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Angehörige erinnern sich an die Opfer der Scharfschützen auf dem Maidan

Wir haben mit Ukrainern gesprochen, die während der Aufstände Familienmitglieder verloren haben.

Der Platz der Unabhängigkeit in Kiew während der Euromaidan-Proteste (Foto von Konstantin Chernichkin)

Während der Euromaidan-Proteste wurden ungefähr 90 Menschen durch Scharfschützen getötet. Eine von der Übergangsregierung im Februar durchgeführte Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass die Berkut-Spezialeinheit der ukrainischen Polizei die Scharfschützenangriffe auf die Demonstranten ausgeführt hatte, woraufhin Anfang April 12 Beamte verhaftet wurden. Für die Freunde und Angehörigen der Opfer ist dies ein erster Schritt, um damit abschließen zu können.
 
Ich habe mit drei Ukrainern gesprochen, die durch die Angriffe der Scharfschützen Familienmitglieder verloren haben, und bat sie, sich an ihre geliebten Cousins, Väter und Ehemänner zu erinnern.

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Anatoliy Zhalovaga 

Anatoliy Zhalovaga, ein 33 Jahre alter Sportlehrer und Bauarbeiter aus Lemberg, wurde am 20. Februar durch einen Kopfschuss getötet, nachdem er gerade mal 24 Stunden bei den Protesten in Kiew dabei gewesen war. Sein Cousin, der 33 Jahre alte Eduard Zhalovaga, arbeitet seit 2009 in Großbritannien als Projektmanager für ein Pharmaunternehmen.
 
Er hatte sich einer Gruppe angeschlossen, die nach Kiew ging, da er aber seinen Ausweis nicht mitgebracht  hatte, musste er wieder umkehren. Er kam zurück nach Lemberg und reiste daraufhin mit anderen Männern erneut zu den Protesten in Kiew. Sein Bruder rief ihn an diesem Tag vormittags gegen 11 Uhr an und Anatoliy teilte ihm nur knapp mit, dass die Polizei und das Militär Wasserwerfer einsetzen würden. Dann lag er auf. Das war das Letzte, was seine Familie von ihm gehört hat.
 
Am nächsten Morgen bekamen sie die Nachricht, dass er einer der Demonstranten war, die getötet worden waren. Sie konnten es nicht glauben—er war erst 24 Stunden zuvor in Kiew angekommen.
 
Mein Vater rief mich an, weil ich in England lebe, und informierte mich über Anatoliys Tod. Es war sehr tragisch. Eine der Sachen, die es für mich besonders hart machte, war die Tatsache, dass wir fast im gleichen Alter waren—er war vielleicht sechs Monate älter als ich. Es war eine heftige Nachricht für mich—etwas, das mich erkennen lies, dass man Menschen und die Zeit, die man mit ihnen verbringt, wirklich schätzen sollte.
 
Man hatte ihm in den Kopf geschossen—ein Scharfschütze hatte ihm in Kopf geschossen. Bei der Beerdigung konnten sie sein Gesicht nicht zeigen, weil die Eltern es nicht verkraftet hätten.
 
Er war ein sehr positiver Mensch. Er lachte viel, er war patriotisch und als sich die Geschehnisse auf dem Euromaidan entfalteten, konnte er nicht einfach Zuhause bleiben und Nichts tun. Er hatte damals auch für ein paar Wochen bei der orangenen Revolution mitgemacht.
 
Wir wissen nicht, ob er durch illegale Munition umgebracht worden war, aber wir wissen, dass die Armee nicht involviert war, nur die Bereitschaftspolizei. Es war eine Spezialeinheit und sie arbeiteten mit dem Militär zusammen. Die Schützen selber waren aber von der Spezialeinheit der Bereitschaftspolizei.

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Alexandra Tochyn mit ihrem Vater, Roman

Alexandra Tochyn, 20, beschreibt den Tod ihres Vaters, Roman Tochyn. Roman wurde 43 Jahre alt und lebte in Chodoriw bei Lemberg. Er schloss sich am 1. Dezember den Protesten in Kiew an. Am 20. Dezember wurde er erschossen.
 
Mein Vater war sehr erzürnt, weil viel Studenten und junge Menschen unter der Berkut [Spezialeinheit] litten. Er mochte keine unehrlichen Menschen und unsere Regierung war nicht ehrlich. In unserem Land fühlen sich die Menschen nicht sicher—viele von ihnen wandern aus, um woanders ihr Glück zu versuchen, aber mein Vater wollte, dass seine Kinder zusammen mit ihren Eltern in ihrem Heimatland studieren, arbeiten und leben.
 
Ich war in einem Schockzustand und konnte es einfach nicht glauben, als ich hörte, dass mein Vater getötet worden war. Er war die wichtigste Person in meinem Leben und ich liebte ihn. Er war für mich ein Vorbild. Ich erinnere mich, wie ich auf den Maidan ging, um meinen Vater zu unterstützen. Sein lächeln und den Klang seiner Stimme habe ich noch deutlich vor mir—er war froh, mich zu sehen, und er war dankbar, dass ich gekommen war, um ihn zu unterstützen. Die letzten Worte, die ich zu ihm sagte, waren: „Vater, ich glaube an dich und an eine unabhängige Ukraine. Ich bete jeden Tag dafür. Zusammen sind wir stark!“
 
Am Morgen des 20. Dezember, so gegen 8 Uhr, sprach meine Mutter mit ihm am Telefon. Er sagte ihr, dass alles OK sei, er jetzt aber gerade nicht viel Zeit habe, sich zu unterhalten. Ich rief ihn selber gegen 10 Uhr an, aber er nahm nicht ab.
 
