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Occupy Turkey

The Greater Middle East Project und Erdogans ausländische Kräfte

Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan macht seit Beginn der landesweiten Proteste "ausländische Kräfte" für die Unruhen verantwortlich und rennt damit offene Türen ein. Kein Wunder: In der Türkei sind wunderliche Theorien wie diese weit...

Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan macht seit Beginn der landesweiten Proteste "ausländische Kräfte" für die Unruhen verantwortlich. "Die wollen uns fertigmachen, aber nicht mit uns", heißt in etlichen seiner Reden. Der Schritt, den Verschwörungstheoretiker Yigit Bulut zu seinem neuen Chefberater zu ernennen, spricht auch eine deutliche Sprache. Bei seinen Anhängern rennt er mit diesen Thesen offene Türen ein. Und auch manche seiner Gegner wollen das nicht ausschließen. Kein Wunder: In der Türkei sind wunderliche Theorien wie diese weit verbreitet.

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Man nehme etwa die Idee des "greater middle east projects". Eine geläufige deutsche Übersetzung gibt es nicht, denn hierzulande ist dieses Konzept eher unbekannt. In der Türkei - dort heißt es büyük ortadoğu projesi - versteht man darunter grob gesagt folgendes: Die Amerikaner haben irgendwann um die Jahrtausendwende beschlossen, den nahen Osten unter Kontrolle zu bringen. Alles was seither passiert ist, gehört demnach zu einem durchdachten Masterplan.

Die Kriege im Irak und Afghanistan waren Teil des Plans, ebenso wie der Arabische Frühling oder der syrische Bürgerkrieg. Angeblich waren diese Ereignisse von außen geplant und koordiniert. Ist jetzt also die Türkei dran?

Im Irak marschierten die USA ein, das steht außer Frage. In Tunesien, der Türkei und nun wieder in Ägypten gingen hingegen hunderttausende Einheimische wochenlang auf die Straße, um sich gegen ihre Regierungen zur Wehr zu setzen. Als halbwegs neutraler Beobachter fällt es schwer, da einen großen Plans zu sehen. Skeptiker haben aber auch dafür eine Erklärung.

"Jedes Land ist anders", sagt Mustafa Kara. Für Kara ist das greater middle east project knallharte Realität. "Es gibt kein Patentrezept dafür, wie man Diktatoren stürzt". Im Irak habe man gemerkt, dass der Tod von US-Soldaten die Stimmung kippen kann. Daher waren andere Methoden notwendig. Das Volk aufeinander hetzen sei so eine gewesen, so Kara, ein Techniker in den 40er Jahren aus Istanbul. Mustafa Kara heißt eigentlich anders. Wie viele andere auch, möchte er seinen Namen lieber nicht in den Medien lesen.

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Kara ist mit seiner Weltsicht nicht allein. Viele denken so wie er. "Eher lass' ich mir einreden, dass ein Becher eine Pfanne ist. Aber das greater middle east project ist echt", sagt eine 25-jährige linke Studentin an einer der renommiertesten Universitäten in der Türkei. Auch sie möchte ungenannt bleiben.

Die gläubige Deutschtürkin Gülen Altun - sie heißt wirklich so - glaubt zwar nicht an einen übergeordneten Plan. Für sie reicht dieses Projekt dennoch noch weiter: Die Verbreitung von Islamophobie sei auch Teil des greater middle east project. "Der Vorwurf der Islamisierung ist die heutige Propaganda, wie seinerzeit gegen Juden."

Was die Details dieses vermeintlichen Masterplans angeht, kursieren unterschiedliche Versionen: Manchmal sind die Juden die eigentlichen Hintermänner. Manche sagen, die Ursprünge des Plans reichen bis zur Kolonialzeit. Gerne wird auch der seit Jahrzehnten dauernde Konflikt mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK dem greater middle east project zugerechnet. Auch die Frage, wie detailliert geplant der vermeintliche Plan denn wirklich ist, ist umstritten.

In zahlreichen türkischen Diskussionssendungen und Zeitungsartikeln zerbrechen sich Journalisten, Wissenschaftler und Politiker den Kopf über solche Details. Sie versuchen den Masterplan zu entschlüsseln. Dass es so einen Plan gibt, daran zweifelt öffentlich kaum jemand.

