Hände in Handschuhen nehmen eine Probe von einem Ziegel Kokain, ein Datenleck bei der kolumbianischen Generalstaatsanwaltschaft gibt Einblicke in den Kokainhandel.
Ein Beamter der kolumbianischen Antidrogenpolizei mit Kokain, das für Europa bestimmt war | Foto: Raul Arboleda Getty Images
Drogen

'NarcoFiles': Ein gigantisches Datenleck gibt Einblicke in den weltweiten Drogenhandel

Von Hackern erbeutete Daten der Generalstaatsanwaltschaft Kolumbiens geben tiefe Einblicke in die Welt des Kokainhandels. Wir haben mit dem Journalisten gesprochen, der das Leak mit ausgewertet hat.
Max Daly
London, GB

Fünf Terabyte Daten erbeuteten Hacker 2022 von der kolumbianischen Generalstaatsanwaltschaft, darunter mehr als sieben Millionen E-Mails von Botschaften und Strafverfolgungsbehörden auf der ganzen Welt. Die sensiblen Informationen gelangten schließlich zu mehreren lateinamerikanischen Medien und dem Organized Crime and Corruption Reporting Project, kurz OCCRP. Dort arbeiteten Journalistinnen und Journalisten aus 23 Ländern ein Jahr lang an der Auswertung. 

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Sie glichen die Funde mit Hunderten anderen Dokumenten, Datenbanken und Interviews ab und begannen davon ausgehend weitere Untersuchungen. Das Ergebnis der umfangreichen investigativen Recherche ist Anfang November unter dem Namen NarcoFiles: The New Criminal Order erschienen. In einer Reihe von Artikeln legt das OCCRP Korruption und Geldwäsche offen und zeigt, wie sich kriminelle Organisationen zusammentun, um den Strafverfolgungsbehörden einen Schritt voraus zu sein. 

Kolumbien spielt eine zentrale Rolle im weltweiten Kokainhandel. Die Hacker der Gruppe Guacamaya, die die Daten besorgte, sagen, sie hätten das Büro der dortigen Generalstaatsanwaltschaft ins Visier genommen, weil es "eine der korruptesten Institutionen des Landes" sei. Die Behörde selbst reagierte nicht auf Anfragen des OCCRP. Aber sie räumte das Datenleck ein und sagte, sie habe seitdem ihre Cybersicherheit verstärkt. 

Wir haben mit OCCRP-Gründer Paul Radu gesprochen, unter dessen Leitung das NarcoFiles-Projekt entstanden ist.


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VICE: Wie groß war das Datenleck? Wie sensibel sind die Informationen?
Paul Radu:
Das Datenleck eröffnete einen großartigen Zugang in die Welt des organisierten Verbrechens. Kolumbien ist bekanntlich eines der großen Drehkreuze des Drogenhandels. Viele Länder auf der ganzen Welt bitten die dortigen Strafverfolgungsbehörden um Hilfe bei ihren zahlreichen Fällen zum Kokainhandel. Die Recherchen, die dann von den Daten aus dem Leak ausgingen, waren allerdings wichtiger, um ein klares Bild von der Welt des Drogenhandels zu bekommen.

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Was ist die größte Erkenntnis aus dem Datenleck?
Die Dokumente haben bestätigt, was wir schon stückweise durch unsere frühere Berichterstattung wussten: Dass die Strafverfolgungsbehörden bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens unkoordiniert handeln. Entsprechend selten ist das von Erfolg gekrönt. 

Was hat euch überrascht?
Kriminelle verbinden sich problemlos zu spontanen und sich ständig verändernden Netzwerken. Sie sind den Behörden und Journalisten immer einen Schritt voraus. Sie sind Early Adopter neuer Technologien. Auch wenn einige aufsehenerregende Fälle mithilfe von Technologien wie EncroChat gelöst wurden, haben Kriminelle in dem Bereich generell die Oberhand.

Viele denken, dass das Verbrechen mal kommt und dann wieder verschwindet. Aber die organisierte Kriminalität ist immer dabei, sich zu optimieren und zu wachsen. Die Erfahrungen aus vergangenen Verbrechen fließen so in die Entwicklung neuer Straftaten ein. Man kann sich das wie ein Betriebssystem vorstellen, das niemals überholt ist und sich immer weiter über die Welt ausbreitet.

Mit welchen Mythen und Missverständnissen zur organisierten Kriminalität räumt die Recherche auf?
Nicht mit besonders vielen. Mir macht viel mehr Sorgen, was nicht in den Datensätzen steht. Es zeigt, dass selbst die Strafverfolgungsbehörden, die seit vielen Jahren kaum etwas anderes tun, als gegen Drogenhändler zu ermitteln, kein ebenbürtiger Gegner für die Narcos sind.

