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Was wir 2014 über Rassismus gelernt haben

Pegida, HoGeSa, Bild-Leitartikel: Alles geht, wenn es gegen Muslime geht.

Es kommt nicht oft vor, aber manchmal möchte man Neonazis fast dankbar sein. Zum Beispiel, wenn sie mit ein paar Graffiti eigentlich alles zusammenfassen, was wir dieses Jahr über Rassismus gelernt haben. So geschehen im nordrhein-westfälischen Dormagen, wo in der Nacht zum 22. Dezember ein paar Sprayer auf einen Moschee-Rohbau geklettert sind und dort massenweise Hakenkreuze und Sprüche wie „Scheiß-Islam", „und das auf deutschem Boden" und „mit euch ins KZ" hinterlassen haben.

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Euer Werk, Pegida, CSU, AfD & Co: Hakenkreuze auf Moschee-Rohbau in Dormagen! Und kommt jetzt nicht mit sagen dürfen! — Lucas Gerrits (@LucasGerrits)22. Dezember 2014

Damit haben die von der Sprühwaffen-SS ziemlich prägnant auf den Punkt gebracht, worum es bei all den HoGeSas, Pegidas und Bild-Leitartikeln wirklich geht: Der neue Rassismus heißt Islamophobie, und „Muslime" sind die neuen „Ausländer".

Diese Graffiti sind natürlich enorm ärgerlich für all die Verteidiger des Abendlandes. Denn eines haben sie uns 2014 auf jeden Fall versucht, klarzumachen:

1. NIEMAND IST RECHTS, ALLE SIND NUR BESORGT

Das Erfrischende an den Dormagener Schmierereien ist ja gerade, dass sie einen Zusammenhang deutlich machen, den vielen Menschen aus der besorgten bürgerlichen Mitte mit aller Kraft nicht wahrhaben wollen. Mit NPD-Kadern und rechten Hooligans im blütenweißen Sachsen gegen „Islamisierung" auf die Straße zu gehen, soll irgendwie rechts sein? Das ist doch die pure Nazi-Keule!

Tatsächlich hätte sich kaum ein Pegida-Mitläufer zum Beispiel in Dortmund zu SS-Siggi und seinen Kameraden von der „Rechten" gestellt, um mit ihnen „Anne Frank war essgestört" zu singen. Sprüche der Art sind in Deutschland nicht mehr mehrheitsfähig. Sätze wie „Die Muslime haben eine andere Kultur, die nicht zu Deutschland gehört" kommen dafür aber immer besser an.

An der Universität Leipzig wird alle zwei Jahre eine Studie durchgeführt, die die Verbreitung rechtsextremer Einstellungen in der gesellschaftlichen Mitte untersuchen soll. Die diesjährige Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Zahl manifest rechtsextrem Eingestellter mit 5,6 Prozent fast halbiert hat. Grund zum Feiern, oder?

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Nicht ganz. Gleichzeitig gab es aber einen enormen Anstieg, was Islamfeindschaft und die damit einhergehende Abwertung von Muslimen und Musliminnen angeht. Laut der Studie findet jeder dritte Deutsche, dass Muslimen die Zuwanderung untersagt werden solle. 2009 waren das nur 21 Prozent. Fast 43 Prozent fühlen sich „wie ein Fremder im eigenen Land". Das bedeutet, dass Islamfeindlichkeit gesellschaftsfähiger ist denn je.

2. ALLES GEHT, WENN ES GEGEN MUSLIME GEHT

Pegida-Demonstranten in Dresden. Foto: Jennifer Stange

2014 war das Jahr der Bewegungen mit hässlichen Namen und noch hässlicheren Parolen. Selbst die „HoGeSa" stießen auf sehr viel Gegenliebe aus dem bürgerlichen Milieu, bis sie sich mit der massiven Eskalation gleich bei der ersten Demonstration ein bisschen ins Abseits randalierten.

Zum Glück stand kurz darauf eine neue Bewegung mit noch hässlicherem Namen bereit: die Pegida! Und die „Patriotischen Europäer" haben durchaus etwas aus den Fehler der Hooligans gelernt: Solange ihre Demos gewaltfrei bleiben, können sie erzählen, was sie wollen. Zum Beispiel, dass das Abendland von der „Islamisierung" bedroht sei.

Das zieht aktuell nämlich massenhaft Leute an, denen man dann aber was ganz anderes erzählen kann: Auffallend an dem ziemlich spät veröffentlichten „Programm" der Pegida ist, wie selten es da noch um Islamisierung geht. Um so mehr geht es jetzt aber um „Asylpolitik", um „Null-Toleranz-Politik gegenüber straffällig gewordenen Asylbewerbern und Migranten" und „Bürgerentscheidungen nach dem Vorbild der Schweiz" (wo es bereits erfolgreiche Abstimmungen gegen Minarette und „Masseneinwanderung" gab).

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Im Grunde geht es also um die gleichen Themen, mit denen die NPD immer wieder auf Stimmenfang geht—aber da man die Leute zuerst bei ihrer vagen „Ich fühl mich fremd im eigenen Land"-Islamfeindlichkeit gepackt hat, klappt das viel besser, als wenn die „Nazis" es machen. Denn:

3. MUSLIME SIND DIE NEUEN AUSLÄNDER

Berliner Muslime beim Freitagsgebet auf der Straße nach dem mutmaßlichen Anschlag auf die Mevlana-Moschee im August. Foto: Jermain Raffington.