Linke, Rechte, Konservative, Liberale, Schüler, Studenten, Arbeiter. In jedem Milieu trifft man auf jemanden, der die eine oder andere Variante für wahr hält. Natürlich glauben nicht alle Türken an so einen Plan. Verbreitet sind solche Theorien aber auch in vielen der anderen vermeintlich betroffenen Länder, zum Beispiel in Syrien, Libyen oder dem Iran. Das Muster ist überall gleich: Alles geplant, alles unter Kontrolle einiger weniger Amerikaner und/oder Juden.

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Sucht man nach harten Fakten, wird diese Weltanschauung schon besser nachvollziehbar, wenigstens ein bisschen.

Da ist zum Beispiel einen Artikel von Condoleezza Rice aus dem Jahr 2000. Fünf Jahre bevor sie US-Außenministerin unter George Bush wurde, veröffentlichte sie in der Fachzeitschrift Foreign Affairsihre Vision der amerikanischen Außenpolitik: Die USA müssen alles daran setzen die Machthaber von "Schurkenstaaten" wie dem Irak, Iran oder auch Nord Korea zu entmachten, schrieb Rice.

Das war rund drei Jahre vor dem Irakkrieg. Schon damals befürchtete sie im Irak "gefährlichen Massenvernichtungswaffen" - glatter Unfug, wie sich später herausstellen sollte.

2004 tauchte dann erstmals dieser Begriff auf, auf den man im Nahen-Osten so oft Bezug nimmt. Die Bush-Regierung präsentierte im Vorfeld eines G8-Treffens ihre außenpolitische Ziele unter dem Namen greater middle east initiative. Die Nahost-Initiative war geboren. Konkret wollte man sich stärker um "Demokratisierung und Menschenrechte in der Region" kümmern.

Solche Positionspapiere und Absichtserklärungen gibt es wie Sand am Meer. Die Lösung des Nahostkonflikts zwischen Israel und Palästina kommt in etlichen dieser Papiere vor - viel verändert hat sich dadurch aber nicht. Auch die "Schurken" im Iran und in Nordkorea sind nicht verschwunden. Globale Entwicklungen halten sich also nicht zwangsläufig an das, was in diesen Papieren steht.

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Aber da ist noch mehr: Für einigen Wirbel sorgte das 2007 erschiene Buch "Die Israel Lobby". Die renommierten US-Politikwissenschaftler John Mearsheimer und Stephen Walt argumentieren darin, dass die Nahostpolitik der USA durch eine mächtige Lobby aus Israel gelenkt werde. Die "Israel Lobby" - das sei "ein lockerer Verbund von Individuen und Organisationen, die aktiv darauf hinarbeiten, dass sich die US-amerikanische Außenpolitik in eine pro-israelische Richtung bewegt".

Die These wurde heftig diskutiert. Einen klugen Einwand machte etwa die ehemalige Außenministerin der USA, Madeleine Albright. Ja, es gebe eine starke israelische Lobby - das stehe außer Frage. Aber Washington sei eben voller Lobbys. Schwer zu glauben, dass dort nur eine Gruppe den Ton angibt.

In extremer Form findet man dieses Gedankengut auch in Deutschland und Österreich. Die Nazi-Szene spricht von der "Ostküste" und meint das angeblich von Juden dominierte internationale Finanzsystem.

Erdoğan beschuldigt eine ominöse internationale "Zinslobby" und "ausländische Kräfte" die Proteste in der Türkei angestachelt zu haben. Wen könnte er damit wohl gemeint haben? Regierungsnahe türkische Medien wie Yeni Safak "enthüllten" bereits, die Proteste seien in Washington geplant und vorbereitet worden - Codename "Rebellion-Istanbul". Drahtzieher sei die "Israel Lobby" in Washington. Kurz gesagt also: Die Juden waren es.

Beweise gibt es dafür freilich nicht. Dennoch lösen solche Meldungen in sozialen Medien eine regelrechte Lawine aus. Allein der Artikel von Yeni Safak wurde über 2.500 Mal auf Twitter geteilt, Tausende Mal auf Facebook geliked oder geshared. Solche Behauptungen treffen offenbar einen Nerv.

