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„Kinder essen Blätter von den Bäumen": Die Belagerung der syrischen Stadt Madaya gleicht einem Albtraum

Das Assad-Regime wendet mittelalterliche Taktiken an, um die Kontrolle über die strategische Stadt in den Bergen zu behalten—jetzt melden sich die hungernden und verzweifelten Bürger in den sozialen Netzwerken zu Wort.
Foto: Twitter/Aktivisten aus Madaya

In den frühen Morgenstunden des vergangenen Sonntags hat eine schwangere Frau versucht, sich zusammen mit ihrer Tochter aus Madaya (eine Stadt in den schneebedeckten Bergen im Südwesten Syriens) zu schleichen.

Als die Beiden am südlichen Stadtrand ankamen, stolperte jemand über eine Landmine und der laute Knall alarmierte einen nahegelegen Hisbollah-Stützpunkt. Die Kämpfer eröffneten das Feuer und irgendwo inmitten der Explosion und des Kugelhagels kamen sowohl die Mutter als auch die Tochter ums Leben.

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Solche verzweifelten Fluchtversuche (dieser hier wurde von der in England ansässigen Organisation Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte gemeldet und von Anwohnern bestätigt) werden in Madaya immer mehr zur Norm. Die Stadt mit 40.000 Einwohnern wird seit Juli 2015 von syrischen Streitkräften und der libanesischen Miliz Hisbollah (Alliierte der syrischen Präsidenten Baschar al-Assad) belagert.

Allein im vergangenen Monat sind 31 Menschen aus Madaya gestorben—entweder an Hunger oder beim Versuch, die Hisbollah-Blockade zu durchdringen, die die Stadt umgibt. In einem Bericht der Syrian-American Medical Society, der an VICE News weitergegeben wurde, heißt es, dass ein Kilogramm Mehl dort inzwischen für gut 100 Dollar verkauft wird, obwohl das monatliche Einkommen eines durchschnittlichen Syriers unter 200 Dollar liegt.

„Heute habe ich Erdbeerblätter zu Abend gegessen", erzählte uns Rajai, ein 26-jähriger Englisch- und Mathelehrer aus Madaya. Seinen richtigen Namen wollte er aus Sicherheitsgründen nicht preisgeben. „Meine letzte richtige Mahlzeit hatte ich vor drei Monaten." Rajai hat seit dem Beginn der Belagerung im Juli schon über 20 Kilogramm abgenommen. „Kinder essen Blätter von den Bäumen und sowohl die ganz alten als auch die ganz jungen Menschen sterben hier", meinte er.

Als die Opferzahl im Dezember immer weiter stieg, begannen die Einwohner Madayas damit, in den sozialen Netzwerken verzweifelte Botschaften zu posten.

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— Thomas van Linge (@arabthomness)4. Januar 2016

كيف تنام أيها المسلم في دفء وآمان وهذه هي حال إخوتك جوع وبرد وحصار — @Bivi ★★★ (@Bivi_17)3. Januar 2016

In einem Bild, das am 3. Januar bei Twitter hochgeladen wurde, halten mehrere junge Männer ein Plakat hoch, auf dem die Vereinten Nationen und der Papst dazu aufgefordert werden, etwas gegen die Belagerung zu unternehmen.

Anybody can here that? Can you answer our cries only once? — Raed Bourhan (@raedbrh)3. Januar 2016

Rajai zufolge bestraft das Assad-Regime seine Heimatstadt dafür, dass man dort 2011 am syrischen Aufstand teilgenommen hat: Als die friedlichen Demonstranten im April 2011 in der nahegelegenen Stadt Zabadani auf die Straße gingen, taten es ihnen viele Einwohner Madayas gleich. „Wir wollten dieses Land von Assad befreien", meinte er. Rajai wurde damals verhaftet und gefoltert. Seine Zukunftsperspektiven sind nach fünf Jahren Bürgerkrieg nicht gerade rosig.

„Am Anfang der Revolution sagten wir noch, dass niemand Hunger leiden oder Angst haben müsste", erzählte er uns. „Jetzt wissen wir, dass wir damit falsch lagen."

Madaya stellt in Syriens immer größer werdenden Bürgerkrieg mit mehreren Fronten und mehreren Parteien einen strategischen Schlüsselpunkt dar. Die Stadt befindet sich im Qalamoun-Gebirge in der Nähe zur libanesischen Grenze. Die syrische Hauptstadt Damaskus liegt nur 50 Kilometer weiter südöstlich. Joshua Landis—der Vorsitzende des Centers for Middle East Studies an der University of Oklahoma und Betreiber des Blogs Syria Comment—zufolge ist die Unterdrückung von Aufständen für das Regime überlebenswichtig: „Wenn die Rebellen dort rauskommen würden, hätten sie einen direkten Weg nach Damaskus."

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In den Anfangsjahren der Revolution stellten sich viele der Bergdörfer entlang der libanesischen Grenze gegen das Assad-Regime und schlossen sich damit den immer weiter wachsenden Rebellengruppen an, die im ganzen Land zu den Waffen griffen.

Motherboard: Syrien ist zu einer Front der DIY-Waffenschmiede geworden

Als die Revolution immer mehr von Gewalt geprägt wurde, entwickelte sich die syrisch-libanesische Grenze zu einer wichtigen Route für Waffenschmuggler, die Waffen gefährlich nahe an die syrische Hauptstadt bringen wollten. Deshalb machten Assad und seine iranischen, russischen sowie libanesischen Verbündeten die Sicherung dieses Grenzgebiets zu einer der höchsten Prioritäten—sogar noch wichtiger als die Rückeroberung nördlicher Gebiete, wo Gruppierungen wie der Islamische Staat oder die al-Nusra-Front das Kommando übernommen hatten.

