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DIE WALL STREET ISSUE

Insidergeschäfte sind ziemlich einfach

Ich habe sie gemacht, dann kannst du das auch.

Ich arbeitete schon seit gut einem Jahr als Trader für einen Hedgefonds. Eines Tages war ich allein im Büro, als ein externer Anruf reinkam. „Galleon", sagte ich nach einmaligem Klingeln. Die Stimme in der Leitung klang gedämpft. „Galleon", wiederholte ich, und diesmal vernahm ich ein kaum Hörbares: „Ist Gary da?"

„Nein", antwortete ich. „Er ist nicht im Büro." Es vergingen ein paar stille Augenblicke.

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Ich wollte gerade auflegen, als die flüsternde Stimme erneut erklang: „Ist Raj da?"

„Tut mir leid", entgegnete ich. „Er ist nicht an seinem Schreibtisch—kann ich vielleicht helfen?"

Ich konnte ihn atmen hören. Die Stimme ließ mich an einen Trenchcoat und eine Telefonzelle denken. Äußerst mysteriös.

Schließlich wurde die Stimme des Flüsterers ein wenig deutlicher. „Jefferies wird in sechs Minuten das Rating für Amazon anheben", sagte er. Dann hörte ich ein Klicken, und weg war er. Ich hatte weder einen Namen noch eine Nummer und nicht die leiseste Ahnung, ob diese Information korrekt war. Ich sah auf die Uhr meines Computers. Es war 12 Uhr 59. Ich wusste nicht, wem ich das erzählen sollte und ob überhaupt. Der Flüsterer könnte genauso gut irgendein Verrückter sei. Vielleicht war es auch einer der makaberen Witze meines Chefs. Ich sah auf die Uhr. Punkt eins. Die Gedanken begannen in meinem Kopf zu kreisen. Ich könnte ja nur ein paar Amazon-Aktien kaufen. Aber im nächsten Moment entschied ich mich dagegen. Wer ruft am helllichten Tag an und verhält sich, als käme er direkt aus einem russischen Agentenroman? Auf meiner Computeruhr vergingen die Minuten wie Sekunden. 1:02 Uhr. Würde ich keine Amazon-Aktien kaufen und er hatte doch Recht, würde der Flüsterer dann später Raj oder Gary anrufen, um sich ein Schulterklopfen abzuholen? Scheiße. 1:03 Uhr. Zwei Minuten, um zu entscheiden. 1:04. Scheiß drauf. Ich kaufte 100.000 Amazon-Aktien, stieß mich mit dem Stuhl vom Schreibtisch ab und hoffte, der Flüsterer würde Recht behalten.

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Um genau 1:05 Uhr begannen die Amazon-Aktien zu steigen. Zunächst um rasante 50 Cent und dann, Sekunden später, um 2 Dollar. Während ich verfolgte, wie die Aktien weiterstiegen, beschlich mich der Gedanke, ich könnte etwas Illegales getan haben. Aber nur für einen kurzen Moment. Jeden Tag bekomme ich von meinen Chefs eingetrichtert, dass ich die Nase vorn haben muss. Das ist es sicher, was sie damit gemeint haben. Von da an versuchte ich, möglichst jeden externen Anruf anzunehmen. Ich wollte den Flüsterer sprechen. Die Aktien waren um 5 Dollar gestiegen.

Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal bei Rot über die Straße gegangen bin, aber es muss Anfang der 1970er Jahre irgendwo in Cleveland gewesen sein. Ich bin sicher. Ich weiß, was ihr denkt: Der Witzbold will uns hier weismachen, Insiderhandel sei vergleichbar damit, bei Rot über die Ampel zu gehen. Aber fest steht, dass 1994, als ich an der Wall Street anfing, Insidergeschäfte genauso normal waren, wie bei Rot über die Straße zu gehen. Innerhalb von zwei Jahren stieg ich von einem 40.000-Dollar-Jahreseinkommen als Sales Assistant bei Morgan Stanley zu einem 300.000-Dollar-Jahreseinkommen als Chefhändler der Galleon Gruppe auf, zuständig für einen Milliarden-Dollar-Fonds. Alles nur, weil ich die Nase vorn hatte. So lief das damals, und wahrscheinlich läuft es heute auch noch so. Ich weiß nicht, ob ich bei der Galleon Gruppe hätte bleiben können, wenn ich nicht versucht hätte, immer ganz vorn mitzuspielen. Doch im August 2000 veränderte sich mein Spielfeld. Die Wertpapier- und Börsenaufsichtsbehörde führte die Vorschrift FD ein—danach müssen börsennotierte Unternehmen wesentliche

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Informationen an alle Investoren gleichzeitig geben. Das änderte sich nicht über Nacht. Es dauerte Jahre, bis sich Unternehmen und Investoren daran hielten.

Aber irgendwo mussten wir die Informationen ja herbekommen. In der Wall Street beobachteten wir auf einmal die Bildung von „Expertennetzwerken". Sagen wir, eine alte Pfizer-Quelle wollte uns nicht mehr sagen, was los war. Dann gelang es uns womöglich, einen Arzt oder Anwalt aufzutreiben, der sich mit Pfizer auskannte. Diese erhielten dann ein Beraterhonorar wie all die anderen Experten, die wir anheuerten, um ein Unternehmen oder eine Branche besser zu verstehen. Diese Information konnten wir dann nutzen, um eine Handelsstrategie auszuarbeiten. Es war im Grunde das gleiche Spiel, das sich seit jeher in jedem amerikanischen Country Club und auch sonst überall auf der Welt abspielt. Eine weitere wichtige Quelle für Insidertipps liegt innerhalb der Mauern der Wall Street. Börsenbeobachter wissen von Upgrades, bevor sie öffentlich werden, Banker arbeiten an Deals, bevor sie verkündet werden, und Händler sehen massive Aufträge rein- und rausgehen. Da spielt natürlich nicht jeder mit, aber es ist auch nicht so, als wäre das noch nie vorgekommen.

