Ich habe mein Hirn zum luziden Träumen gezwungen—mit Pillen aus dem Internet
Dream Leaf | Flickr | CC BY-SA 2.0

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Ich habe mein Hirn zum luziden Träumen gezwungen—mit Pillen aus dem Internet

Dream Leaf behauptet, das „weltweit fortschrittlichste Nahrungsergänzungsmittel für luzide Träume“ zu sein. Es funktioniert.

Dream Leaf ist ein Nahrungsergänzungsmittel, durch das ihr euch laut Hersteller angeblich besser an eure Träume erinnern und luzid träumen werdet—und es sieht aus, als käme es direkt vom Matrix-Set. In dem schwarzen Behälter sind je 30 rote und blaue Pillen sowie eine detaillierte Anleitung zur Einnahme. Auf Dream Leafs Website wird das Produkt als „weltweit fortschrittlichstes Nahrungsergänzungsmittel für luzide Träume" angepriesen.

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Da ich in der Vergangenheit bereits mit luzidem Träumen experimentiert hatte (ohne besonderen Erfolg), war ich neugierig. Unter luzidem Träumen versteht man das Phänomen, während des Träumens zu realisieren, dass man träumt, den Traum aber kontrollieren und steuern zu können. Da Berichte über diese Erfahrung meist subjektiv sind und von Menschen stammen, die sich sowieso gut an ihre Träume erinnern können, tun einige Wissenschaftler luzide Träume als nichtig ab.

Bisher hatte ich es nur ein einziges Mal geschafft, luzid zu träumen: Ich wurde mir bewusst, dass ich träumte, als ich im Traum gerade an einer Klippe stand. Von da an übernahm ich die Regie in meinem Traum und flog umher. Als ich aufwachte, war ich richtig gut drauf und aufgeregt wie ein kleines Kind. Dream Leaf versprach genau diese Wirkung auf günstige und schnelle Weise.

Die blauen Pillen enthalten 5-Hydroxytryptophan (auch 5-HTP genannt), eine Aminosäure, die häufig rezeptfrei als Antidepressivum verkauft wird, und Beifuß. Laut den Informationen des Herstellers auf der Website hat das Kraut eine beruhigende Wirkung und hilft beim Einschlafen. 5-HTP hingegen sei für eine „REM-Dauerschleife" verantwortlich. Das bedeutet, dass die Dauer des REM-Schlafs, also der Schlafphase, in der wir träumen, verlängert wird, was wiederum die Wahrscheinlichkeit eines luziden Traums erhöht.

Die roten Pillen enthalten Huperzin A, ein Kraut, das es dem Nutzer angeblich ermöglicht, auf seine Erinnerungen zuzugreifen; Alpha GPC, einen natürlichen Wirkstoff, der auch im Gehirn vorkommt und laut Dream Leaf „rationales Denken während des REM-Schlafs fördert"; und Cholin, einem Stoff, der am häufigsten in B-Vitaminen enthalten ist und laut Hersteller „der wirksamste Inhaltsstoff ist, um sich gut an seine Träume erinnern zu können."

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Hinter Dream Leaf stecken die beiden Brüder Alex und Connor Southworth. Sie beschreiben sich selbst als „Traumforscher". Und sie scheinen ihre Hausaufgaben gemacht zu haben—mein Interesse hatten sie mit ihren Versprechungen auf jeden Fall geweckt. Würden mir ein paar Pillen tatsächlich dabei helfen, besser, klarer und kontrollierter zu träumen? Ich bestellte eine Packung mit 60 Pillen—die Ration für einen ganzen Monat—für 30 Dollar. Nach einigen Wochen kam die Lieferung aus Salt Lake City, dem Sitz des Unternehmens, bei mir an. Die Inhaltsstoffe der Pillen sind als Nahrungsergänzungsmittel sowohl in den USA als auch in England legal, daher gab es mit der Bestellung keinerlei Probleme.