Eins der wirklich interessanten Phänomene dieses Jahres: Dieselben Menschen, die erst den Islamischen Staat dafür verurteilen, dass er Christen oder Jesiden nur aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit umbringt, stellen dann pauschal in Frage, ob „die Muslime" eigentlich wirklich nach Europa gehören. Oder sie finden, „die Muslime" könnten sich zumindest mal deutlicher von der Gewalt des IS distanzieren.

Ganz abgesehen davon, dass solche Distanzierungen ständig stattfinden und nie wahrgenommen werden, scheint fast niemand auf die Idee zu kommen, dass es eigentlich eine Unverschämtheit ist, einem unbescholtenen Bürger zu unterstellen, er fände Köpfen und Foltern total gut—nur weil jemand das irgendwo im Namen seiner Religion tut.

Kritik am Islam ist genau so berechtigt wie Kritik an jeder Religion. Das Problem ist, dass es anscheinend völlig in Ordnung ist, von „den Muslimen" als einer Art Drohnen-Armee zu sprechen, die alle derselben Programmiersprache namens „Islam" folgen. Dass man ihnen damit sämtliche andere möglichen Identitäten (Syrer, Türke, Mann, Frau, Jurist, Star Wars-Fan) einfach abspricht, scheint niemanden zu stören—auch wenn sie dem Einzelnen vielleicht viel wichtiger sind. Also ist es auch legitim, mit dem Koran in der Hand zum nächsten türkischen Metzger zu laufen und eine Erklärung zu verlangen, wie das mit der Tötung Ungläubiger denn nun wirklich gemeint sei. Erklären sollen Sie sich!

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Niemand würde den Rabbinern Schuld am Holocaust geben, weil sie sich nicht genug angestrengt haben, den besorgten Deutschen zu erklären, dass sie nicht Teil der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung sind. Warum müssen deutsche Muslime sich von jedem einzelnen Psychopathen oder Mörder distanzieren, den der syrische Bürgerkrieg so hochspült?

Weil sie die falsche Hautfarbe haben, so einfach ist das. Der Islam liefert die perfekte Gelegenheit, um eine ganze Gruppe Menschen statt aufgrund ihrer „Rasse" jetzt aufgrund ihrer „Kultur" auszugrenzen. Praktischer Zufall, dass der Großteil der Anhänger dieser Religion auch genau die Ausländer sind, die viele Deutschen nicht da haben wollen. Was uns zum nächsten Thema bringt:

4. NUR EIN FERNER FLÜCHTLING IST EIN GUTER FLÜCHTLING

Ein Flüchtling auf dem Dach der besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule im Juni. Foto: Björn Kietzmann

Bis November 2014 hat es 181.453 Asylanträge in Deutschland gegeben, für das ganze Jahr prognostiziert das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 230.000, 50 Prozent mehr als im Vorjahr. „Deutschland ist das Flüchtlingsheim Europas", titelte die Welt, das Boot ist mal wieder voll.

Allerdings hat auch mal jemand ausgerechnet, wie viele von den Flüchtlingen tatsächlich aufgenommen werden. Nicht nur 1 Prozent, wie NPD- und Pegida-Redner gerne behaupten, sondern immerhin 39 Prozent beträgt die Schutzquote—was trotzdem nicht bedeutet, dass Deutschland viel zu viele Menschen aufnimmt. 2012 zum Beispiel waren es 17.140. Auf die Gesamtbevölkerungszahl gerechnet sind das 0,1 Flüchtlinge pro 1000 Einwohner—viel weniger als Norwegen (1000 zu 1) oder Schweden (1000 zu 0,9) oder sogar die Schweiz (1000 zu 0,5).

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Trotzdem ist klar, dass im Moment sehr viel mehr Menschen in Deutschland Schutz suchen als noch vor zwei Jahren. Dass die Deutschen ihren Teil tun wollen, um diesen Menschen zu helfen, ist klar. Oder doch nicht?

Laut der Mitte-Studie aus Leipzig lehnten 2011 nur 25,8 Prozent großzügigere Asylverfahren ab, 2014 ist die Zahl auf ganze 76 Prozent gesprungen. Und das obwohl jeder weiß, dass die erhöhte Flüchtlingszahl vor allem mit dem syrischen Bürgerkrieg zusammenhängt, der auch allen total Leid tut. Anscheinend hat man aber genau in dem Moment keinen Bock mehr auf Flüchtlinge, in dem sie Hilfe dringender haben denn je. Blöd auch, dass viele von den Flüchtlingen dann auch noch Muslime sind.

Das Ergebnis sieht man nicht nur an den zahlreichen Demonstrationen gegen Flüchtlingsheime, sondern auch im Umgang der deutschen Politik mit den Forderungen der Flüchtlinge nach einem menschenwürdigen Leben. Das Drama um die Berliner Flüchtlingsschule oder den Oranienplatz sind nur zwei Beispiele.

5. ALLTAGSRASSISMUS GIBT ES IMMER NOCH

Foto: Grey Hutton. Aus dem Artikel Schwarze müssen in Berliner Kneipe draußen bleiben.

Auch wenn sich immer weniger Deutsche für ausländerfeindlich halten (weil sie ihre Vorurteile ja jetzt auf eine „Kulturgemeinschaft" projizieren können), gibt es immer noch genug ganz normalen Rassismus. Zum Beispiel, wenn ein Wirt in Kreuzberg beschließt, dass Schwarze nicht in seine Kneipe dürfen. Oder wenn zwei Zivilpolizisten betrunken Schwarze durch den Görlitzer Park jagen und zusammenschlagen.