennen sich die Besetzer der Binz) die Brecheisen in die Hand genommen und das Industrieareal an der Üetlibergstrasse 111 unter ihre Kontrolle gebracht haben. Seither hat sich in den Gebäuden der ehemaligen Color Metal AG ein für Zürich - und wohl auch für die gesamte Schweiz - einzigartiger Mikrokosmos der Selbstbestimmung breit gemacht. Ein Freiraum, der seinen gut 50 Bewohnern im Alter zwischen 0 und 70 Jahren schier grenzenlose Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Ob nackt durch die Küche radeln oder eine 8m hohe Brücke aus Altmetall zwischen zwei Gebäude hin platzieren, in der Binz kann man seiner Leidenschaft nachgehen, ohne sofort auf Widerstand zu stossen.

Anzeige

Tatsächlich bietet die Binz nicht nur ihren eigenen Bewohnern, sondern auch den Leuten aus ihrem Quartier eine Vielzahl an sportlichen und künstlerischen Austobungsmöglichkeiten: So lockt die Skateanlage täglich Dutzende lokale Skater an und der Boxclub Binz hat aus vielen Strassenschlägern mit Alkoholproblemen schon durchtrainierte Sportler gemacht, die nun auf ihre Ernährung achten. In der Velowerkstatt, der Schreinerei und der Schlosserei haben einige Bewohner sogar ihr Handwerk erlernt, welches sie später auch als Beruf ausüben konnten.

Aus bürgerlicher Perspektive hat die Binz allerdings einen Haken: Sie ist illegal! Der Eigentümer des Areals ist der Kanton Zürich und dessen Baudirektion will dem kreativen Chaos noch dieses Jahr ein jähes Ende setzen. So führte das Immobilienamt im Namen der Baudirektion bereits letztes Jahr einen Investorenwettbewerb um eine neue Überbauung auf dem Binz Areal durch. Anscheinend ist es den Behörden langsam ein bisschen zu bunt geworden. Interessant dabei ist, dass dieser Wettbewerb nicht offen, sondern nach einem Einladungsverfahren implementiert wurde. Vielleicht war da jemand noch jemandem einen Gefallen schuldig? Den Jackpot gewonnen hat auf jeden Fall das gemeinsame Projekt „Personal- und Student-Housing" der Pensionskasse Stiftung Abendrot und Werner Hofmanns Tescon AG. In einer Medienmitteilung des Immobilienamtes ist zu lesen: „Das Projekt (…) bietet rund 330 Personen günstigen Wohnraum und enthält zudem Kunstateliers, Gastronomie und Hotellerie. Rund 180 Studios sind für das Personal des Universitätsspitals Zürich reserviert."

Anzeige

Eine feine Sache also, könnte man auf den ersten Blick meinen. Doch Unternehmer, Immobilienstratege und SVP-Mitglied Werner Hofmann (welcher leider nicht ganz so funky drauf ist wie sein Namensvetter Albert) hat mit seiner Tescon AG bereits im ehemaligen besetzten Hotel Atlantis gezeigt, wie man einen autonomen Freiraum im Hau-Ruck-Verfahren zu Grunde richtet und mit grossem Medienecho in ein Studentenwohnheim verwandelt. Die armen Studenten aber auch. Als litten sie mit reichen Eltern, Krankenkassen-Prämienverbilligungen und nicht zu enden wollenden Sommerferien nicht schon an genügend Privilegien! Wie auch immer. Dieses Student-Housing Konzept scheint im Atlantis so gut funktioniert zu haben, dass es nun auch die Investorin, die alternative (!) Pensionskasse Stiftung Abendrot, für ihr neues Bauprojekt in der Binz verwendet.

Eine clevere Strategie. Es wäre wohl viel schwieriger gewesen, die Unterstützung der Öffentlichkeit für den Bau einer modernen Driving Range für Topverdiener, oder für einen Wellness-Spa Komplex mit Kokos-Maracuja Whirlpools und Mandelöl Massage-Düsen zu gewinnen. (Für letzteres wäre unsere Unterstützung allerdings garantiert! Bauprojekt-Modelle bitte an info@viceland.ch). Doch Spitalpersonal- und Studentenzimmer, ein bisschen Kneipe und Hotel sowie eine Prise Kunst und Kultur, das scheint bei den gentrifikationophilen Stadtaufwertern gut angekommen zu sein. Dass dafür ein unersetzbares Stück Zürcher Kulturgeschichte weichen muss, scheint die Kollegen von der Baudirektion nur wenig zu stören. „Wir nehmen den kulturellen Stellenwert der Binz zwar zur Kenntnis, haben aber in diesem Projekt nur bedingt Handlungsspielraum, da wir die Vorgaben der Politik umsetzen müssen", hiess es bei der Direktion auf Anfrage diplomatisch. Und da der Kanton Zürich seine Immobiliengeschäfte ja bekanntlich Rendite orientiert betreibt, bleibt da nicht mehr viel zu machen.

