FYI.

This story is over 5 years old.

News

Die moderne Vagabundin

Heidemarie Schwermer hat all ihr Geld verschenkt, 11 Jahre lang willentlich keinen einzigen Pfennig besessen und es geht ihr besser als uns.

Wer kennt nicht das flaue Gefühl in der Magengegend, das aufkommt, wenn man sich Sonntags daran zu erinnern versucht, wie oft man seine Bankkarte in der letzten Nacht in einen Automaten geschoben hat.

Finanzkrise wohin man nur blickt. Als ich gelesen habe, dass immer mehr deutsche Millionäre eine Steuerhöhung auf ihr eigenes Einkommen fordern, dachte ich erst: Wollen die mich verarschen? Danach musste ich an den Spruch mit den Ratten und dem sinkenden Schiff denken. Die Vorstellung, dass ein Staat pleite geht, ist ziemlich abstrakt, doch wenn es dazu kommt, brennen die Straßen. Das liegt daran, dass Geld mindestens genauso abhängig macht wie harte Drogen, hast du genug zum Verpulvern, wähnst du dich in Sicherheit. Aber wehe dir gehen „die Mittel“ aus, dann kommt der Entzug und ich meine den Flattermann, der dir sagt, dass du deine Grundbedürfnisse erfüllen musst: essen, trinken, kacken, Bier trinken. OK, ein Haus braucht man nicht zwingend, man kann sogar ohne Wohnung überleben. Aber die Lebensqualität, standardisiert nach uns selbst auferlegten Normen, leidet Höllenqualen, oder? Heidemarie Schwermer geht einen ganz anderen Weg. Sie ist 58 Jahre alt, ohne festen Wohnsitz und hat 11 Jahre lang keinen einzigen Pfennig besessen–OK, mittlerweile macht sie kleine Ausnahmen, aber wirklich nur ganz kleine. Irgendwann hatte sie genug von dem ganzen Materialismus, den ungleichen Verhältnissen und der Ungerechtigkeit auf der Welt. Kurzerhand verschenkte sie ihren ganzen Besitz, kündigte ihre Wohnung und zahlt ihre Rente in Höhe von 700 Euro an Verwandte aus, die „es besser gebrauchen können“. Sie lebt nach dem Tauschprinzip und scheint damit ziemlich glücklich zu sein. Ständig unterwegs, wechselt sie ihre Unterkünfte im Wochentakt. Im Moment lebt sie bei einer Familie in der Nähe von Wilhelmshaven, passt auf das Haus auf und schreibt an ihrem nächsten Buch. Gestern habe ich Heidemarie angerufen und sie gefragt, ob sie manchmal einsam ist und wie genau sie es damit nimmt, kein Geld zu besitzen.

Anzeige

VICE: Hallo Frau Schwermer, geben Sie wirklich keinen Cent aus?
Heidemarie Schwermer: Ach Gott, ich bin ja gar nicht mehr so ganz konsequent, ich hab schon manchmal Geld in der Hand, nicht für mein tägliches Allerlei, aber ab und zu. Elf Jahre hab ich keinen Pfennig angefasst, aber neulich brauchte ich unbedingt Briefmarken, ich bin nicht mehr so ganz ganz konsequent.

Woher kam der Wandel? Wie sind Sie von der absoluten Konsequenz zu den Ausnahmen gekommen?
Ich hab mir selber gesagt, dass ich der Welt bewiesen habe, dass es wirklich möglich ist, ganz und gar ohne Geld leben zu können und ich weiß auch, wo ich immer alles herkriegen könnte. Aber mittlerweile hab ich manchmal Lust, einfach zu sagen, so jetzt ist es anders.

Spontan auf ein Konzert zu gehen, ging in Zeiten absoluter Geldverweigerung nun nicht, oder?
Wenn ich mir z.B. gedacht hätte: Heute Abend will ich auf ein Konzert gehen, hätte das auch geklappt, weil ich mir diese ganzen Dinge ja wünschen kann. Gut, da bin ich jetzt vorsichtig, über solche Dinge rede ich ja nicht mehr so oft, aber wenn ich irgendwas brauchte, hab ich das in den Kosmos gegeben und dann kam jemand: „Du, ich hab da so 'ne Karte, aber ich kann absolut nicht hingehen." Aber ich will nicht in die Ecke „Spinner" gedrängt werden.

Hängt das nicht vielleicht damit zusammen, wie man auf Menschen wirkt und welchen Kontaktkreis man pflegt, das muss doch nicht unbedingt übernatürlich sein?
Das könnte natürlich auch sein. Aber wenn ich z.B. Hunger hatte und irgendwo saß und unbedingt was haben wollte, meine Lieblingsschokolade oder so, dann lag da plötzlich eine Tüte neben mir und da war eben die Schokolade drin. Solche Sachen passierten ganz oft.