Was die Einnahme der Pillen angeht, ist diese äußerst detailliert beschrieben. Ich konnte zwischen zwei Optionen wählen: Entweder sollte ich eine blaue Pille direkt vor dem Schlafengehen nehmen und meinen Wecker auf vier Stunden später stellen, um aufzuwachen und dann die rote Pille zu schlucken. Und es gab die Variante für diejenigen, die einen eher leichten Schlaf haben: Drei Stunden vor dem Schlafengehen direkt eine rote Pille einnehmen und am nächsten Tag direkt vor dem Schlafengehen eine blaue (immer in diesem Wechsel). Da mein Freund nicht gerade begeistert von der Idee war, jede Nacht um 3 Uhr geweckt zu werden, entschied ich mich also für Option Nummer zwei.

Nachdem ich die Pillen die ersten paar Tage eingenommen hatte, stellte ich fest, dass mein Schlaf sich auf beunruhigende Weise verändert hatte. Normalerweise sind meine Träume recht lebendig, und ich erinnere mich nach dem Aufwachen fast immer sehr genau an sie. Nachdem ich aber nun begonnen hatte, Dream Leaf zu nehmen, wachte ich auf und konnte mich an kaum etwas erinnern, so als hätte ich rein gar nichts geträumt. Ich war ziemlich versucht, mein Selbstexperiment sofort zu beenden, doch dann dachte ich mir, dass eine so große Veränderung wohl auch bedeuten würde, dass irgendetwas in meinem Gehirn vorgeht.

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In den darauffolgenden Nächten kehrten meine Träume zurück, sie waren aber verwirrender als je zuvor. In der anschließenden Woche drehten sich meine Träume um banale, alltägliche Dinge, die ich auch im realen Leben gemacht hätte, als wolle mein Gehirn mich testen, ob ich zwischen Traum und Realität unterscheiden kann. Einmal träumte ich, dass meine Mutter mich angerufen und gebeten hatte, dringend zurückzurufen; als ich das dann (um 7 Uhr morgens) tat, hatte sie keine Ahnung, wovon ich sprach. Eines Nachts träumte ich, dass ich im Bad das Wasser hatte laufen lassen. Ich sprang also aus dem Bett und rannte ins Bad, fest überzeugt davon, dass dort ein Wasserschaden auf mich wartet, der uns um unsere Kaution bringen wird. Doch alles war in bester Ordnung.

Schließlich gewöhnte ich mich daran, ließ meine Träume morgens vorsichtiger Revue passieren und überlegte zuerst, ob es vielleicht Parallelen zum vergangenen Tag gab. Langsam wurde mir also bewusst, dass es tatsächlich nur Träume waren. Sobald ich das kapiert hatte, veränderten sich meine Träume erneut. Zwei Wochen nach dem Beginn meines Experiments mit Dream Leaf passierte es plötzlich: mein erster durch Nahrungsergänzungsmittel herbeigeführter luzider Traum.

Ich träumte, ich hätte aus Versehen einen Freund versetzt, mit dem ich mich im Kino treffen wollte. Ich hatte es aber total vergessen und war mit meinen Kollegen etwas trinken gegangen. Dieses Detail kam direkt aus meinem echten Leben—ich hatte tatsächlich vor, diese Woche ins Kino zu gehen. Als mein Traum-Ich Panik schob und meinen Freund anrief, um sich zu entschuldigen, stellte ich fest, dass irgendetwas mit der Straße, auf der ich stand, nicht ganz stimmte; manche Gebäude gehörten zu der Straße, in der ich arbeite, andere wiederum zu der Straße, in der ich wohne. Ich realisierte, dass ich gerade träumte und dachte gleichzeitig an Dream Leaf, meine vorherigen Nächte voller wirrer Träume und meine jahrelang zurückliegenden Versuche, luzid zu träumen. Es war eine total merkwürdige Erfahrung à la Inception, in der sich mein echtes Leben, Träume und Erinnerungen auf eine Art und Weise überlagerten, die ich zuvor noch nie erlebt hatte. Als ich feststellte, dass ich träumte, begann ich mit meiner Lieblingsbeschäftigung in Träumen—dem Fliegen. Es dauerte jedoch nur einige wenige Sekunden, und ich war wieder wach.