Anzeige

Doch da es einigen Binz-Besetzern zwar an einem anständigen Mundwasser, aber sicher nicht an politischer Kreativität mangelt, überraschten sie die Öffentlichkeit unlängst mit staatsmännischen Ambitionen: In einer Medienmitteilung veröffentlichte die Familie Schoch eine Unabhängigkeitserklärung, welche das Areal der Binz zu einer souveränen Enklave innerhalb der Stadt Zürich transformierte. Der Mediensprecher des Polizeidepartements der Stadt Zürich, Dr. Reto Casanova (ziemlich cooler Name übrigens!), erläuterte für uns die Position der Stadt gegenüber der Unabhängigkeitserklärung: „Streng formal betrachtet kann die Stadt Zürich als Kommune keine offiziellen Beziehungen zu Staaten unterhalten." Während die Behörden auf Gemeindeebene neckisch mit den Augen zwinkern, scheinen der Kanton sowie der Bund die Augen noch lethargisch geschlossen zu halten. Sie haben bis jetzt nämlich noch nicht offiziell auf die Medienmitteilung der Besetzer reagiert. Kann sein, dass sie die Unabhängigkeitserklärung noch nicht ernst genug nehmen. Vielleicht haben sie aber auch einfach nur erkannt, dass die Besetzer gegenüber der Schweiz im Grunde dieselben Forderungen wie die Schweiz gegenüber der EU stellen und finden sich jetzt in einem tiefgreifenden Rollenkonflikt wieder.

Dass die Autonomiekämpfe, welche man in letzter Zeit von Palästina über Kurdistan bis nach Taiwan verfolgen konnte, nun auch schon die behagliche Schweiz mitten im anschaulichen Zürich erreicht haben sollen, mag Leute, die sich im Geschichtsunterricht permanent an den wohlgeformten Titten ihrer Banknachbarin aufgegeilt haben, vielleicht etwas überraschen. Doch in der Schweiz wurde schon seit der Gründung des Bundesstaates über Unabhängigkeit gestritten und für Autonomie gekämpft. So befreite sich zuletzt der Kanton Jura 1979 vom Einfluss Berns, während dem Kanton Appenzell Innerrhoden bereits im 16. Jhr. der Sprung zur politisch autonomen Enklave geglückt war. Es kam auch schon vor, dass um politischen Einfluss in Territorien innerhalb einer Gemeinde, wie zum Beispiel dem Zuger Alpli bei Unterägeri, gekämpft wurde.

Anzeige

Mit der Unabhängigkeitserklärung will sich nun auch die Binz zu einer politisch autonomen Enklave innerhalb des oppressiven Nachbars Kanton Zürich transformieren. Dessen Gesetze könnten dann in der Folge das Verhalten der Besetzer auf dem Binz Areal nicht mehr kriminalisieren. (Etwa so wie Putin der Grosse jetzt nicht mehr in Tschetschenien oben ohne Jagen darf, was wir übrigens ganz und gar nicht lustig finden). „Die Unabhängigkeitserklärung der Binz ist ein unabdingbar notwendiger Akt radikaler Selbstbestimmung. Das Ziel ist nicht die Isolation, Marginalisierung oder Autarkie, sondern ein souveränes Terrain, das sich jeglichen Zuständigkeitsbereichen entzieht", betont die Familie Schoch. Ob das reichen wird die bevorstehende Räumung erfolgreich abzuwenden wird sich zeigen. Obwohl eine Eskalation mit der Polizei nicht im Interesse der Besetzer liegt, wollen sie aber auch nicht klein beigeben. Freiwillig werden sie uns hier auf jeden Fall nicht herausbekommen", so die Prognose eines Binz-Bewohners, „Crime Power statt Prime Tower, Binz bleibt!" – die Frage ist lediglich wie lange.

Fotos: Evan Ruetsch