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The Knuckle Sandwich Issue

Der Mann, der dem Ku-Klux-Klan unter die Kutte schaute

Stetson Kennedy ist der Tyrannen größter Feind.

Stetson Kennedy ist der wahrscheinlich hartnäckigste und am wenigsten gewürdigte Menschenrechtler auf diesem gottverlassenen Planeten. Im Lauf seiner Karriere war er schon Schriftsteller, Aktivist, Folklorist, Journalist, „Naturbursche", Dichter und der erste Mann, der den Ku-Klux-Klan unterwandert und seine Aktivitäten enthüllt hat. Sein Arbeitsethos hat das Feuer einer vergangenen Ära—einer Zeit, die Individuen mit so viel Hirn und so großen Eiern hervorbrachte, dass es ihnen körperlich unmöglich war, ruhig daneben zu stehen, während Schwarze an Bäumen baumelten und die Armen Dreck fressen mussten. Der 1916 in Jacksonville, Florida, geborene Stetson ist zwar nicht komplett unbesungen, aber definitiv viel zu wenig besungen. Seine zahlreichen Erfolge fallen in eine so frühe Phase des Kampfes für die Gleichberechtigung, dass sie auch zu den ersten gehörten, die von den Launen der Geschichtsschreibung unterschlagen worden sind. Sein unermüdlicher Kreuzzug gegen die Ungerechtigkeit erweckt den Eindruck, als würde seit 94 Jahren eine geheime Armee von Stetsons durch das Land ziehen und langsam, aber sicher die schlimmsten Aspekte der conditio humana beheben. Als Mitglied der „Avantgarde-Generation" des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts, wie er sie nennt, spielte Stetson eine Hauptrolle bei der Abschaffung der Wahlsteuer und den „White Primaries", dem Exklusivrecht Weißer, an den Vorwahlen teilzunehmen—Mechanismen, die es Schwarzen und Armen quasi unmöglich machten, zu wählen. 1942 schrieb Stetson, basierend auf den Erkenntnissen aus seiner Arbeit im Rahmen des von der WPA (Works Progress Administration) geförderten Schriftstellerprogramms, mit Palmetto Country eine umfassende soziokulturelle Geschichte Floridas. Mit seiner Kampagne für „Völlige Gleichberechtigung" kandidierte er 1950 für den US-Senat (Woody Guthrie schrieb sogar drei Songs für seine Wahlkampagne) und ein paar Jahre später gab er Ich ritt mit dem Ku-Klux-Klan heraus. Der Enthüllungsbericht entsprang einer einjährigen verdeckten Ermittlung im sogenannten Invisible Empire und wurde erst 1990 vollständig in den Staaten veröffentlicht. Außerdem hielt der clevere und geduldige Stetson jahrelang noch eine tickende Zeitbombe in Form von einer wahren Goldgrube unveröffentlichter Informationen über den KKK zurück, einschließlich streng geheimer Ritualbücher, Zeichen und Gegenzeichen, Passwörter, Schwüre und Details der Befehlskette und sogar einer „Anleitung", wie man ein brennendes Kreuz zusammenbaut (was nach der überflüssigsten Anleitung der Welt klingt). Diese Juwelen sollen auf der Website der Stetson Kennedy Foundation (stetsonkennedy.com) und auf viceland.com erscheinen, sobald diese Ausgabe von Vice veröffentlicht ist. Stetson überlegte eine Zeit lang, die genannten Informationen über den KKK zusammen mit seiner Aussage als Sachverständiger vor der UN-Kommission zum Thema Zwangsarbeit in Genf zu veröffentlichen. Diese Ankündigung war so ein Riesending, dass allen Anwesenden klar war, welche weitreichenden Auswirkungen so eine Veröffentlichung haben würde. Dieser Aufenthalt verleitete Stetson zu einem ungeplanten achtjährigen Abstecher nach Europa, wo seine Arbeit einem gewissen Jean-Paul Sartre auffiel, der dessen Buch Jim Crow Guide to the USA: The Laws, Customs and Etiquette Governing the Conduct of Nonwhites and other Minorities as Second-Class Citizens 1956 in Frankreich veröffentlichte—zu einer Zeit, als niemand anders das Werk auch nur mit spitzen Fingern angefasst hätte. Heute verbringt Stetson einen Großteil seiner Zeit damit, sich um die Stetson Kennedy Foundation zu kümmern, eine gemeinnützige Organisation, die sich für „Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz und die Erhaltung der Volkskultur" engagiert. Die Stiftung hat ihren Sitz bei ihm zu Hause in Beluthahatchee, einem einzigartigen Ort am St. John's River in Florida. Die renommierte Anthropologin und Folkloristin Zora Neale Hurston beschreibt es als modernes „Paradies, wo alle Widerwärtigkeiten vergeben und vergessen sind". Hier führten wir auch das Interview. Leider gibt es immer weniger Gelegenheiten, sich mit Menschen wie Stetson zu unterhalten. Wir hoffen, ihr wisst es zu schätzen.

