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Occupy Turkey

Auf der Flucht vor Polizei-Schlägern in Istanbul

Der Tod Berkin Elvans hat in der Türkei die größten und gewalttätigsten Proteste seit den Gezi-Unruhen ausgelöst. Ich war dabei, als die Polizei den Trauermarsch nach seiner Beerdigung angriff.

In den letzten drei Tagen hat die Türkei landesweit die größten und gewalttätigsten Proteste seit Beginn der Gezi-Park-Ausschreitungen erlebt. Ausgelöst wurden sie von einem Ereignis, das die Erinnerung an die Demonstrationen des letzten Sommers in drastischer Weise wieder wachrief: dem Tod des 15-jährigen Berkin Elvan.

Vor genau 270 Tagen, auf der Höhe der Ausschreitungen um den Gezi-Park, wurde der damals noch 14-jährige Schüler Elvan von einer Polizei-Gasgranate am Kopf getroffen und fiel sofort in ein Koma. Die Umstände dieses Unglücks sind mittlerweile für viele Türken zum Symbol für willkürliche Staatsgewalt geworden. Dass Elvan als Unbeteiligter auf dem Weg war, Brot für seine Mutter zu kaufen, dass ein Polizist ihn um die Ecke schauen sah und gezielt eine Granate in seine Richtung schoss, dass der Junge am Ende seines neunmonatigen Komas auf 16 Kilo abgemagert war—jeder Demonstrant kannte diese Details. Am Mittwochmorgen waren überall Brotlaibe zu sehen: hinter Türklinken geklemmt, an Hauswänden und in den Händen der Leute auf der Straße.

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Als ich mit meinem Kameramann auf dem Weg zur Beerdigung im Stadtteil Okmeydani war, spürte man die Wut der Menschen überall. Während der letzten sechs Monate ist der Premierminister Erdogan nicht einmal auf den Vorfall eingegangen, stattdessen lobte er den Einsatz der Polizisten im Sommer als „heldenhaft“. Die im Dezember aufgebrochene Korruptionsaffäre, die jetzt bis hin zu Erdogans Sohn Bilal zu reichen scheint, löste eine weitere Welle der Entrüstung aus. Und das alles kurz vor den Kommunalwahlen am 30. März. Statt die Menschen zu beruhigen, bezeichnete einer seiner Ex-Minister die Protestierenden, die sich Berkins Beerdigungsmarsch anschließen, auf Twitter als nekrophil.

Obwohl es bereits Dienstagnacht Ausschreitungen gegeben hatte, war die Stimmung am Mittwochmorgen wieder relativ ruhig. Wir hatten Studenten der ITÜ-Universität begleitet, die sich auf die Beerdigung vorbereiteten. Sie marschierten durch alle Fakultäten und forderten ihre Kommilitonen auf, sich ihnen anzuschließen. „Wir fordern nur unser Recht, zu demonstrieren“, sagte mir einer der Organisatoren. „Das ist alles.“ Mittlerweile hatten sich um die tausend Menschen versammelt. Gemeinsam setzten sie sich in Richtung der Moschee in Okmeydani in Bewegung, wo Berkin Elvans Beerdigungszeremonie stattfand, und skandierten dabei lauthals: „Erdogan, bezahl deine Rechnung! Erdogan, schick diesmal deinen Sohn Bilal Brot holen!“ Wir liefen durch Sisli, einen wohlhabenden und liberalen Stadtteil Istanbuls. Die positive, friedliche Stimmung war ansteckend. Businessleute holten ihre Smartphones raus und filmten die Demonstranten, viele klatschten und unterstützten die Studenten dabei. Der Geist von Gezi schien zurückgekehrt, wenn auch nur für einen Moment.

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Wenig später wollten wir uns zum Friedhof aufmachen, in dem Berkin kurz zuvor beigesetzt wurde. Doch wir kamen nicht weit. Die Protestierenden drängten zum symbolischen Taksim-Platz, als plötzlich vier Wasserwerfer den Weg versperrten. Jeder schien das Spiel zu kennen. Die Demonstranten sangen, feierten und hielten Reden vor den Augen der Hundertschaften. Doch ich konnte die Anspannung aus jedem Gesicht ablesen.

Als der erste Angriff losbricht, trinke ich gerade mit meinem Kameramann einen Cay in einem der angrenzenden Cafes. „Geliyorlar!“, schreien die Menschen, „Sie kommen!“ Es fallen erste Schüsse der Gasgrenadiere, prompt werden die Straßen in Nebel gehüllt. Und ehe ich mich versehe, verliere ich meinen Kameramann im Gasnebel. Es herrscht Chaos. Auf der Suche nach meinem Kollegen irre ich durch Sislis Straßenlabyrinth. Meine improvisierte Atemschutzmaske taugt nichts. Der Tränengasnebel ist unerträglich, ich verfluche mich selber, dass ich bei den Gasmasken gespart habe. Ich laufe für eine Weile orientierungslos in eine Seitenstraße, als mich ein an Mann in sein Restaurant winkt.

Der Besitzer des kleinen Lokals, ein Kurde, sympathisiert mit den Demonstranten. „Weißt du, der Unterschied zu den Gezi-Protesten dieses Mal ist, dass sich die Kurden einmischen“, erklärt er mir. „Damals haben wir die Klappe gehalten, weil wir die Hoffnung hatten, dass es bald Frieden geben wird zwischen Türken und Kurden. Wir sind enttäuscht von Erdogan. Doch jetzt haben wir das Warten satt, wir haben die Schnauze voll von Erdogan!“ Hektisch hebt er den Zeigefinger zum Fernseher, in den Nachrichten erscheint die erste Todesmeldung: Ein Polizist hat während eines Protests in Anatolien eine Herzattacke erlitten. Ich finde später heraus, der Protest fand in der winzigen 30.000 Einwohner Stadt Tunceli statt, seit jeher eine Hochburg für Aleviten und Kurden.