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Erst kürzlich veröffentlichte Erdoğans AKP ein Video mit dem klingenden Titel "das große Spiel". Mit dramatischer Actionmusik untermalt schildern sie ihre Sicht der Demonstrationen: Die starke und wachsende Türkei sei den Mächtigen hinter dem Vorhang ein Dorn im Auge geworden.

Vielleicht ist es Realitätsverweigerung, vielleicht auch schlicht politisches Kalkül. Erdoğan wiederholt die Geschichte mit der Zinslobby und "äußeren Einflüssen" um damit vor allem eines zu sagen: "Wir haben nichts falsch gemacht. Das Volk steht hinter uns. Hier versucht jemand von außen Unruhe zu stiften."

Und die Botschaft kommt an. Auch bei Türken, die im Ausland leben. So sagte etwa der Bezirksrat der Wiener Sozialdemokraten Hüseyin Kilic zur Presse: "Die Proteste sind ein von ausländischen Kräften initiierter und gelenkter Putschversuch gegen Erdoğan."

Fatih Köse, von der Erdoğan-freundlichen Plattform "New Vienna Turks", sagte, beide Seiten bemerken, dass die Demonstrationen "nicht natürlich entstanden sind".

Auch in den sozialen Medien vermuten viele eine Verschwörung. "Die Menschen demonstrieren. Aber wogegen eigentlich. Siehst du nicht, dass da was nicht stimmt?" - allein auf Twitter stellten Hunderte diese Frage. Die Antwort wäre ja eigentlich naheliegend: Gegen Erdoğan wird demonstriert. So einfach ist das. Für manche nur offenbar unvorstellbar.

Statt naheliegende Antworten in Erwägung zu ziehen, kommen noch mehr Fragen: "Wieso sind ausländische Politiker vor Ort?", "wieso mischen sich Ausländer unter die Demonstranten? Das sind doch sicher Agenten", "wieso berichtet CNN so intensiv über Taksim?"

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Um CNN ranken sich seit der Gründung des Senders die abstrusesten Gerüchte. Als der Nachrichtengigant live aus Taksim berichtete, hatte die Polizei den Platz erstmals mit Tränengas und Wasserwerfern gestürmt. Polizisten riegelten das Gelände ab, kaum jemand durfte hinein. Stundenlange Ausschreitungen waren die Folge. Zuvor waren dutzende Anwälte aus einem Gerichtsgebäude festgenommen worden. Erdoğan kündigte das "Ende der Toleranz an". Nicht gerade eine Kleinigkeit also.

Viele sahen in der Berichterstattung den Beweis für ein Komplott. Das gilt zumindest teilweise auch für Demonstranten und Erdoğan-Kritiker. Der sonst sehr regierungskritische Außenpolitik Chef der Zeitung Hürriyet, Emre Kizilkaya, vermutete, dass die USA vom Prism-Skandal ablenken wollen. Ein Freund aus Istanbul, der von Anfang an bei den Protesten dabei war, gestand mir, er habe "Angst auch Teil des Propagandaapparates zu werden."

Woran kann es liegen, dass Menschen derart empfänglich für Verschwörungstheorien sind? Alper Baysan, ein junger Politikwissenschaftler aus Istanbul, hält die historische Präsenz westlicher Staaten in der Region für mitverantwortlich. Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein um zu sehen, dass besonders die USA in der Türkei immer wieder ihren Einfluss spielen lassen. Auch klar ist, dass jedes Land versucht von globalen Entwicklungen zu profitieren.

Als ich Otmar Höll, Professor für Internationale Politik an der Uni Wien, auf den vermeintlichen Masterplan ansprach, hörte er das erste Mal davon. Höll beschäftigt sich seit über drei Jahrzehnten mit internationaler Politik. Er runzelte die Stirn, überlegte kurz, lächelte und sagte dann: "Die Welt ist doch ein wenig komplizierter."

Ein Video mit "geheimen CIA-Material", das die angeblichen Karten des greater middle east projects zeigt.

Alle Fotos aus der VICE Berichterstattung zu den Protesten in der Türkei von Matern Boeselager.