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The Hot Box Issue

Der VICE Guide zum Überleben einer tödlichen Krankheit

Philipp verbringt den Großteil seiner Zeit gerade damit zu überleben und dem Krebs in den hässlichen, schrumpeligen und tödlichen Arsch zu treten.

Energie tanken… Mindestens vier mal im Monat muss ich für einen Tag an diese Maschine, die mein Immunsystem umprogrammieren soll. Weshalb das funktionieren soll, ist noch nicht richtig erforscht, aber mir geht es besser damit. Foto von Michael Heinz Kelleners

Die Diagnose Leukämie ist erst mal ein ziemlicher Schock, vor allem in einem Alter, indem du dir um die Zukunft bisher relativ wenig Gedanken machen musstest, sondern lieber dein Leben in vollen Zügen genossen hast, ohne auf irgendetwas Rücksicht zu nehmen. Das ist vergleichbar mit einer Vollbremsung bei 200 Sachen durch eine Betonmauer. Ich hatte auf einmal eine der krassesten Krankheiten, die man auf dieser Welt bekommen kann. Eine akute myeloische Leukämie, an der etwa 3.600 Menschen in Deutschland jedes Jahr erkranken, die allerdings durchschnittlich 68 Jahre alt sind, nicht, so wie ich, 27. Um ein adäquates Mitglied des legendären Club 27 zu werden war ich noch nicht berühmt genug. Also galt es, diese tödliche Scheiße zu überleben. Wie? Na ja, erst einmal durch Chemotherapie, dann durch eine Knochenmarktransplantation. Bei einer Knochenmarktransplantation wird zunächst mal dein komplettes blutbildendes System, das Knochenmark, zerstört. Dies geschieht durch krasse Chemotherapie und durch Bestrahlung, die etwa doppelt so stark ist wie das Zeug, mit dem die Mitarbeiter des Atomkraftwerks in Fukushima während der Katastrophe bestrahlt wurden. Diesen mehrere Wochen andauernden Vorgang verbringst du in einem komplett isolierten Bereich, einer Intensivstation, die völlig keimfrei gehalten wird, da du gar kein Immunsystem mehr hast und jede Infektion dich umbringen kann. Dir geht es beschissen, weil das natürlich alles unglaublich anstrengend für deinen Körper ist. Dann wird das Knochenmark deines Spenders, der vorher für dich gesucht und gefunden wurde, transplantiert. Das Zeug läuft relativ unspektakulär wie bei einer Bluttransfusion durch einen Schlauch in der Halsschlagader in dich hinein. Geht alles gut, fängt es nach ein paar Wochen an, neues Blut zu produzieren. Auch wenn ich für dich hoffe, dass du meine Tipps niemals benötigen wirst, stelle ich dir mit diesem Guide ein paar Strategien zur Verfügung, die vielleicht helfen, dir die eine oder andere miese Erfahrung zu ersparen, oder dir einfach deutlich machen, dass dein Lippenherpes, deine Quarter-Life-Depression oder der Scheidenpilz nun wirklich nicht das Ende der Welt bedeuten.

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Bis ich krank wurde, war ich aktiver Ultra von Fortuna Düsseldorf. Meine alte Crew schickt mir regelmäßig Grüße und meine „United we stand”-Fahne hängt bei jedem Spiel. Foto von Max Brugge