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Mittlerweile ist es dunkel geworden. Ich höre, dass jetzt landesweit 2 Millionen Menschen auf den Straßen sein sollen. Ich verabrede mich mit meinem Kameramann am Taksim-Platz, und versuche, über Seitenstraßen dorthin zu gelangen. Auf meinem Weg passiere ich Gasmasken tragende Menschen und stolpere über ausgebreiteten Müll entlang brennender Barrikaden, die Stimmung erinnert mich an einen apokalyptischen Science-Fiction-Streifen.

Als ich den Taksim-Platz schließlich erreiche, eröffnet sich mir ein noch unglaublicherer Anblick: keine Demonstrationen, der Verkehr läuft, hunderte Polizisten aber sind noch präsent und halten Wache. Ich frage mich, wohin die Protestmassen verschwunden sind. Aber dann sehe ich, dass die vermeintliche Ruhe trügt: alle halbe Stunde sammeln sich die Demonstranten, um gleich darauf in der angrenzenden Istiklal-Shoppingstraße von dem Polizeiaufgebot mit Gas und Wasser zusammengeschossen zu werden. Egal wie sich sehr sich die Polizisten bemühen, die öffentliche Ordnung aufrecht zu halten: die Istiklal-Straße selbst wirkt mit ihren demolierten Geschäftsfassaden wie ein Kriegsschauplatz.

Dann endlich meldet sich mein Kameramann am Telefon und sagt, dass er sich ins benachbarte Cihangir-Viertel geflüchtet hat. Cihangir ist das absolute Trendviertel, das Kreuzberg Istanbuls, hier schlagen coole Hipster tagsüber den Schaum auf ihren Macchiatos auf. Doch in dieser Nacht stehen Cihangirs Straßen regelrecht in Flammen. Einige Demonstranten, darunter einige Vandalierer, konnten gigantische, brennende Barrikaden errichten und die Polizei eine ganze Weile erfolgreich verjagen.

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Eine halbe Stunde später fegt ein derart intensiver Polizei-Angriff über uns hinweg, dass es mir fast die Sprache verschlägt. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Flucht zu ergreifen. Kurz danach treffe ich endlich meinen Kollegen in einer verwinkelten Gasse. Er drückt mir erschöpft seine SD-Karte in die Hand und beschwert sich, dass ich ihn nicht gewarnt habe, eine Gasmaske zu besorgen.

Plötzlich bemerke ich ca. 30 Männer, die aus dem gegenüberliegenden Haus strömen. Erst jetzt sehe ich, dass es sich um eine Polizeiwache handelt. Es sind Polizisten in Zivil, jeder trägt einen Schlagstock in der Hand. Plötzlich steht einer von ihnen vor uns und verlangt unsere Presseausweise. „Wir haben keine Fotos gemacht!“, stammele ich in meinem gebrochenen Türkisch. Er spricht etwas in sein Walkie-Talkie, die Gruppe bricht auf. Wenige Sekunden später fängt die gesamte Mannschaft an zu rennen und stürzt sich schreiend auf die überraschten und noch vereinzelt vorhandenen Demonstranten.

Innerhalb von 5 Minuten wird dem letzten Rest an Widerstand in Istanbuls Zentrum der Garaus gemacht. Erschöpft stolpert ich gegen Mitternacht nach Hause. Auf dem Weg höre ich, dass ein bei einem Clash zwischen politischen Gruppierungen ein junger Mann noch in der selben Nacht erschossen wurde. Am nächsten Tag wird bestätigt, dass es sich bei dem Toten um den 22-jährigen Burak Can Karamanoglu handelt. Die genauen Umstände seines Todes sind noch ungeklärt, auch wenn die linksradikale Revolutionäre Volkspartei-Front (DKHP-C) die Verantwortung für seine Tötung übernommen hat. Er stammt aus dem religiös-konservativen Stadtteil Kasimpasa. Seine Familie behauptet, er sei Opfer von gewalttätigen Demonstranten geworden, wollen seinen Tod aber nicht zu [politischen Zwecken instrumentalisieren lassen](http:// http://www.hurriyetdailynews.com/our-pain-is-not-a-political-tool-say-fathers-of-okmeydani-victims.aspx?pageID=238&nID=63596&NewsCatID=341. ).

Während des Korruptionsskandals hatte die türkische Zivilgesellschaft lange nicht gewusst, wie sie reagieren sollte. Durch Berkins Tod wurde der Widerstandsgeist von Gezi mit einem Schlag aus seinem Dornröschen-Schlaf befördert. Die Polizei-Behörden taten an diesem Tag mit ihren Hundertschaften, Wasserwerfern und Gummi-Pistolen ihr Bestes, um die neu aufflammenden Proteste landesweit im Keim zu ersticken – Die Bilanz dieses durchzechten, in Tränengas gehüllten Tages: Zwei Tote, dutzende Verletzte, zahlreiche Festnahmen. Ich frage mich, wie die Türkei die nächsten Wochen überstehen wollen, wenn die Gewalt weiter anhält und sich der Graben, der die türkische Gesellschaft entzweit, weiter und tiefer gezogen wird. Es sieht düster aus.