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Buhrufe und Freudentaumel: Auch im Fußball offenbart sich die Spaltung der Türkei

Erst unterbrachen Pfiffe die Gedenkminute für die Opfer des Anschlags in Ankara, anschließend feierte das ganze Land die geglückte EM-Qualifikation. Die Türkei ist gespalten, das kann auch der Fußball nicht verbergen.
Foto: imago/SeskimFoto

89. Spielminute. Als Inan Selcuk sich den Ball etwa 20 Meter vor dem Tor der Isländer für den Freistoß schnappt, wird es ruhiger im Stadion. Alles sieht so aus, als ob die Türken in die Playoff-Spiele ziehen werden. Doch Selcuk zirkelt das Ding in den Winkel. Das Siegtor sichert den Türken als bester Tabellendritter die direkte Qualifikation für die EM in Frankreich. Das Stadion tobt, ein Land versinkt in einen gemeinschaftlichen Rausch voller roter Fahnen und Freude.

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Fußball verbindet Menschen möchte man meinen. In der Türkei ist dies aber mehr Schein als Sein. Die türkische Gesellschaft ist gespaltener denn je. 97 Tote und rund 500 Verletze ist die schreckliche Bilanz des schlimmsten Terroranschlags der türkischen Geschichte. Während der Friedensdemonstration am 10. Oktober in Ankara detonierten zwei Sprengsätze, die nicht nur unzählige Menschen in den Tod rissen, sondern aus der Türkei auch eine Nation im Schockzustand werden ließ. Die Regierung vermutet hinter den Anschlägen die Anhänger der kurdische Separatistengruppe PKK. Doch genau an diesem Punkt scheint sich die türkische Gesellschaft zu spalten.

Friedliche Demonstranten auf der einen Seite, Nationalisten, die hinter den Demonstranten PKK-Anhänger und Terroristen vermuten, auf der anderen. Ein Konflikt, der seit längerem in der türkischen Gesellschaft schwelt und während des gestrigen EM-Qualifikationsspiels zwischen der Türkei und Island wieder einmal deutlich wurde. Anlässlich des Anschlags wurde zu Beginn der Partie in Konya eine Schweigeminute einberufen, die schnell von Pfiffen und Buhrufen etlicher Fans unterbrochen wurde.

Schweigeminute vor dem Spiel Türkei gg. Island: Pfiffe und Buhrufe. Eine Schande! https://t.co/EhJp2XPtr9
— Göknur Özkan (@goeknur) 13. Oktober 2015

In den sozialen Netzwerken herrschte Fassungslosigkeit und die meisten Nutzer fanden harsche Worte. Im Stadion feierte man hingegen die Türkei. Konya gilt als Hochburg der islamischen Bewegung Milli-Görüs (zu deutsch: Nationale Sicht). Auch sie sehen hinter den friedlichen Demonstranten von Ankara die radikalen Mitglieder der PKK, also Terroristen und somit eine Bedrohung für den türkischen Staat. Die Buhrufe und Pfiffe zeigten ihren Unmut.

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Auf dem Platz brachen nach Abpfiff derweil alle Dämme, als die türkische Mannschaft von ihrem Glück über die direkte Qualifikation für die Europameisterschaft in Frankreich erfuhr. Vor allem Arda Turan sah man sein Gefühlschaos an. Der Offensiv-Star lag auf dem Platz und weinte bitterlich. Der 28-Jährige, der im Sommer für 41 Millionen Euro von Atletico Madrid zum FC Barcelona wechselte, darf wegen einer Transfersperre nicht vor Januar 2016 für seinen neuen Klub spielen. Seiner Nationalmannschaft durfte er nach so vielen pflichtspielfreien Wochen trotzdem 90 Minuten weiterhelfen.

Ein ganzes Land feierte seine Mannschaft und die feierte ihre Heimat. Im ausverkauften Stadion in Konya schwangen die roten Flaggen im Gleichschritt und tausende Kehlen huldigten ihren Helden. Spieler, die genau so verschieden sind und denken wie die ganze türkische Nation, lagen sich in den Armen. Torschütze Selcuk, der offen mit den Protesten im Gezi-Park sympathisierte, war der Held des Abends.

Those stupid "supporters" in #Konya are such a disgrace! But great words from #FatihTerim respecting the victims https://t.co/YzrEnlv2Dk
— Robert Bendekovits (@RobBendekovits) October 14, 2015

Der Fußball verbindet Menschen, doch er ist nur ein Schein und eine Momentaufnahme. Für Nationaltrainer Fatih Terim gibt es für die Türkei wichtigeres als die EM-Qualifikation: „Ich wünschte, wir hätten die Qualifikation verpasst und keines unserer Kinder wäre gestorben".