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„Es ist wie beim Aufbau eines Möbelstücks: Man kann das Zusammenbauen beschleunigen, indem man einen Akkubohrer benutzt, doch wenn man gleichzeitig die Anleitung beiseite legt, weiß man nicht, was am Ende dabei herauskommt."

Ich war nicht annähernd so aufgeregt wie beim ersten Mal, als ich ohne die Hilfe der Pillen luzid geträumt hatte. Komischerweise fühlte ich mich wie ein Betrüger. Ich kontaktierte also Ian Wallace, einen Psychologen, der seinen Patienten dabei hilft, ihre Träume zu verstehen. Dank der Berichte einiger seiner Patienten, die das Produkt eingenommen haben, weiß er über die Existenz von Stoffen wie Dream Leaf nur allzu gut Bescheid. Er betrachtet solche Nahrungsergänzungsmittel aber mit großer Skepsis. „Ich finde es generell nicht gut, wenn man versucht, seine eigene Gehirnchemie zu verändern", sagte er. „Das Gehirn ist ein unglaublich komplexes System, und egal was man nimmt, es hat immer auch einen Dominoeffekt. Wenn man bereits Medikamente einnimmt, ist es keine gute Idee, parallel dazu Hydrotryptophan anzuwenden. Ein Problem ist, dass durch die Einnahme von solchen Nahrungsergänzungsmitteln das natürliche luzide Träumen verhindert werden kann."

Jared Zeizel, Autor des Buchs A Field Guide To Lucid Dreaming: Mastering the Art of Oneironautics, einer Art Einführung in das luzide Träumen, hat in der Vergangenheit bereits mit Nahrungsergänzungsmitteln experimentiert, die ihm luzides Träumen ermöglichen sollten. Doch er stimmt zu, dass es nicht so einfach ist, nur mit Hilfe bestimmter Pillen seine Träume zu kontrollieren. „Es gibt keine Abkürzung, um luzide Träume zu haben", sagte er mir. „Manche Leute haben Glück und träumen einfach so ganz klar. Doch wenn man es mit Absicht versucht, und dann noch mit Hilfe von Nahrungsergänzungsmitteln, trickst man seine eigenen Fähigkeiten nur aus. Es ist wie beim Aufbau eines Möbelstücks: Man kann das Zusammenbauen beschleunigen, indem man einen Akkubohrer benutzt, doch wenn man gleichzeitig die Anleitung beiseite legt, weiß man nicht, was am Ende dabei herauskommt."

Als ich Wallace über meine Erfahrung mit Dream Leaf berichtete, erklärte er mir, dass schon alleine der Vorgang der Pillen-Einnahme eine größere Auswirkung auf mich gehabt haben könnte, als die Inhaltsstoffe selbst—ein bisschen wie ein Placebo-Effekt. „Es ist wie ein Ritual", fügte er hinzu—und dass jedes Ritual rund ums Schlafen die Schlafqualität verbessern könne.

Wallace und Zeizel sind beide der festen Überzeugung, dass man nur durch den langsamen Prozess des Versuchens und Scheiterns zum luziden Träumer werden kann. Es stimmt, dass der Versuch, meine Träume zu sabotieren und direkt zu dem Punkt zu gelangen, ab dem ich luzid träumen kann, mir ein mulmiges Gefühl verlieh. Den ganzen Tag über versuchen wir, möglichst viel Zeit zu sparen—Fertiggerichte, Fitness-Apps, etc. Doch eine schnelle Lösung rund ums luzide Träumen gibt es wohl nicht.