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Vice: Viele Leute behaupten, dass mit Obamas Wahl zum Präsidenten eine Ära des „Postrassismus" begonnen habe oder sich zumindest abzeichne. Was meinst du dazu?
Stetson Kennedy: Der Kampf für Menschenrechte hat keinen Anfang und kein Ende. Ich glaube nicht, dass es so etwas wie „Postrassismus" gibt. Rassismus ist als Phänomen nicht auf Amerika beschränkt, sondern findet sich fast ausnahmslos in allen Gesellschaftsformen und geschichtlichen Epochen. Aber die Beziehung der Bevölkerungsgruppen untereinander hat sich in Amerika merklich verbessert. Sogar stärker, als ich je zu hoffen gewagt habe. In Frankreich habe ich Mitte des 20. Jahrhunderts gemischtrassige Pärchen mit ihren Kinderwagen im Park gesehen, an denen keiner Anstoß nahm. Ich war sozusagen der Einzige, dem sie überhaupt auffielen. Damals dachte ich, dass es bestimmt noch 1.000 Jahre dauert, bis die Amerikaner so tolerant sind. Dass es nicht so lange gedauert hat, beweist, dass die Gesellschaft tief greifende Veränderungen durchmachen kann, und zwar oft sehr schnell. Wir haben nicht nur das Wort „Nigger" aus unserem Wortschatz verbannt, wir benutzen auch keine Spucknäpfe mehr und hupen nicht mehr dauernd. Früher konnte man in Manhattan nicht schlafen, weil alle Leute gleichzeitig auf die Hupe drückten. Veränderung ist möglich.

Veränderungen wie die von Obama?
Obama hat die Wahl natürlich nur knapp gewonnen, was die Spaltung im Land sichtbar macht. Vor der Wahl hing ein Freund von mir mit ein paar Jungs der alten Garde in Carolina rum. Als er zurückkam, berichtete er, dass der Klan die Wahlkampagne von Obama unterstützt, weil sie wollen, dass er gewinnt. Dann können sie ihn ermorden und einen Rassenkrieg auslösen. Nach meinen eigenen Erfahrungen seit den 40ern war der Klan immer darauf aus, einen Rassenkrieg anzuzetteln, was auch ein Motiv für die Kindermorde und Brandanschläge auf Kirchen war, die zu der Zeit im Süden stattfanden. Es stimmt, dass das Land geteilter Meinung ist, was Obamas Politik und die Tatsache überhaupt betrifft, dass ein Afroamerikaner im Weißen Haus sitzt. Einige Vorbehalte sind politischen, sozialen oder religiösen Ursprungs, aber am meisten beunruhigt mich die Tatsache, dass sich die Haltung des Klans angepasst, oder besser gesagt, sich transformiert hat.

