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Die Do it Well and Leave Something Witchy Issue

Ich habe die magische Kiste von David Wojnarowicz geöffnet

Sein letzte Geheimnis—und wir konnten es lüften.

Die Bobst Library der New York University ist eine leere Höhle, in der Neonlampen wie Stalaktiten von der Decke hängen und einsame Studenten wie Fledermäuse durch die Regale flattern. Ich lausche angestrengt nach irgend­einem Lebenszeichen, bis ich schließlich das Quietschen einer widerspenstigen Bremse höre, die zu dem metallenen Bücherwagen gehört, den der Bibliothekar in meine Richtung schiebt. Die Reliquien der Heiligen, das Hemd von Justin Bieber, die verlorenen Bänder, die zeigen, was an dem Tag in Dallas wirklich passierte—all diese Dinge gehen mir am Arsch vorbei. Was ich gleich in den Händen halten werde, ist David Wojnarowiczs letztes Geheimnis: seine Magic Box.

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In seiner Kunst hat Wojnarowicz dem Unaussprechlichen eine Stimme verliehen, sei es die banale Brutalität der Vorstädte, sei es der himmelschreiende Horror von AIDS oder die Schönheit von zwei Schwulen, die es auf einem Pier in Downtown Manhattan mitei­nander treiben. Sein Vater war Alkoholiker und äußerst gewalttätig und nahm sich schließlich das Leben; seine Mutter war oft abwesend, und selten mütterlich. Als Teenager ging Wojnarowicz bereits neben den Junkies und Zuhältern auf dem noch nicht disneyfizierten Times Square auf den Strich. Seine Gemälde, Installationen und Essays waren in der Whitney Biennial 1985 ebenso vertreten wie auf den Demoplakaten der AIDS-Aktivisten von ACT UP. Wojnarowicz war das Unterbewusste des queeren Amerikas der 1980er: voller Wut und Lust und Liebe und Angst.

Und er hatte verstanden, dass diese Wut seine Waffe sein konnte. Das war sein zentrales Projekt, sein zentrales Problem: die queeren Konturen seines Lebens sichtbar zu machen, die Amerika lieber zerstört oder wenigstens zum Schweigen gebracht hätte. Wojnarowicz glaubte, dass diese Artikulation die Macht hatte, „die Grenzen der Illusion einer ONE TRIBE NATION aufzubrechen". Dieser Begriff einer Nation, die sich als ein einheit­licher Stamm verstand, beschrieb für ihn das Zerrbild einer gemeinsamen Erfahrungswelt, das Herz jedes amerikanischen Traums von zweieinhalb Kindern, Dreiergarage und Fertighäuschen, wie man ihn aus den Bildern von Norman Rockwell kennt. Das alles war für ihn Teil einer „schon erfundenen Welt"-also des ganzen Mists, den wir schon bei unserer Geburt übergestülpt bekommen, wie Sprache oder Kapitalismus-und der allein dazu angelegt ist, den Bedürfnissen der Herrschenden zu dienen, wogegen sich Wojnarowicz offen und lautstark auflehnte.

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Die Ironie war natürlich, dass Wojnarowicz trotz seiner ganzen wohlformulierten Wut und eloquenten Lust, in keinster Weise in der Lage war, über sich selbst zu sprechen. Cynthia Carrs Biografie von ihm, Fire in the Belly, erzählt von endlosen Tagebuchseiten voller Geheimnisse, die er nie preisgegeben hat. Es scheint, dass er den verborgenen Wünschen jedes einzelnen Schwulen Amerikas Ausdruck verliehen hat-mit Ausnahme seiner eigenen.

Im Findbuch der Bibliothek hatte es geheißen, dass die Magic Box 58 Gegenstände enthält. 59, wenn man die Kiste selbst mitzählt-eine schlichte weiße Kiste, über deren Deckel sich das Logo „Indian River Citrus" ergießt wie der Saft einer zerquetschten Orange.

Unter den Dingen in der Kiste ist eine Cowboy-Actionfigur, ein Quarzkristall in der Größe einer kleinen Faust, zwei Globusse, ein Knäuel aus Perlenhalsbändern, eine winzige Maske mit zugenähten Lippen, ein Spielzeugweihnachtsmann, eine kleine Tüte Plastikinsekten, eine Reihe Gebetskarten und Fotos von Gurus. Wenn man Wojnarowiczs Arbeiten öfter angeschaut hat, erlebt man ein Déjà-vu nach dem anderen: Hier ist ein Frosch, wie der aus Water, ein Kruzifix, das Why the Church Can't/Won't be Separated from the State entsprungen zu sein scheint.

Die Gebetskarten waren einst um das Bett von Peter Hujar drapiert, Wojnarowicz Mentor und Seelenverwandter, als dieser 1987 an AIDS starb. Carr vermutet, dass die Orangenkiste ebenfalls Hujar gehörte. Wenn es irgendwen gab, der von der Magic Box wusste, dann Hujar. Sie stand unter Wojnarowicz Bett, als er 1992 ebenfalls an AIDS starb, und die Worte „Magic Box" waren in Blockbuchstaben auf einen breiten Streifen Klebeband geschrieben. Carr fand nur einen einzigen Verweis auf die Kiste in seinen Papieren, in einer nicht datier­ten Liste aus einem Tagebuch von 1988: „Die Magic Box in die Installation stellen." Aber Wojnarowicz hatte 1988 gar keine Installationen gebaut. Warum hatte er diese Kiste überhaupt bei sich, und warum war sie geheim? Ich denke, dass zwischen den Antworten dieser beiden Fragen ein enger Zusammenhang besteht. Wojnarowicz verstand die Macht der Resonanz, er wußte, dass alle Dinge Bedeutung ausstrahlen-genau wie die Sonne Photonen ausstrahlt-und er verstand den Einfluss von Nähe auf unsere Fähigkeit zu verstehen. In Do Not Doubt … sagte er über seine Arbeit: „Fotos sind wie Worte und so platziere ich normalerweise viele Fotos neben­einander, oder ich drucke sie eins im anderen, sodass ein frei schwebender Satz entsteht, der über die Welt spricht, die ich wahrnehme."

Wojnarowicz wollte seinen Träumen und Albträumen auf eine Weise Ausdruck verleihen, die ihm das Englische nicht ermöglichte, und schuf seine eigene ganz persönliche Sprache-und jede Sprache braucht ein Wörterbuch.

Wir werden nie wirklich klären können, was ihm die Kiste bedeutete, aber ich sehe sie als Wörterbuch, sein Bildarchiv, seinen Zufluchtsort und seinen Ausgleich. Im Inneren ihrer 20 x 40 x 30 Zentimeter breiten Wände bewahrte Wojnarowicz sein privates Universum auf, die Inspiration all seiner Werke. In einem Brief an seinen Freund Philip Zimmermann schrieb er: „Es befriedigt mich irgendwie, mein Inneres mit dem, was ich produziere, zu kartieren … Es kann helfen, den Druck zu lindern, dem wir als Fremdkörper innerhalb jener sichtbaren Strukturen ausgesetzt sind, an deren Erschaffung wir selbst nicht beteiligt gewesen sind."

Sein letztes Geheimnis? Sich wie ein Fremder zu fühlen und sich einen Heimatplaneten zu schaffen, der von Steinen, Knochen und Federn bevölkert ist, Spielzeugen aus der unschuldigen Kindheit, die er nie hatte, und Erinnerungen an die Dinge, die er geliebt hat, weil im Kern seiner Wut der Wunsch nach einer besseren Welt versteckt war, in der die Schönheit regiert und kein Junge mehr seinen Körper am Times Square verkaufen muss.