Und so ist es gekommen, dass der syrische Präsident zusammen mit der libanesischen Hisbollah-Miliz aufbegehrende Gegenden in der Bergregion brutal unterdrückt, indem er Belagerungen durchführt, die an mittelalterliche Kriegsführung erinnern. Neben Checkpoints und Minenfeldern hat das Regime auch Blockaden errichtet, die verhindern, dass Lebensmittel und Wasser in die isolierten Städte kommen. „Sie lassen die Leute so lange hungern, bis sie aufgeben", erklärte Landis. „Eine solche Vorgehensweise ist nichts Neues."

Im September fiel die Hisbollah in Zabadani ein—eine Stadt, die sich drei Kilometer nördlich von Madaya befindet und für die dortigen Bewohner die einzige wirkliche Verbindung zur Außenwelt darstellt. Dank eines von der Türkei und dem Iran eingefädelten Deals durften einige wenige Rebellen die Stadt unbeschadet verlassen.

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Nachdem die Hisbollah Zabadani übernommen hatte, wurden Leute, die man als Feinde ansah, dazu gezwungen, nach Madaya zu ziehen—Anwohnern zufolge sollten damit die Pro-Regime- von den Anti-Regime-Bürgern getrennt werden. Loay, ein 28-jähriger Student aus Zabadani, musste mit seiner Mutter nach Madaya fliehen, als die Hisbollah das Kommando in seiner Heimatstadt an sich rissen. „Sie meinten: ‚Geht nach Madaya'", erzählte er uns am Telefon. „Dort erleidet man jedoch den Hungertod."

In Madaya geht es seiner Aussage nach zu wie in einer anderen Welt: „Dort verhungern alle."

Loays 52-jährige Mutter hat seit Monaten ebenfalls keine richtige Mahlzeit mehr gehabt. „Mein einziger Wunsch ist es, ein Stück Brot zu bekommen", meinte sie.

Syrische Menschenrechtsgruppierungen beobachten bestürzt, was in Madaya vor sich geht. „Sie verwandeln das Gebiet in ein großes Gefängnis und lassen die Leute dort leiden", erzählte uns Dr. Ammar Ghanem, ein syrischer Arzt und Mitglied des Vorstands der Syrian-American Medical Society. Da Ghanem aus der Gegend stammt, befinden sich Teile seiner Familie immer noch dort. Er selbst kann die humanitären Zustände nur von weit weg observieren. „Das Regime will, dass die Leute dort sterben", sagte er.

Die medizinische Versorgung in Madaya ist eine Katastrophe. „Dort gibt es keine Vorräte und die Leute sind nicht richtig ausgebildet—einer der wenigen Ärzte ist zum Beispiel eigentlich ein Tierarzt, der jetzt eben auch Menschen operiert", erzählte uns Ghanem. „Wir würden gerne Nachschub liefern, können aber natürlich nicht einfach so durch die Blockade."

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Auch den Vereinten Nationen fällt es schwer, irgendeine Art der Hilfe in die belagerte Stadt zu schicken. Im Oktober schaffte man es zwar, eine Ladung Kekse sicher nach Madaya und Zabadani zu bringen, aber die Lebensmittel stellten sich dann als abgelaufen heraus.

In den vergangenen drei Monaten hat das Assad-Regime dann jegliche weitere Lieferungen erfolgreich verhindert und damit in der kältesten Zeit des Winters im Grunde das Todesurteil von Dutzenden Kindern und älteren Bürgern unterschrieben.

Die Belagerung hat aber auch noch andere Gründe: Die Hisbollah versucht, die Bürger von Madaya gegen das Wohlbefinden von schiitischen Zivilisten in den nördlichen Städten Kafrayya und Fua einzutauschen, die beide von Rebellentruppen besetzt sind. „Das Ganze ist ein Verhandlungstrick", meinte Landis. „So gesehen nimmt die Hisbollah Geiseln." Und so kam es auch, dass Mitglieder von Ahrar al-Scham (die militante Sunniten-Gruppierung, die besagte schiitische Städte belagert) im September damit begannen, mit der syrischen Regierung über die simultane Aufhebung der Besetzungen zu verhandeln. Zwar haben es die Vermittler geschafft, einige Kämpfer sicher aus Zabadani herauszuholen, aber den verzweifelten Bürgern hat der Deal bisher noch nichts gebracht.

Obwohl die Belagerung ohne Zweifel viele zivile Opfer fordert, haben mehrere Einwohner von Madaya VICE News erzählt, dass Kämpfer von Ahrar al-Scham in der Stadt zugegen sind. Im Norden Syriens kämpft die Gruppierung an der Seite von al-Qaida und sie wird von vielen Menschen als Terrororganisation angesehen. Landis, der Syrien-Experte von der University of Oklahoma, betont jedoch, dass die Menschen aus Madaya, die sich Ahrar al-Scham anschließen, das sehr wahrscheinlich nicht aufgrund irgendeiner Überzeugung tun. „Sie kämpfen um ihr Leben", meinte er. „Sie schließen sich jeder Gruppierung an, die sie ihrer Meinung nach aus diesem Elend befreien wird."

Die Belagerung geht vorerst weiter und die Hoffnung der Bürger schwindet. Sie befürchten, dass ihre Misere immer im Schatten des Kriegs gegen den IS im Norden Syriens stehen wird. „Natürlich kriegen die Leute von unserer Notlage mit, wenn ihr darüber schreibt", meinte Rajaai, der Lehrer, zu uns. „Wenn sie mit dem Lesen fertig sind, werden sie uns jedoch wieder vergessen."