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Wie meinst du das?
Sie haben ihre Uniformen gewechselt. In seiner Geschichte hat der Klan ständig seine Uniformen gewechselt. Angefangen haben sie mit den grauen Uniformen der Konföderierten, dann kamen die Bettlaken. Sobald die Segregation und die Herrschaft der Weißen wieder etabliert waren, trugen sie das Blau der Polizei und das Khaki der Hilfssheriffs. Eine Zeit lang sorgten die sogenannten Gesetzeshüter dafür, dass die Vormacht der Weißen durchgesetzt wurde, aber schließlich griffen sie wieder zu den weißen Kutten. Ich war selbst dabei, als nach dem Zweiten Weltkrieg diskutiert wurde, ob die zurückkehrenden Veteranen wieder die Bettlaken überziehen sollten oder ob das überholt war. Auf einmal tauchten bei Klantreffen und -paraden lauter Männer in militärischen Tarnanzügen auf. Der Keim für die militanten Aktivitäten, der in vielen Bundesstaaten auf fruchtbaren Boden gefallen ist, wurde in dieser Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gelegt. Die Soldaten brachten ihre eigene Haltung und Agenda mit.

Es sagt einiges über deinen Charakter aus, dass du es geschafft hast, so lange Umgang mit diesen furchtbaren Verbrechern zu pflegen und nie die Nerven zu verlieren. Wie hast du es geschafft, während deiner verdeckten Ermittlungen freundlich zu ihnen zu sein?
Vielleicht kann ich die Frage so beantworten. Einmal klingelte mein Telefon und eine Stimme sagte: „Hier ist der Klan." Ich legte auf. Beim nächsten Mal sagte ich, dass ich der „Kontra-Klan" sei und ließ den Typen reden. Er stellte sich als der Klanchef des Kongressdistrikts drüben in Stark, Florida, heraus. Anstatt mich zu bedrohen, fragte er mich, ob ich ihm helfen könne, seinen Familienstammbaum zu vervollständigen. Der Typ wurde der „große Titan" genannt. Sowohl sein Vater als auch sein Großvater waren des Mordes an Joseph Shoemaker angeklagt, der in den 1930ern in Tampa umgebracht worden war. Shoemaker war verhaftet worden und die Polizei holte ihn aus dem Gefängnis und übergab ihn auf der Treppe zum Gerichtsgebäude verkleideten Klansmännern. Sie kastrierten ihn, tauchten ihn in einen Kübel mit heißem Teer und schlugen ihn tot. Der Vater und Großvater von dem Kerl wurden angeklagt, weil sie mitgemacht hatten. Er wollte, dass ich ihm helfe, seine Abstammungslinie zu vervollständigen. Ich schickte ihm ein paar Zeitungsausschnitte.

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Ab welchem Zeitpunkt sind denn Patriotismus und Rassismus so eng miteinander verflochten? Ist die Verbindung so tief in der amerikanischen Kultur verwurzelt, dass sie sich nicht ausmerzen lässt?
John E. Rankin aus Mississippi, Mitglied des House Un-American Activities Committee, behauptete, dass der Klan ebenso patriotisch sei wie Apple Pie. Ich habe oft versucht, ihnen Beweise zu liefern, aber sie haben immer abgelehnt oder überhaupt nicht geantwortet. Einmal bin ich mit dem Bus nach Washington gefahren. Als ich ankam, nahm ich ein Taxi und zog meine Kutte an. Der Fahrer sah mich im Rückspiegel und baute fast einen Unfall. Wir kamen beim Büro des Komitees an und ich ging in meiner Kutte rein. In meiner Aktentasche hatte ich so viele Beweise, dass sie nicht mal schloss—sie quollen oben heraus. Als ich an die Tür klopfte, kreischten die Sekretärinnen los und rannten raus. Ich setzte mich einfach hin und blätterte in meinen Papieren. Ein Mann öffnete die Tür zum Nebenzimmer einen Spalt breit, lugte hindurch und knallte sie dann schnell wieder zu. Ein Kommando von sechs Regierungspolizisten kam und nahm mich in Gewahrsam. Ich fand es schmeichelhaft, dass sie sechs schickten. Sie brachten mich in den Keller und nachdem ich erklärt hatte, wer ich war, befahl mir der Lieutenant, meine Kutte auszuziehen und nie wieder in diesem Aufzug hierher zu kommen. Weiter bin ich bei ihnen bisher nicht vorgedrungen, aber immerhin habe ich es geschafft, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf mich zu ziehen.