ALLES GUT?
Du kennst die Geschichte: Das kleine Kind hat Leukämie. Ein Spender wird gesucht und gefunden. Es wird transplantiert, und alles ist gut. Sorry, aber in so einer perfekten Welt leben wir leider nicht. Es kann sein, dass es mal vorkommt, dass alles ideal verläuft, aber ich habe ehrlich gesagt noch niemanden getroffen, bei dem es so war. In der Regel bedeutet eine Knochenmarktransplantation, dass du mindestens ein paar Jahre mit vielen Einschränkungen und Regeln leben musst. Wenn du Glück hast nur ein paar Jahre, wenn nicht, für immer. Ich hatte anscheinend so Mittelglück. Der Krebs ist weg, aber die körperlichen Probleme sind krass. Denn weil mein Spender nur zu 80 Prozent genetisch mit mir übereinstimmte, ist mein Transplantat über das Ziel hinausgeschossen und bekämpft nicht nur die Krebszellen, sondern meinen ganzen Körper als potenziellen Feind. Damit meine Organe nicht irgendwann durch mein Immunsystem abgestoßen werden, muss ich einen ganzen Haufen Medikamente nehmen, um das Immunsystem künstlich zu schwächen und trotzdem ein wenig geschützt gegen Krankheiten zu sein. In Spitzenzeiten sind es um die 50 bis 60 Tabletten am Tag, im Moment ca. 30. Weltweit gibt es vielleicht eine Handvoll Menschen, die das, was mit mir passiert, er- und überlebt haben, vor allem, da einige medizinische Voraussetzungen erst seit ein paar Jahren existieren. War eine Leukämie vor 20 Jahren noch ein Todesurteil, so liegen die Überlebenschancen bei der AML, die ich hatte, heute bei ca. 60 Prozent, wenn diese rechtzeitig erkannt und behandelt wird. Aber nicht nur, dass ich noch lebe, macht mich zu einem „Wunder der Medizin“, sondern auch, dass ich jetzt eine andere Blutgruppe als vor der Transplantation habe, denn mein Spender hatte eine andere Blutgruppe als ich und ich habe ja quasi sein blutbildendes System „übernommen“. Jeder Arzt, den ich heute treffe, führt deshalb gerne ein interessiertes Fachgespräch mit mir. Das ist zwar irgendwie cool, ich könnte aber auch gern darauf verzichten. MEDIKAMENTE UND NEBENWIRKUNGEN
Wie bereits erwähnt nehme ich einen Haufen Tabletten. Unter anderem nehme ich regelmäßig Immunsuppresiva, Cortison, Entzündungshemmer, Antibiotika, Virostatika, Magenschutzmittel, Abführmittel, verschiedene Schmerzmittel, unter anderem Morphium, Entwässerungstabletten, Mittel gegen Pilzinfektionen, manchmal Schlaftabletten, dazu kommen Augentropfen, verschiedene Cremes und Thrombosespritzen. Medikamente sind in so einer Situation natürlich unverzichtbar, aber das Zeug hat alle möglichen Nebenwirkungen. Damit diese nicht so krass sind, nimmst du Mittel gegen die Nebenwirkungen. Zum Beispiel verdauungsfördernde Mittel für das Morphium, das du gegen die Schmerzen nimmst, eins der wichtigsten Medikamente überhaupt. Vor Morphium brauchst du keine Panik zu haben, ja, es macht zwar abhängig, aber ansonsten wird es von deinem Körper sehr gut abgebaut, was angesichts deiner katastrophalen Werte ein großer Vorteil gegenüber anderen Schmerzmitteln ist. Ätzend wird es, wenn du vergisst, es zu nehmen. Abgesehen von den Schmerzen, die du nach ein paar Stunden bekommst, fängst du an, aufs Klo zu rennen, denn Opiate haben eine krass stopfende Wirkung, und wenn diese auf einmal weg ist, spielt deine Verdauung verrückt und du rennst nur noch aufs Klo. Wunder dich übrigens nicht, wenn nach der Einnahme von so vielen Medikamenten deine Kacke immer gleich aussieht und nach Chemie riecht, egal was du isst oder trinkst. Das ist bei dem Chemiecocktail, den du dir jeden Tag reinhaust, vollkommen normal. Abhängigkeit ist ein Ding, mit dem du klarkommen musst. Ob du willst oder nicht, du wirst abhängig. Denn viele Medikamente nimmst du dauerhaft. Aber ganz ehrlich, es gibt Schlimmeres—die Versorgung ist ja schließlich gesichert. Aber wenn du jetzt denkst, du könntest dir einen kostenlosen Turn auf dein retardiertes, also verzögert dem Körper zugeführtes Morphium geben, lass dir gesagt sein, breit wirst du in jedem Fall, aber ob es angenehm ist, zehn Stunden völlig verpeilt kotzend im Bett zu liegen …

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Schwimmen geht zwar nicht mehr, aber für ein Fußbad reicht es locker… Behindert da, wo andere Urlaub machen… Foto von Philipp Küpperbusch