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Das Datenleck und unsere Arbeit haben uns etwas gezeigt, das wir die Uber-isierung des organisierten Verbrechens nennen. Es ist alles dezentralisiert, aber es existieren weiterhin zentrale Profitpunkte.

In der organisierten Kriminalität herrscht viel Opportunismus, aber es gibt auch das, was wir kriminelle Angel-Investoren nennen. Das sind manchmal ältere Kriminelle, die viel Geld angehäuft haben und zu Finanziers von jüngeren Kriminellen oder sogar Regierungen werden, welche das organisierte Verbrechen dann zu ihrem eigenen Vorteil einsetzen.

Was zeigt das Leak über die Methoden der Behörden?
Es fehlt an Zusammenarbeit – und das nicht nur in einzelnen Fällen, sondern es gibt ganz allgemein keine übergreifende Strategie. Die Behörden lassen sich innerhalb ihrer Landesgrenzen einfach vom Geschehen treiben. Das ist ziemlich dumm, so können sie nur verlieren. Es wird nicht wirklich darüber nachgedacht, wie man das Problem auf globaler Ebene angehen könnte.

Immer wieder ist von einer neuen kriminellen Ordnung die Rede. Was heißt das?
Wir meinen damit, dass die Kriminellen in den vergangenen vier bis fünf Jahrzehnten dank unzureichender Strafverfolgung viel Geld und Macht angehäuft haben. Und diese Macht üben sie jetzt mit noch größerer Stärke auf noch größeren Gebieten aus. Sie haben die Politik unterwandert wie noch nie – und sie haben sich in ihrer Geschäftstätigkeit neu erfunden.

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Unser Projekt ist eine Momentaufnahme der organisierten Kriminalität, wie sie heute ist. Sie befindet sich allerdings im stetigen Wandel und ohne Koordination und ernsthafte Überlegungen seitens der Wissenschaft, des Journalismus, der Strafverfolgungsbehörden und anderen wird sie sich weiter ausbreiten. 

Was verraten uns die NarcoFiles über die Menschen an der Spitze des organisierten Verbrechens?
Es gibt dort keine Genies, aber ein kriminelles Kontinuum. Altgediente Kriminelle haben Strukturen aufgebaut, die von den neuen Rivalen genutzt werden. Je mehr Infrastruktur es gibt, desto mehr Verbrechen und Opfer gibt es auch. Die Infrastruktur selbst besteht aus vielen Komponenten: Banken, Krypto-Börsen, Buchhaltern, Hackern, Juristen, Logistikunternehmen, korrupten Strafverfolgungsbehörden, Politikern und natürlich auch korrupten Journalisten.

Welche Rolle spielt Europa?
Westeuropa hat jahrzehntelang davon profitiert, ein Investitionsgebiet des organisierten Verbrechens zu sein. Damit war es größtenteils vom direkten Leid geschützt, das der Drogenhandel mit sich bringt. Aber das ändert sich jetzt und die Europäer spüren langsam die Auswirkungen des organisierten Verbrechens. Europa kann nicht einfach isoliert handeln und muss Reformen verabschieden, um die organisierte Kriminalität auf globaler Ebene in den Griff zu kriegen.

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Was sind die schlimmsten Auswirkungen des organisierten Verbrechens für die Öffentlichkeit?
Es gibt natürlich die direkten toxischen Einflüsse auf Gesundheit und Familie, aber es gibt auch indirekte Folgen. Etwa, dass das Geld aus dem Drogenhandel die Korruption befeuert. Kriminellen hilft es dabei, politische Führungsfiguren zu werden. 

Die Korruption, die aus dem Drogenhandel hervorgeht, manifestiert sich in vielen verschiedenen Formen. Das können extremistische Bewegungen sein, die mit Schwarzgeld finanziert werden, oder Rodungen im Amazonas, weil Kriminelle in umweltschädliche Industrien investieren.

Wie wichtig ist investigativer Journalismus beim Kampf gegen den illegalen Drogenhandel?
Ich bin da natürlich voreingenommen, aber ich finde, dass investigative Berichterstattung dabei unerlässlich ist. Sie ist eins unserer wenigen Mittel, um das große Puzzle des globalen Drogenmarkts zu lösen. Trotzdem muss der Journalismus viel effizienter beim Einsatz neuer Technologien werden. Wir müssen unsere eigenen investigativen Large Language Models entwickeln, also große generative Sprachmodelle mit künstlicher Intelligenz. Und zwar schnell. Ich bin mir sicher, dass die Kriminellen schon über ihr eigenes nachdenken.

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