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Hat der Klan immer noch Einfluss?
Meiner Meinung nach sind die Milizen eine moderne Manifestation der Tradition der Gewalt und des weißen Vorherrschaftsdenkens des Klans. Die Milizbewegung ist in vielerlei Hinsicht viel radikaler, als der Klan es sich je hätte vorstellen können. Der Klan verstand sich im Großen und Ganzen als eine patriotische Bewegung, die die Regierung unterstützte, während die Milizen die Bundesregierung stürzen und die Verfassung dahingehend umschreiben wollen, dass nur noch Weiße als Staatsbürger gelten. Viele der Milizionäre träumen von einem globalen Holocaust, der Ausweisung Schwarzer nach Afrika und der Wiedereinführung der Rassentrennung für diejenigen, die nicht ins Ausland geschickt wurden. Es wäre im Grunde genommen ein hundertprozentig faschistisch-nationalsozialistisches Konzept Amerikas. Ich sehe die Mitglieder der Tea Party als die Pendants zu den ersten SA-Schergen Nazideutschlands, als Hitler erst wenige Leute um sich geschart hatte. Sie haben den gleichen Charakter, das gleiche psychologische Profil und Gewaltpotenzial.

Hast du eine Idee, wie man diese Gruppen aufhalten kann? Ist das überhaupt möglich, ohne selbst gewalttätig zu werden?
Es versteht sich von selbst, dass die sogenannten Gesetzeshüter—und zwar sowohl auf kommunaler, staatlicher, Bezirks- und bundesstaatlicher Ebene—dazu tendieren, die Milizionäre als gestandene Kerle abzutun, die ihrem Ärger mal ein bisschen Luft machen und sonst keiner Fliege was zuleide tun. Aber man kann sich vorstellen, was passieren würde, wenn antirassistische Organisationen wie die NAACP (National Association for the Advancement of Colored People), die Anti-Defamation League, B'nai B'rith oder La Raza anfangen würden, Tarnanzüge und Waffen zu tragen und mit scharfer Munition Krieg zu spielen. Sie wären noch vor Sonnenuntergang hinter Gittern. Natürlich verweisen Waffenbefürworter auf das in der Verfassung verankerte Recht, Waffen zu tragen. Aber sie lassen immer den Teil mit der „wohl organisierten Miliz" aus. Ich bin mir ziemlich sicher, dass den Schreibern der Verfassung eine gesetzlich geregelte staatliche Miliz vorschwebte, keine rein privaten Armeen.

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Das Verbot privater Armeen ist dort festgeschrieben, wird aber nicht durchgesetzt. Ich glaube, dass wir unser Land ernsthaft gefährden, wenn wir dem nichts entgegensetzen. Vor einiger Zeit sagte ich in einer lokalen Radiosendung meine Meinung zu dem Thema und der Anführer der örtlichen Miliz rief an. Ich fragte ihn: „Denken Sie, Sie sind gut bewaffnet?" Und er antwortete: „Ganz bestimmt." Dann listete er ganz stolz jede Waffe in seinem Arsenal auf. Ich fragte: „Wen wollen Sie denn umbringen?" Und er meinte: „Jeden, der versucht, mir meine Waffen wegzunehmen." Wenn die gegenwärtige Regierung sich entschließen würde, die konstitutionell festgelegten Gesetze gegen private Armeen durchzusetzen, bin ich mir nicht sicher, ob uns nicht de facto ein Bürgerkrieg bevorstehen würde. Diese Leute sind Fanatiker. Mich beunruhigt nicht nur der Rassismus—diese Leute sind Konterrevolutionäre im großen Stil, und damit meine ich die amerikanische Revolution. Sie sind Terroristen, die nur den richtigen Augenblick abwarten.