UNTERSUCHUNGEN UND OPERATIVE EINGRIFFE
Immer ätzend sind Operationen, am aller ätzendsten Operationen am Arsch. Irgendwann wurde genau das leider notwendig. Dadurch, dass ich eine Abstoßungsreaktion des Darms bekam, hatte ich monatelang Durchfall, der zu Spitzenzeiten bis zu 13—ja, wirklich 13!—Liter am Tag betrug. Der Flüssigkeitsverlust wurde dadurch aufgefangen, dass ich künstlich ernährt wurde und literweise Kochsalzlösungen durch einen Schlauch in meine Halsschlagader gepumpt wurden. Dieser monatelange Durchfall zollte natürlich seinen Tribut, konkret in Form einer Analfissur, also einer permanent offenen Wunde im Inneren des Arschlochs. Bei jedem Stuhlgang, vor allem als dieser langsam wieder fester wurde, fing es nicht nur an tierisch zu bluten, sondern schmerzte auch noch höllisch. Es führte also kein Weg daran vorbei, dieses Problem operativ zu beheben. Alleine schon die Untersuchung beim Proktologen ist ein gutes Gesprächsthema bei deinem Psychologen. Bei der darauf folgenden Operation bin ich dank eines sogenannten Relaxansüberhangs, einer Nebenwirkung, die eigentlich nur bei ca. 0,4 Prozent aller Operationen vorkommt, aus der Vollnarkose aufgewacht, ohne dass ich in der Lage war, mich zu bewegen, geschweige denn zu atmen oder mich in irgendeiner Art und Weise bemerkbar zu machen. Es ist nicht wirklich lustig mitzubekommen, wie mehrere Leute gerade an deinem After rumschnibbeln. Außerdem war der ganze Eingriff natürlich gefolgt von tagelangen Arschschmerzen und blutigen Mullbinden. Insgesamt war das vielleicht nicht der krasseste medizinische Eingriff in meiner Laufbahn als Todkranker, aber gefühlt der schlimmste. Dagegen sind Knochenmarkpunktionen, bei denen erst mit einer Spritze auf dem Beckenknochen rumgekratzt wird, um die Knochenhaut zu betäuben, und im Anschluss mit einem Handbohrer in den nicht betäubten Beckenknochen gebohrt wird, um Knochenmark herauszusaugen, der reinste Spaziergang. Probier bei solchen Untersuchungen nicht, den Harten zu markieren. Für Untersuchungen wie Darm- und Magenspiegelungen, Knochenmarkpunktionen und Leberbiopsien gibt es Dormicum, ein Schlafmittel, das dich relativ zügig ins Land der Träume schickt. Solltest du allerdings ein gewisses medizinisches Interesse besitzen, kann so eine OP wirklich spannend sein! Am Interessantesten fand ich meine Herzkatheter-OP, die während meiner ersten Herzmuskelentzündung gemacht wurde, um auszuschließen, dass ich einen Infarkt habe. Aber grundsätzlich gilt: alles, was unter der Gürtellinie stattfindet, besser schlafend. KRANKENHAUSALLTAG
Dein Privatleben und deine Privatsphäre hast du mit dem Übertreten der Türschwelle des Krankenhauses abgegeben. Du wirst viel Zeit im Krankenhaus verbringen, sehr viel Zeit. Richte dich darauf ein. Die Stationen sind voller todkranker, meist alter Menschen, von denen du, falls du nicht auf einer Isolationsstation mit Einzelzimmer und Desinfektionsschleuse liegst, wirklich alles mitbekommst, von Krankheit und Privatleben bis zu Körperausdünstungen und –ausscheidungen. Es kann dir passieren, dass du dein Mittagessen essen musst, während einer deiner Zimmernachbarn seit Tagen kotzend neben dir liegt, dass du auf dem Weg zur Toilette durch die Urinlache des senilen Opas neben dir laufen musst, die Klobrille mal wieder bekackt ist, oder du halt klassisch den Überschnarcher neben dir liegen hast. Aber auch du kannst der tagelang durchkotzende Typ sein, also ist eine gute Portion Gelassenheit und Rücksichtnahme in der Regel angebracht. Sollte es doch irgendwann zu viel werden, und der Zimmerkoller ausbrechen, sprich einfach das Personal an und bitte darum, dich auf ein anderes Zimmer zu verlegen. Das bringt meistens für einen gewissen Zeitraum Entspannung in die Situation.

