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​Wieso wir mehr Mut zur „Hässlichkeit" brauchen

An dieser Stelle möchten wir Rumi zitieren: „I am not this hair, I am not this skin, I am the soul that lives within."
Foto: Akio Takemoto via Flickr

Als ich 12 Jahre alt war, habe ich angefangen, mich selbst zu hassen. Mein Äußeres entsprach nicht dem meiner Mitschülerinnen und Freundinnen, die mich mit ihren glänzenden langen Haaren, dem Zahnpastalächeln und ihren knapp ausgefüllten Snoopy A-Cups unfassbar neidisch machten. Mit meiner knabenhaften Figur, dem schiefen Gebiss und meiner markanten Nase konnte ich nicht anders, als mich Tag für Tag innerlich dafür runterzumachen, dass ich nicht das verkörperte, was wohl als „konventionell schön" galt.

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Zur dieser Zeit wurde bei mir eine massive Verkrümmung der Wirbelsäule festgestellt, durch die ich gezwungen war, ein medizinisches Korsett zu tragen. Für die coolen Kids und beliebten Mädchencliquen war ich eine Versagerin, eine Außenseiterin und ein gefundenes Fressen: Das Mobbing ließ nicht lange auf sich warten. Kinder können verdammt herzlose Arschlöcher sein.

Ich hasste mich dafür, nicht beliebt und hübsch genug zu sein. Noch mehr jedoch hasste ich mich für den Versuch, in eine Welt reinzupassen, zu die ich gar nicht wirklich gehören wollte. Die verinnerlichten Komplexe und Unsicherheiten waren mit 14 so stark ausgeprägt, dass ich anfing, mich von allem und jedem abzuschotten. Ich erinnere mich an einen Sommer, den ich komplett im Dunkeln in meinem Zimmer verbrachte. Als meine Mutter mich bei einem seltenen Gang zum Kühlschrank auf mein Verhalten ansprach, reagierte ich wütend und genervt. Was zur Hölle war denn nicht normal daran, den ganzen Tag heulend im Bett zu liegen, während Evanescence in Dauerschleife aus den Boxen dröhnt?

Dass ich krank war, habe ich erst realisiert, als ich anfing, mir die Arme aufzuschneiden. Das Idealbild, das uns durch Gesellschaft und Medien vermittelt wird, ist für den Großteil der Menschen unerreichbar. Straffe, schlanke, weiße Körper mit makellosen, kindlichen Gesichtern glotzen von Plakaten auf uns herab. Models werben für Produkte, die uns so aussehen lassen sollen wie sie. Perfektion in jeder Zelle. Viele Menschen vergessen bei diesem Anblick, dass diese Models bis in die Unendlichkeit mit Bearbeitungsprogrammen verschönert wurden.

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Nicht einmal die Models selbst könnten in der Realität so aussehen, wie auf den Seiten der Hochglanzmagazine, in denen sie werben. Schön zu sein ist zum ultimativen Lebensinhalt geworden. Wer schön ist, gilt als intelligent, erfolgreich und kompetent. Die Zahl der Jugendlichen, die an einer Essstörung leiden, wächst stetig, während ihr Alter sinkt und sinkt. 12-jährige Kinder, die in Orangensaft getunkte Wattebällchen schlucken, damit sie sich satt fühlen—in was für einer abgefuckten Welt leben wir eigentlich?

Die Schönheitsbranche ist eine Multimilliarden-Euro-Industrie. Umso hässlicher wir uns finden, desto mehr Geld schmeißen wir in ihren Rachen—sei es mit hautstraffenden Cremes, Diätpillen oder Schönheits-OPs. Unser Mangel an Selbstbewusstsein wird gegen uns ausgespielt. Wie sehr wir ausgebeutet werden, bleibt uns dabei meistens verborgen.