Hast du jemals deine FBI-Akte eingesehen, was dir ja nach dem Freedom of Information Act zusteht?
Ja. Der Spaß hat mich 40,45 Dollar gekostet, da für jede der 809 Seiten 5 Cent berechnet wurden. Mir wurde ziemlich schnell klar, dass das FBI jeden, der sich gegen die Rassentrennung aussprach, als subversiv betrachtete. Sie schrieben in den Berichten über mich: „Er wird zweifellos weiterhin über Rassentrennung und Arbeiterthemen schreiben." Unglaublich, oder? Sie hatten auf jeden Fall Recht damit, dass ich die Vorherrschaft der Weißen untergraben wollte, also lagen sie gar nicht so weit daneben.

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In den Medien und anderswo redet man nicht mehr von Bürgern, sondern von Konsumenten. Du hast diese Entwicklung beobachtet. Inwiefern hat das den amerikanischen Traum beeinflusst?
Während der Großen Depression bestand der amerikanische Traum, das höchste Ziel der Gesellschaft, darin, dass in „jedem Topf ein Hühnchen brutzelt". Jetzt müssen es schon zwei Autos, ein Motorboot und alle möglichen anderen Sachen sein. Mitte des 20. Jahrhunderts war das Motto der Handelskammer der Vereinigten Staaten „Baut den Mittelstand auf". Das war ein sinnvoller Plan. Ein halbes Jahrhundert später wird er so jäh fallengelassen, dass man ihn kaum noch als „Mittelstand" bezeichnen kann. Und die Industrie und das Kapital, die in andere Märkte mit billigen Arbeitskräften abwandern, lassen ein Amerika zurück, das allmählich austrocknet. Meiner Meinung nach kommt das einem Hochverrat gleich. Sie hauen in Länder ab, wo sie sich keinen Kopf um Kinderarbeit, Unfallversicherungen, Arbeitslosenversicherungen, Rentenversicherungen, Sicherheitsbestimmungen oder Umweltschutz machen müssen. Das bedeutet, dass die industrielle Revolution wieder hemmungslos von vorne losgeht. Was das für die Zukunft bedeutet, werden wir sehen. Ich glaube, dass diese Entwicklung aus uns ein verschuldetes Dritte-Welt-Land machen kann, eine abgehalfterte Nation.

Du glaubst, dass Amerika keine weitere Große Depression verkraften kann? Letztes Mal haben wir uns auch wieder aufgerappelt.
Dass sich das Kapital und die Industrie davonstehlen, ist weitaus gravierender als jede zeitweilige Depression. Es waren amerikanische Arbeiter und amerikanische Rohstoffe, die die Akkumulation des Kapitals überhaupt ermöglicht haben. Der große Eisenbahnraub war dagegen ein kleiner Taschendiebstahl. Vor der Großen Depression lebten Millionen und Abermillionen von Menschen dicht an der Armutsgrenze, also kannten sie diesen Zustand und wussten mit der Veränderung umzugehen. Für sie war die bittere Armut nicht so traumatisch, wie sie für unseren wohlhabenden Mittelstand sein wird, wenn er sich auf der Straße wiederfindet. Es würde mich nicht wundern, wenn die Selbstmordrate dramatisch ansteigt, sobald die Finanzkrise nach unten durchzusickern beginnt. Denn das war erst der Anfang, fürchte ich. Noch nicht mal die schlimmsten Untergangspropheten können absehen, was hinsichtlich der Umwelt und Wirtschaft auf uns zukommt.

