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Sexualverbrechen

Frauen erzählen von sexuellen Übergriffen im Berliner Nahverkehr

In der S2 in Berlin: "Er knöpfte seine Hose auf und holte sich vor mir einen runter."
Foto: Grey Hutton

150 Sexualdelikte registrierte die Berliner Polizei im vergangenen Jahr in Bussen, S- und U-Bahnen – 35 Fälle mehr als im Jahr zuvor, heißt es in einem am Donnerstag veröffentlichten Teil der Berliner Kriminalitätsstatistik. Ein Anstieg von mehr als 30 Prozent.

Die Beamten erklären sich den Anstieg unter anderem mit einem veränderten Anzeigeverhalten seit den zahlreichen sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht in Köln. Zudem ist seit November 2016 die sexuelle Belästigung mit körperlicher Berührung strafbar. Heißt: Seitdem wird die Überrumpelung durch Grapschen oder Küssen von den Gerichten einheitlich als Straftat angesehen. Vorher lag das im Ermessen des Richters und wurde als Beleidigung verfolgt. Seit November drohen bis zu zwei Jahre Haft. Trotzdem hören sich 150 Sexualdelikte bei Millionen von Fahrgästen, die eine Milliarde Fahrten im Jahr machen, sehr gering an. Die meisten Fälle werden nie angezeigt. Uns erzählten Frauen, was sie für sexuelle Übergriffe in den Berliner Öffentlichen erlebt haben und warum sie nicht zur Polizei gegangen sind.

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Nina, 27

"Ich glaube, ich bin in den Berliner Öffentlichen schon auf jede Art sexuell belästigt worden. Das geht von dummen Sprüchen über Fotosmachen und penetrantes Angestarre bis zu Berührungen. In vollgestopften Waggons kommt es oft zu unnötig aktivem Körperkontakt – heißt, dass Männer ihren Schwanz an mich randrücken oder an mir reiben. Einmal habe ich abends auf die Tram gewartet. Da ging ein Typ an mir vorbei und hat seinen Penis einfach so raushängen lassen im Vorbeigehen. Ein anderer Mann saß mir in der Bahn gegenüber und hat seinen Schwanz einfach rausgeholt – tagsüber. Einer hat so getan, als ob er den Weg wissen wollte und hat mir dann auf seinem Handy ein Dickpick gezeigt.

Ich habe darüber auch schon mal mit meiner Mutter und meiner Schwester – die eine Behinderung hat – geredet und denen ist das auch schon passiert. Vielleicht nicht in der Häufigkeit wie mir oder anderen, aber dennoch kann man sagen, dass Alter oder 'Aussehen' dabei nur bedingt eine Rolle spielen."


Im Jahr 2015 wurden 600 Frauen in Paris befragt, die regelmäßig mit Metro, Bus oder Zug unterwegs sind. Die Umfrage im Auftrag der französischen Regierung ergab, dass alle Frauen angaben, bereits mindestens einmal Opfer sexueller Belästigung geworden zu sein.


Anna, 21

"Ich wurde schon drei oder vier Mal im Berliner Nahverkehr sexuell belästigt. Ich kenne keine Frau, der in Berlin noch nichts passiert ist.

Im Januar bin ich gegen vier Uhr morgens von einer Feier mit der U6 nach Hause gefahren. Ich hatte Kopfhörer auf und war ein bisschen betrunken. Das Abteil leerte sich nach und nach. Dann stieg ein Mann, Mitte 30, ein und setze sich ganz nah neben mich, obwohl fast alle Plätze frei waren. Er legte seine Hand auf meinen Oberschenkel. Das war schon krass, weil ich auch nur ein Kleid und eine Strumpfhose getragen habe. Ich habe meine Ohrstöpsel rausgenommen, mich zu ihm gedreht und gesagt: 'Nein, ich will das nicht.' Er kam aber noch näher und versuchte, mich zu umarmen und mich zu sich zu ziehen. Weil ich so laut reagiert habe, wurde ein Typ am anderen Ende des Bahnabteils darauf aufmerksam. 'Lass das Mädchen in Ruhe, sie will das nicht', rief er. Dadurch reagierte der Mann neben mir sehr aggressiv. Die beiden bauten sich zwei Stationen lang voreinander auf und hätten sich fast geschlagen – bis weitere Mitfahrer dazwischengingen.

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"Ich kenne keine Frau, der in Berlin noch nichts passiert ist."

Dann bin ich aus der Bahn gestiegen – und der Mann, der eingeschritten war, auch. Er fragte, ob es mir gut gehe und er mich nach Hause bringen solle. Weil ich solche Angst hatte und unter Schock stand, habe ich Ja gesagt. Anschließend dachte ich, dass ich im falschen Film sei: Der Typ, der vorher gesehen hat, wie ich sexuell belästigt wurde, fragte mich, ob er mich küssen könne und meine Telefonnummer kriegt. Ich sagte Nein und lief sofort in meine Wohnung.

In dem Moment selbst war das total heftig, aber weil alles irgendwie gut gegangen ist, bin ich nicht zur Polizei gegangen. Ich war mir auch nicht sicher, ob das überhaupt ein Straftatbestand ist und die Polizei überhaupt was machen kann."


"Wir sagen immer wieder: Alarmiert die Polizei! Schweigen bringt nichts", sagt ein Berliner Polizeisprecher zu VICE. "Wenn Polizisten zu solchen Delikten gerufen werden, dann wird das natürlich verfolgt, und wir werden alles versuchen, um die Täter namhaft zu machen. Wenn unsere Strafermittlungsverfahren eingeleitet sind, geht das an die Justiz."