Ich fand später heraus, dass er von einem Scharfschützen in der Instytutska-Straße getötet worden war. Er verteidigte dort eine Barrikade, aber an diesem Tag wagten sich er und seine Freunde nach Vorne. Er und einige andere wurden getötet. Sie brachten ihn noch ins Krankenhaus, man konnte aber nichts mehr für ihn machen.
 
Mein Vater vergoss sein Blut für sein Heimatland und für die Unabhängigkeit. Er stand für Freiheit ein. Er riskierte sein Leben und hatte keine Angst vor dem Tod. Mein Vater ist ein Held.

Tetyana Bondarchuk und ihr Ehemann Serhiy

Tetyana Bondarchuk, eine 53 Jahre alte Lehrerin aus Starokostjantyniw im Westen der Ukraine, verlor am 20. Februar diesen Jahres ihren Ehemann Serhiy Bondarchuk durch die Schüsse eines Scharschützen.
 
Es war die persönliche Überzeugung meines Mannes, nach Kiew zu gehen, egal was kommen wolle. Weil er Mitglied der Swoboda-Partei war, fühlte er, dass er sich nicht einfach neutral verhalten konnte und dass es seine Pflicht war, an den Protesten teilzunehmen. Er unterstützte die Proteste gegen das kriminelle Regime von Janukowytsch und sah es als seine Pflicht an, dabei zu sein. Ich verstand das und unterstütze ihn dabei. Ich sah ihn zum letzten Mal am 19. Februar als er sich auf den Weg zum Maidan machte.
 
Ich wäre auch gerne gegangen, aber er konnte mich nicht mitnehmen. Als er sich aufmachte, rief er noch seinen Abgeordneten an und fragte, ob ich mit ihm reisen dürfte, aber dieser sagte: „Auf keinen Fall—Nur Männer sollten dorthin gehen.“ Ich wünschte, ich wäre mit ihm gegangen. Seine Gruppe wurde mehrere Male auf dem Weg nach Kiew aufgehalten und die Polizei versuchte, sie zur Umkehr zu zwingen, aber letztendlich schafften sie es doch in die Hauptstadt.
 
Als sie angekommen waren, rief er mich an und sagte: „Ich bin sehr sicher hier—mach dir keine Sorgen.“
 
Am 20. Februar bekam ich um 7 Uhr morgens einen weiteren Anruf von ihm, in dem er mir mitteilte, dass es ihm gut geht. Er sagte, dass er sehr vorsichtig sei und dass die anderen noch schlafen würden, er jetzt aber schon wach sei. Der 20. war als Waffenruhe zwischen den Demonstranten und der Regierung angekündigt worden. Er sagte, dass schon alles gut gehen wird.
 
Ich unterrichtete an dem Tag in der Schule und bekam so nicht mit, dass mein Telefon die ganzen Schulstunden hindurch vibrierte—ich hatte viele Anrufe in Abwesenheit von meinem Sohn. Ich rief ihn also zurück und er sagte mir, dass er seinen Vater nicht erreichen könne, stattdessen aber eine komische Person sein Telefon abnimmt, der er nicht trauen würde. Er meinte, dass das Handy vielleicht gestohlen worden war.
 
Der Schuldirektor versuchte daraufhin, ebenfalls das Telefon meines Mannes anzurufen. Ein Polizist nahm ab und sagte, dass er nur mit der Serhiys Frau reden könne. Als ich dann mit dem Polizisten sprach, sagte er mir, dass mein Mann gestorben war und dass sein Körper zu einem Checkpoint der Polizei gebracht worden war.
 
Ich hörte später, dass man noch versucht hatte, ihn im Erste-Hilfe-Zelt auf dem Maidan zu retten. Die Geschosse, die man seinem Körper entnahm, hatten die Nummer 762 eingraviert, was bedeutete, dass es sich um Militärmunition handelte, die die Polizei nicht verwenden darf. Seine inneren Organe waren sehr schwer verletzte und er hatte keine Chance zu überleben.
 
Ich kann immer noch nicht glauben, dass er nicht mehr lebt und dass er niemals zurückkommen wird. Er war ein sehr guter Ehemann und wir waren eine glückliche Familie. Er wurde durch diese illegale Militärmunition verwundet, als er versucht hatte, andere Verletzte aus der Kampfzone am Maidan in Sicherheit zu bringen. Er starb also dabei, als er anderen half und rettete. Er hatte keine Waffen bei seich, keinen Helm oder eine schusssichere Weste. Er war komplett unbewaffnet.
 
Am 13. April ging ich nach Kiew an den Ort, an dem er umgebracht worden war. Als ich dort stand, fragte mich ein Mann, ob ich seine Ehefrau bin, und erzählte mir dann, dass mein Mann ihm das Leben gerettet hatte und er sehr dankbar dafür war. Er konnte damals seine Beine nicht mehr bewegen, aber mein Mann rettete ihn und zog ihn aus der Gefahrenzone. Dann kehrte er zurück, um anderen zu helfen, und wurde erschossen.
 
Seit wir uns in der Universität kennengelernt hatten, waren wir ein Par. Er war ein erfolgreicher Mensch, dem einfach alles gelang, was er anpackte. 2013 gewann er eine örtliche Auszeichnung als Lehrer des Jahres im Fachbereich Physik. Er war auch Mitglied im Stadtrat und dem örtlichen Bildungsausschuss.
 
Ich wünsche Niemandem, das durchmachen zu müssen, was ich erlitten habe. Ich wünsche Niemandem, so leiden zu müssen, wie ich es gerade tue. Ich will, dass die Ukraine unabhängig, frei und demokratisch wird, und ein glücklicher und demokratischer Ort bleibt. Ich will eine europäische Zukunft für alle Ukrainer.