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Einer deiner Unterstützer und besten Freunde war Woody Guthrie, der auch einen enormen Einfluss auf Folkmusik und besonders auf Bob Dylan hatte. Wie war es, als du Woody das erste Mal getroffen hast?
Alan Lomax war nach Florida gekommen und hatte mich als Berater eingestellt, als er während des Krieges einige Sendungen auf CBS produzierte. Anscheinend gab er Woody ein Exemplar meines ersten Buchs, Palmetto Country, das 1942 veröffentlicht wurde. Etwas später schickte Woody den Umschlag des Buchs mit einem Lob zurück. Er schrieb, dass er sich nach den meisten Büchern wie ein Stück Dreck vorkäme, dass dies hier ihn aber aufgerichtet hätte wie eine junge Kiefer, und dass ich es, solange ich weiter nur meinem freien Willen folge, sehr weit bringen würde. Außerdem solle ich nicht überrascht sein, wenn er irgendwann mit seiner Gitarre in mein Haus gestolpert käme, um ein paar schöne lange Gespräche mit mir zu führen.

Ganz so ist es dann doch nicht abgelaufen. Eines Tages rief mich Woody von der Greyhound-Busstation an und bat mich, ihn abzuholen und mit nach Beluthahatchee zu nehmen. Ich lebte damals in einem ausgemusterten 30er-Jahre-Bus der Florida Motor Line, aber ich hatte eine riesige Veranda angebaut. Woody beschloss, in einer Dschungelhängematte unter den Eichen zu übernachten. Ein paar Jahre nach seinem ersten Besuch kam er mit einer 21-Jährigen namens Anneke wieder. Sie hatte ihren schauspielernden Ehemann verlassen, um mit dem 41-jährigen Woody nach Beluthahatchee zu kommen. Als sie wieder weg waren, fragte mich eine meiner schwarzen Nachbarinnen: „Was waren das für Leute?" „Was meinst du?", sagte ich. Und sie darauf: „Na ja, eines Sonntagmorgens kam ich mit meinem Mann hier herüber, um zu fragen, ob wir angeln dürfen, und die beiden kommen splitterfasernackt aus dem Bus. Wie würdest du solche Leute nennen?" Ich sagte: „Das ist eben einfach Woody."

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Du hast 1950 für den US-Senat kandidiert und Woody schrieb einen Song für deine Wahlkampagne, der für einen Haufen negativer Reaktionen von Leuten sorgte, die deinem Kreuzzug gegen Rassismus den Wind aus den Segeln nehmen wollten. Einige Historiker und Schriftsteller glauben sogar, dass du wegen Drohungen des Klans nach Europa gezogen bist.
Es gab jede Menge Berichte, die behaupteten, dass mich der Klan und die darauf folgende Hexenjagd aus dem Land vertrieben hätten. Keiner davon ist wahr.

Weshalb bist du also gegangen?
Ich war dabei, einen acht Hektar großen See auszuheben, kam schlammbedeckt ins Haus und sah eine kleine Meldung in der Zeitung, in der stand: „UN-Kommission zum Thema Menschenrechte in New York muss vertagt werden." Es hatte sich kein Zeuge gefunden, der bereit war, über Formen der Zwangsarbeit in der westlichen Hemisphäre auszusagen. Also sauste ich ins Telegrafenamt und bot ihnen an, eine Flugzeugladung voller Zwangsarbeiter von den Terpentin-, Kohl- und Kartoffelplantagen aus meiner Gegend hochzufliegen. Sie antworteten, dass die Sitzung schon vertagt worden sei, ich aber, wenn ich in zehn Tagen auf eigene Kosten ins schweizerische Genf fliegen würde, als Sachverständiger aussagen könne. Obwohl ich völlig pleite war, sauste ich sofort mit meinem Aufnahmegerät zur nächsten Plantage. Schnell hatte ich genug Stoff für die UNO zusammen. Ich bot ihnen nochmals an, eine Flugzeugladung mit Sklavenarbeitern mitzubringen, aber sie wollten, dass ich alleine komme. Ich hetzte in meiner unmittelbaren Nachbarschaft herum, wo nur Schwarze wohnten, und konnte genug Geld für einen einfachen Flug und 8 Dollar Taschengeld sammeln. Deshalb ging ich nach Europa. Ich blieb ungefähr acht Jahre dort.