Anna ist nicht die einzige Frau, die in der Bahn schon begrapscht wurde | Symbolfoto: Grey Hutton

Franzi, 24

"Ich wurde schön öfter in der Bahn sexuell belästigt. Einmal saß ich nachts in der S2. Es war relativ leer. Ein Mann, 40 plus, stieg in die Bahn und setzte sich in einen Vierer-Sitz in meine Nähe, obwohl noch relativ viel frei war. Er begann sich dann in den Schritt zu fassen. Ich habe daraufhin schon beschämt weggeguckt. Dann knöpfte er seine Hose auf und holte sich vor mir einen runter."


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Bei etwa 70 Prozent der sexuellen Straftaten in den Berliner Öffentlichen handele es sich um exhibitionistische Handlungen und Fälle der Erregung öffentlichen Ärgernisses, so die Berliner Kriminalitätsstatistik 2016. "In diesen Fällen entblößen sich die Täter, ohne die Opfer anzufassen oder anzusprechen. Schon diese Handlung ist natürlich strafbar", so ein Sprecher der Berliner Polizei.


"Ich wusste überhaupt nicht, wie ich reagieren sollte, weil es kein körperlicher Angriff war. Ich bin einfach aufgestanden und an der nächsten Station raus. Als ich dann zu Hause war, habe ich mich sehr darüber geärgert, dass ich nicht darauf reagiert habe. Ich hatte ein Ohnmachtsgefühl in mir. Ich wünschte mir, dass ich in solchen Fällen was sagen würde oder selbstbewusster reagieren würde, aber die Situationen sind so extrem, dass mir der Mut fehlt."


Diese Schockstarre, in der jede Form des Widerstands unmöglich wird, wird als "tonische Immobilität" bezeichnet. In Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungskursen kann man lernen, in solchen Extremsituationen rechtzeitig Grenzen zu setzen und Strategien für Ausweichmöglichkeiten oder Gegenwehr zu entwickeln. Polizei und Landessportverbände können bei der Suche seriöser Kursangebote helfen.


"Diese Situation hat mein Bahnverhalten verändert. In der ersten Zeit habe ich nachts immer ein Taxi genommen. Ich habe mir auch ein Pfefferspray gekauft. Und ich gucke jetzt immer danach, in welchem Abteil viele Frauen sitzen. Ich würde nie wieder in ein Abteil steigen, in dem nur Männer sind."

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Für Menschen, die nachts nicht gerne alleine nach Hause gehen und Freunde nicht mehr aus dem Bett klingeln wollen, gibt es das Heimwegtelefon. "Es geht in erster Linie darum, Sicherheit zu schenken", so die Macher des Dienstes, der nachts eigentlich immer erreichbar ist. "Durch ein nettes Gespräch hat der Anrufer das Gefühl, nicht alleine nach Hause zu gehen. Dadurch fühlt er sich nicht nur wohler, sondern strahlt auch eine größere Sicherheit aus."


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Sophie, 21

"Ich habe leider schon unzählige Erfahrungen in Berliner U-Bahnen gehabt. Zwei krassere Fälle sind mir im Kopf geblieben. An einem Dienstag saß ich in der letzten U8 nach Mitternacht, es war wenig los und fast alle Plätze waren frei. Zwei Jungs kamen in die Bahn und haben sich sofort rechts und links von mir hingesetzt. Erst lachten sie, dann fingen sie an, meine Haare zu berühren und an mir zu riechen. Ich habe erst versucht, so zu tun, als ob ich telefoniere, danach habe ich gesagt, dass ich das nicht will, aber sie hörten nicht auf. Das Schlimme ist, dass man in solchen Situationen nicht schreien oder sich wehren kann. Ich war starr vor Angst und bin an meiner Station einfach nur so schnell gelaufen, wie ich konnte.

Die heftigste Geschichte war unter der Woche nach der Uni in der U8 auf dem Weg nach Hause. Im Gedränge hat mir ein älterer Mann beim Einstieg in den Hintern gekniffen, ich habe 'Geht's noch' gerufen, aber er ist einfach weitergegangen. Während der Fahrt gaffte er mich die ganz Zeit an. Als ich Ausstieg, stieg er auch aus. Das sind die Momente, wo Unwohlsein in Angst überschlägt. Anschließend folgte er mir bis in den Aldi. Ich drehte mich um und sagte ihm, er solle weggehen. Er aber meinte, er wolle mir meinen Einkauf bezahlen. Ich sagte mehrmals Nein. Er ging auch nicht, als ich mit der Polizei drohte. Ich bin dann einfach wieder weggelaufen."

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"Wir empfehlen in solchen Fällen, dass die Opfer der Situation aus dem Weg gehen und möglichst keine zusätzliche Provokationen erzeugen", sagt der Berliner Polizeisprecher. "Ganz wichtig ist, dass man Passanten in der Nähe durch laute Rufen auf die Situation aufmerksam macht. Und dann sollten die Opfer die Polizei alarmieren."


"Das Schlimme ist: Ich habe mich als Frau an aufdringliches Angestarre, sexistische Rufe oder obszöne Gesten ja schon gewöhnt. Das passiert mir und meinen Freundinnen so häufig, dass ich das gar nicht mehr als Belästigung sehe. Ich merke selbst, wie ich auch heftige Situationen innerlich herunterspiele. Dabei weiß ich, dass ich die Polizei rufen müsste."


Hast du ähnliche Fälle von sexuellen Übergriffen erlebt? Das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" bietet per Telefon, Chat und Mail rund um die Uhr eine kostenlose Hilfe in 17 verschiedenen Sprachen an.

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