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Der Versuch meiner Physiotherapeuten die Krämpfe in den Griff zu kriegen durch Unterstützung der Muskulatur mit speziellen Klebebändern, erinnert auf meinem vernarbten Körper eher an eine Schatzkarte als an Therapie. Foto von Philipp Küpperbusch

MEDIZINISCHES PERSONAL
Menschen sind manchmal unfähige Deppen. Besonders in Unikliniken, also Krankenhäusern, in denen auch gelehrt wird, kann es natürlich vorkommen, dass Medizinstudenten oder junge Assistenzärzte auf dich losgelassen werden. Hier gilt besondere Vorsicht! Es kann passieren, dass die junge Assistenzärztin, die mit den medizinischen Utensilien noch nicht ganz vertraut ist, bei der Blutabnahme das ganze Blut deines Zimmernachbarn auf dich spritzt. Wenn du einen Faible für Twilight hast, mag das ja ganz nett sein, praktisch ist es aber uncool, wenn dein Bettnachbar gerade einen Keim ausbrütet und deshalb 40 Grad Fieber hat und du diesen netten Keim jetzt vermutlich auch hast. Mal ganz davon abgesehen, dass HIV, Hepatitis B oder C oder andere Infektionskrankheiten auch eine Rolle spielen könnten. Mit der Zeit wirst du die immer wiederkehrenden Prozedere kennen und wissen, welche Nadel oder Kanüle zum Blutabnehmen für dich am besten geeignet sind oder wo es am leichtesten geht. Also lass dir nichts erzählen, sondern mach klare Ansagen. Das ist dein Körper, du bestimmst, was damit gemacht wird und was nicht! Ansonsten gibt es natürlich auch oft sehr fähige Leute, gerade in Ambulanzen, die oft mit Krebs- oder Dialysepatienten zu tun haben. Besonders beliebt machst du dich dort übrigens, wenn du ab und an mal eine Runde Süßigkeiten oder belegte Brötchen schmeißt. Das kann viele Dinge wie das Ausstellen von Rezepten, Taxischeinen, Bescheinigungen etc. unkomplizierter machen. Solltest du dir allerdings beim Sex mit einer Krankenschwester einen Nerv im Rücken eingeklemmt haben, dann lüge! Krankenhauspersonal zerreißt sich das Maul grundsätzlich mehr als die Regenbogenpresse. Das bringt uns zum nächsten Thema: SEX UND DEINE KRANKHEIT
Solltest du wirklich in den Genuss von regelmäßigem Sex mit einer Krankenschwester oder einem Krankenpfleger kommen, und möchtest diese Zusatzleistung die von keiner privaten Krankenkasse abgedeckt wird, auch weiterhin in Anspruch nehmen, erzähl bloß niemanden davon. Es ist zwar nicht verboten, etwas mit einem Patienten anzufangen, aber wie gesagt, Krankenhäuser sind Moloche übler Nachrede und Mobbing. Eine Pflegepersonal/Patienten-Beziehung ist da natürlich ein gefundenes Fressen, vor allem weil du ja wirklich eine tödliche Krankheit hast. Auch wenn du jetzt denkst, ich trage dick auf und hab zu viele schlechte Pornofilme gesehen, liegt es tatsächlich für dich im Bereich des Möglichen, etwas mit einer Schwester oder einem Pfleger anzufangen. Ich spreche da aus Erfahrung. Es gibt nämlich viele begünstigende Faktoren: - Ihr verbringt vermutlich eine Menge Zeit miteinander, vor allem im Nachtdienst gibt es sehr viele gute Möglichkeiten, sich besser kennenzulernen. Damit meine ich nicht, miteinander zu schlafen, das wird im Krankenhaus vermutlich eher nie passieren. Sondern so wirklich kennenzulernen. Wenn es dann so weit sein sollte, hat auch Krankenhauspersonal irgendwann mal Feierabend und eine Wohnung, die in den meisten Fällen nicht so weit von der Klinik entfernt liegt. Wer fährt schon gerne lang zur Arbeit? - Die meisten Paare lernen sich auf der Arbeit kennen. - Du hast vermutlich wenig Konkurrenz, da die meisten anderen Patienten oft wesentlich älter und unattraktiver sind als du. - Krankenschwestern und Pfleger haben oft einen Helferkomplex, den du geschickt für deine Zwecke einsetzen kannst. - Glatze finden viele sowieso sexy, und nach der ersten Chemo sind Haare kein Thema mehr bei dir. Nirgendwo an deinem Körper. Erstaunlich übrigens: Im Intimbereich fallen die Haare zuerst aus. Für Heterofrauen ist es allerdings wesentlich schwerer, im Krankenhaus etwas klarzumachen, denn männliche Krankenpfleger sind erstens viel seltener und, zumindest meiner Erfahrung nach und dem Klischee enstprechend, überdurchschnittlich oft schwul. Die besten Chancen ergeben sich da vermutlich eher bei jungen Assistenzärzten, Praktikanten oder den Typen, die dich immer von Untersuchung zu Untersuchung bringen. Ihr solltet also besser versuchen, Mitleidsex in eurem Freundes- und Bekanntenkreis zu bekommen. Das klappt natürlich auch als Junge ganz gut. Der Spruch: „Es könnte das letzte Mal sein“, nach einem netten Kinoabend, Abendessen oder Glas Wein in einer der Phasen, in der du ausnahmsweise nicht im Krankenhaus bist, sollte in der Regel ziehen. Auch hier eignen sich natürlich besonders Personen mit ausgeprägtem Helferkomplex. Und jetzt mal ehrlich: Scheiß auf deine bescheuerte Selbstachtung—erstens könnte es tatsächlich dein letztes Mal sein und zweitens ist das immer noch besser als eine schnelle Nummer mit irgendeinem Besoffski auf der Clubtoilette, oder nicht? Sex während der Krankheit ist tatsächlich auch gesundheitsfördernd, vor allem weil er dir hilft den ganzen Krankheitsmist psychisch besser klarzukriegen. Deshalb solltest du wirklich jede Gelegenheit nutzen, Sex zu haben, denn es wird vermutlich eine Zeit kommen, in der du definitiv keinen Bock haben wirst, jemanden in deine Nähe zu lassen, oder es auch ganz einfach körperlich nicht schaffst.