Ich habe Narben. Ich habe unreine Haut, eine krumme Wirbelsäule. Meine Nase ist zu groß, meine Brüste sind zu klein. Wenn ich mich bewege, sieht man mehr oder weniger tiefe Dellen auf meinen Oberschenkeln. Perfektion ist unerreichbar, das weiß ich jetzt. Das wisst ihr wahrscheinlich auch, und trotzdem schwirrt da diese Stimme im Kopf rum, die sofort auftaucht, sobald man sich einem Spiegel zuwendet. Die Stimme, die alles kritisiert und das Selbstbewusstsein schrumpfen lässt, wenn man sie zu lange mit Blicken füttert.

Wenn ihr euch das nächste Mal kritisch betrachtet, dann schreit zurück, dass sich die Stimme ins Knie ficken und verpissen soll. Denn wenn ich eins gelernt habe in den vergangenen Jahren, dann, dass es scheißegal ist, wie hässlich ihr eurer Meinung nach seid. Es spielt keine Rolle, wie ihr ausseht. Euer Äußeres hält euch von nichts ab. Nicht von einem interessanten Job, nicht von der Traumwohnung. Auch nicht davon, neue tiefgreifende Freundschaften zu schließen, die Welt zu bereisen oder auf ausartenden Hauspartys zu feiern.

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Das einzige, das euch von all diesen Dingen abhalten könnte, seid ihr selbst beziehungsweise die Einstellung, die ihr zu euch habt. Das ist reine Selbstsabotage. An dieser Stelle möchte ich Rumi zitieren: „I am not this hair, I am not this skin, I am the soul that lives within." Und er hat Recht. Unsere Körper sind nichts weiter als Zellsäcke, die mit Knochen, Organen und Gewebe gefüllt sind. Menschen, die in unser Leben treten, werden uns wegen unserer Eigenarten und Charakterzüge lieben lernen und nicht, weil wir wie eine junge Kate Moss vor ihrem Drogenabsturz aussehen.

Zwei stationäre Aufenthalte und eine Essstörung später kann ich nicht sagen, komplett „geheilt" zu sein—wie auch immer man diesen Begriff interpretiert. Die Depressionen überrollen mich immer noch in Wellen, die ich schwer kontrollieren kann. Auch ich erlebe Tage, an denen ich am liebsten in einen anderen Körper schlüpfen möchte, weil ich mich so unwohl in meiner eigenen Haut fühle. Ich weiß aber, dass ich die einzige Person bin, die meine Makel so extrem wahrnimmt und dass mein Freund mich auch mit einem akuten Akneschub liebt.

Viel wichtiger ist es, dass ich in diesen Momenten erkenne, woher meine eigene Unsicherheit kommt: Wenn ich durch meinen Instagram-Feed scrolle oder ein Modemagazin durchblättere, ist mein Selbstbewusstsein danach im Keller. Ich sehe diese perfekt inszenierten Schnipsel aus dem Leben einer anderen Person und fange automatisch an, mich zu vergleichen. Das ist pures Gift, ernsthaft.
Um meine Selbstliebe von Grund auf wieder aufzubauen, habe ich angefangen, besser auf meinen Körper zu hören und seine Bedürfnisse wahrzunehmen. Heute bedeutet das vielleicht Netflix und Pizza, morgen etwas komplett anderes. Bauchgefühle sind wichtig. Hört auf euren Bauch!

Eine Sache muss ich noch klarstellen: Ja, die Fassade spielt keine Rolle. Aber das heißt nicht, dass ihr die Häuser in denen ihr wohnt, nicht dekorieren sollt. Streicht die Wände, hängt Bilder auf, kauft euch ein paar schöne Möbel, wenn ihr Lust habt. Schließlich sollt ihr euch ja wohlfühlen. Denkt aber immer dran, dass ihr euer Haus nicht für Besuch einrichtet, sondern für euch. Ihr bewohnt es, ihr macht die Regeln. Es ist genau so einfach. Vielleicht schmeißt ihr beim Einzug in euer neues Heim ja eine Einweihungsparty und ladet mich auch ein. Dann können wir zusammen ein bisschen dekorieren und Netflix im Bett schauen. Ich bring auch Pizza mit, versprochen.


Titelbild: Akio Takemoto | flickr | CC BY-SA 2.0