Mit Sätzen wie „Wir werden in zehn Minuten die Ratings für XYZ erhöhen" oder „Wir müssen vor Börsenschluss sieben Millionen XYZ-Aktien von unserem Programmhandel kaufen" fühlt man sich wohl kaum wie Charlie Sheen, der als Hausmeister verkleidet Akten aus einer Anwaltskanzlei mitgehen lässt. Es ist einfach nur ein großartiger Anruf—man hat halt den richtigen Riecher gehabt. Und das Resultat sind eine Reihe von Faustknuffen und vielleicht noch ein Grinsen von deinem Depotverwalter—und mehr Geld. Der Kerl am anderen Ende der Leitung bekommt mehr Aufträge, mehr Provisionen und ein paar goldene Sternchen neben seinen Namen.

Es geht aber auch über die persönliche Schiene. Ich weiß noch, wie ich Anfang 2000 einmal in Chelsea im Marquee war: Der Club war brechend voll, doch im VIP-Bereich war es angenehm. Hier mischte sich die Hedgefonds-Mafia mit ein paar Dot.com-Clowns. Mir gegenüber saß Lance. Er war wie ich Hedgefonds-Händler und hatte Beziehungen zu Analysten wie Avalon. Bevor sie vernichtende Studien über ein Unternehmen herausbrachten, bekam Lance stets ein Zwinkern oder Nicken. In der Ecke saß Michael—er war auf der Verkäuferseite und immer gut für eine Vorwarnung in Sachen Upgrades oder Downgrades seiner Firma. Neben ihm saß Pesto, sein Kunde, der donnerstags schon wusste, was am Samstag auf der Titelseite des Barron's stand. Ein paar Tische weiter saßen ein paar Banker, die über eine bevorstehende Übernahme informiert waren. Dann war da ein Kerl, der versuchte, in den VIP-Bereich vorzudringen, ein Franzose von UBS; Lance erzählte mir, er hätte deren komplette Programmhandelbewegungen durchsickern lassen. Das nennen ich einen netten Anruf. Wenn du weißt, dass S&P-Aktien im Wert von 1 Milliarde Dollar auf den Markt kommen, dann mach dich bereit. Der VIP-Gastgeber wollte ihn nicht reinlassen, also ging ich rüber und sagte: „Er gehört zu mir." Der Franzose grinste und gab mir die Hand. Normalerweise teile ich mein Kokain nicht gern, aber bei ihm machte ich eine Ausnahme. Mit dem Geschick eines Taschendiebs ließ ich die kleine Tüte von meiner Tasche in seine Hand gleiten. „Wir sollten reden", sagte ich.

Eines der vielen Dinge, die ich während meiner Tätigkeit für die Galleon Gruppe gelernt habe, war, mich nicht erwischen zu lassen. Wer tricksen will, muss ein paar einfache Regeln beachten:
• Hinterlasse immer eine Papierspur—z. B. E-Mails, in denen du auf die Idee zu dem Deal kommst, aus welchen Gründen auch immer, ausgenommen natürlich die Insider-Info.
• Kauf mehr, als du willst, und dann stoße vor der Ankündigung wieder etwas ab. Das deutet auf eine Fehleinschätzung. Hättest du davon gewusst, warum hättest du wieder verkaufen sollen?
• Mach nichts schriftlich. Mach alles telefonisch (wobei sich das gerade ändert).
• Finde heraus, welche Aktien von den Neuigkeiten profitieren werden—und steig groß ein. Wenn deine Info von Exxon kommt, Exxon-Zulieferer aber auch etwas davon haben, steig bei ihnen groß ein.
• Rechne mit einem Anruf der Börsen­aufsichtsbehörde. Stell dich doof, aber hab eine Geschichte parat.
• Belohne deinen Informanten großzügig.

So ist das, wenn du bei Rot über die Straße gehst. Die Chancen, dass du einen Strafzettel bekommst und Bußgeld bezahlen musst, sind ziemlich gering: Nicht darin besteht das Risiko. Selbst wenn du erwischt wirst, wird man dich wahrscheinlich nur ermahnen, es nicht wieder zu tun. Das wirkliche Risiko besteht darin, von einem Laster überfahren zu werden. Und in den letzten fünf Jahren hat dieses Risiko dramatisch zugenommen. Es beginnt mit einem Klopfen an der Tür, während du die Kinder für die Schule fertig machst. Oder dir tippt jemand auf die Schulter, während du bei Starbucks in der Schlange stehst; die Polizei wird alles wissen wollen. Und auch wenn du nicht ins Gefängnis gehst, dein Lebenslauf wird kaum mehr das Papier wert sein, aus dem man einen Flieger basteln könnte. Wenige Monate, bevor die Anklageschriften herauskamen, verließ Gary Galleon. Heute bestreitet er Amateur-Rodeos in Texas. Raj sitzt in Massachusetts im Gefängnis. Wenn du also immer noch bei Rot die Straße überqueren möchtest, immer schön nach links und nach rechts schauen.

Illustrationen von Thomas Pitilli