Und während deines Aufenthalts dort schriebst du eines der wichtigsten Bücher deiner Karriere, The Jim Crow Guide to the USA, das niemand in den Staaten herausbringen wollte.
Jean-Paul Sartre veröffentlichte es in Frankreich und bald darauf kam so ein schmucker junger CIA-Agent mit einem Exemplar der französischen Erstausgabe zu mir und sagte: „Das Ding bereitet uns große Kopfschmerzen! Wenn Sie sich davon distanzieren, brauchen Sie sich nie wieder Sorgen um Geld zu machen!" Ich antwortete: „Wenn Sie mir auch nur einen Satz zeigen können, der inhaltlich falsch ist, korrigiere ich ihn gerne—ganz umsonst." Er zog beleidigt ab, ohne mir einen Satz zu zeigen, also berief ich eine Pressekonferenz ein und erklärte, dass die CIA versucht hatte, mich zu bestechen. Danach fuhr ich runter nach Rom, wo gerade Wahlen waren. Die CIA investiert Millionen in europäische Wahlen, um damit bestimmte Parteien zu unterstützen oder gleich neue zu gründen.

Du hast einmal die Frage formuliert: „Können Jahrhunderte der Feindschaft nur durch Jahrhunderte der Freundschaft ausgelöscht werden?" Aber wie können wir uneingeschränkte Solidarität erreichen? Hast du irgendwelche praktischen Lösungsvorschläge, wie wir die Sache beschleunigen könnten?
Mein ganzes Leben lang wurde ich gefragt, wie man die oft Jahrtausende alte Gewalt zwischen Gruppen, Kulturen und Völkern beenden kann. Ich glaube nicht, dass der Spruch „Jetzt vertragt euch wieder" etwas bewirkt. Ich habe keine Ahnung, wie man so etwas beenden kann. Vielleicht muss man sich zu einer internationalen Macht zusammenschließen, um etwas zu bewirken. Abgesehen davon, glaube ich nicht, dass Gesetze einen Konflikt von heute auf morgen beilegen können und genauso wenig werden sich Feindschaften über Nacht in Luft auflösen, denn Jahrhunderte des Blutvergießens lassen sich nur durch friedliches Miteinander beseitigen. Ich habe mein ganzes Leben lang nach einer Antwort gesucht, und das ist die beste, auf die ich gekommen bin. Erlasst Gesetze, setzt sie in Kraft und dann müsst ihr halt nebeneinander leben, bis es euch nicht mehr stört—ob ihr nun wollt oder nicht. Martin Luther King und andere haben jahrelang über Toleranz geredet, was ich für den falschen Begriff halte, da er impliziert, dass mit dem anderen etwas nicht stimmt, das ich tolerieren muss. Wir brauchen einen besseren Ausdruck dafür, so etwas wie gegenseitiger Respekt. Toleranz hat ganz falsche Konnotationen.

Manche behaupten, dass die Machthaber schuld daran sind, dass sich die Gesellschaft nicht weiterentwickeln und echte Gleichberechtigung praktizieren kann.
Wir halten die Regierung für allmächtig, aber in Wirklichkeit gibt es da draußen die sogenannte Privatwirtschaft, die einen viel zu großen Einfluss ausübt. Ich halte die Aussage nicht für übertrieben, dass sie die staatliche Demokratie in einem Ausmaß untergraben hat, dass ich mich frage, wo die Privatisierung enden wird. Sie ist schon so weit gediehen, dass es angebracht scheint, die gesamte Regierung zu privatisieren und aus der Pennsylvania Avenue an die Wall Street umzusiedeln, wo die echten Entscheidungsträger sitzen. Woody Guthrie stellte immer die Frage: „Was ist hier eigentlich falsch gelaufen?" Ich glaube, das kann man ganz einfach mit „Gier" beantworten. Es scheint offensichtlich, dass sich die Menschheit nicht erlauben kann, dieser Gier weiter freien Lauf zu lassen, sonst steuern wir auf eine ganze Reihe von Katastrophen zu.

INTERVIEW VON BILL BRYSON
PORTRÄTS VON JASON HENRY
Archivfotos mit freundlicher Genehmigung von Stetson Kennedy