Anzeige

Das müssen sie mir erklären, wo ist die Tüte denn hergekommen?
Hm, das weiß ich nicht. Die lag dann schon da, ich hab sie plötzlich gesehen und da war das eben drin. Vor allem mit Essen ist mir das ganz oft passiert.

Es scheint fast so, als hätten sie ihren inneren Frieden und ihre Freiheit gefunden, was ist Freiheit für Sie?
Das Leben, das ich habe, ist viel spannender als vorher. Meinen inneren Frieden habe ich einfach, der entwickelt sich auch immer weiter. Ich muss dem Geld nicht hinterherjagen, ich muss nicht überlegen, mach ich das, oder das, in meinem Leben fließt alles. Alles ist ja in unserer Gesellschaft vom Geld abhängig, aber ich hab halt ausgekuckt, wie man es ohne Geld macht, indem man z.B. mehr aufeinander zugeht, miteinander teilt, das ist für mich Freiheit. Mir geht's ja nicht nur um mein eigenes Leben, in der Welt sieht es ja wahnsinnig schlimm aus, dabei ist genug für alle da. Studien beweisen, dass die Bevölkerung sich auch bei weiterem Wachstum ernähren könnte. Es ist einfach ein Verteilungsproblem.

Sie sind gerade als Haushüterin unterwegs, was machen Sie dort im Moment?
Eigentlich bleibe ich nicht so lange an einem Ort, aber ich wollte mal wieder schreiben und brauche meine Ruhe. Die Leute, denen das Haus gehört, sind für drei Monate segeln. Das kommt mir sehr gelegen, um mein drittes Buch zu schreiben, es handelt davon, wie wir zueinander in Vertrauen kommen können. Ein bisschen autobiografisch, aber eher in Romanform.

Anzeige

Wir haben eben über spirituelle Dinge gesprochen, woran glauben Sie?
Ich glaube, dass wir alle aus einer göttlichen Quelle stammen, ich bin auch Christin, aber schon ein bisschen variierter. Mir ist es wichtig, dass sich die Menschen wegen ihres Glaubens nicht mehr die Köpfe einhauen. Wir gehören alle zusammen, egal ob wir schwarz, weiß oder rot sind. Wir sollten ohne Konkurrenz leben und dürfen uns nicht bekriegen, da wäre eine ganz andere Welt möglich. Ich hab einen „Gib-und-Nimm-Aufkleber" entwickelt, wenn man ihn zum Beispiel auf sein Auto klebt, signalisiert man, dass man gewillt ist, es zu teilen, man kann ihn aber auch in allen anderen Bereichen anwenden.

Haben sie einen festen Wohnsitz?
Nein. Ich bin immer unterwegs, eigentlich maximal eine Woche.

Haben sie einen Weggefährten/Partner?
Immer mal wieder, das wechselt.

Fühlen sie sich nie einsam?
Nie, ich bin ja selten allein. Da ich immer unterwegs bin, treffe ich auf ganz viele Menschen.

Sie haben eine psychotherapeutische Praxis aufgemacht, um Menschen zu helfen. Haben Sie dem Geld entsagt, um sich selbst zu helfen?
Ich hab mich einfach gefragt, wofür das Ganze. Warum muss man Steuerklärungen machen, warum kann man sie nicht einfach weglassen? Ohne Geld lässt es sich viel angenehmer leben.

Es gibt soviel Egoismus und Sie leben in Abhängigkeit von anderen Menschen, macht ihnen das manchmal angst?
Natürlich lebe ich in Abhängigkeit, das weiß ich auch. Als ich angefangen habe, auf das Haus, in dem ich gerade lebe, aufzupassen, kam natürlich schnell der Gedanke: Wie kriege ich den Kühlschrank voll.

Und, wie machen Sie das?
Ich arbeite fünf Stunden die Woche bei einer Tafel für Bedürftige, dafür darf ich mich dann mit Lebensmitteln eindecken.

Sie schreiben, dass man als Haushüter maximal zwei Monate bleiben sollte und jederzeit gehen kann. Sind Sie schon mal rausgeflogen?
Ich bin tatsächlich schon mal rausgeflogen, und zwar bevor ich überhaupt angekommen bin. Ich stand vor der Tür und meine Gastgeberin hat gesagt, dass sie mich nicht aushalten könnte - ich musste sie dann trösten.

Woran, glauben Sie, lag das?
Ich weiß nicht genau, sie konnte anscheinend meine Energie nicht aushalten. Jeder hat ja Störungen, ich versuche, meine loszuwerden und mich jeden Tag neu auszurichten, daran arbeite ich und das sorgt natürlich auch für innere Freiheit.