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Tablettenstellen für die nächsten fünf Tage. Nehm ich die Tabletten zu den Mahlzeiten ein, fragen Leute mich ob ich satt bin. Foto von Philipp Küpperbusch

LIFECLEANING
Wenn du schon einmal dabei bist, dein Leben richtig aufzuräumen, mach es doch richtig. Langsam wird klar, dass du die nächsten Monate oder Jahre vermutlich nicht in der Lage sein wirst, ein autarkes Leben zu führen. Die Familie kann, sollte dein Familienleben einigermaßen intakt sein, sehr hilfreich sein. Du musst dir Gedanken machen, ob es sich lohnt, deine Wohnung oder dein WG-Zimmer weiterhin zu mieten, da du vermutlich eh die meiste Zeit im Krankenhaus bist. Deshalb solltest du dir eine Person deines Vertrauens suchen, die du damit betraust, die restlichen Partydrogen, Pornos, Sexspielzeuge und diversen illegalen Dinge, von denen du nicht unbedingt möchtest, dass sie deinen Angehörigen in die Hände geraten, aus deinem bisherigen Lebensraum zu entfernen. Mittlerweile weiß vermutlich auch dein ganzer Freundes- und Bekanntenkreis, dass du ernsthaft krank bist, und vermutlich wird sich auch schon herausgestellt haben, wer wirklich deine Freunde sind, und auf wen du getrost verzichten kannst. Ich habe es übrigens vermieden, meine Eltern mit den Details meiner Patientenverfügung oder Wünschen für meine Beerdigung zu belasten und habe so etwas mit dem Sozialdienst geklärt. Ich wollte zum Beispiel, dass meine Freunde eine richtig exzessive Party feiern, falls ich es nicht schaffe, und habe zu diesem Zweck meinem besten Freund einen Umschlag mit ein paar Hundert Euro, die ich zusammengekratzt habe, und eine Liste meiner Lieblingssongs gegeben, und ihn gebeten im Fall der Fälle alles zu organisieren. Ein Testament muss aber nicht unbedingt sein, da man in der Regel in unserem Alter eh nicht viel zu vererben hat. Diesen Umschlag nach Überstehen des Gröbsten erst mal wieder zurückzubekommen, ist übrigens ein ziemlich gutes Gefühl … DU UND DEIN KÖRPER
Ihr werdet einiges zusammen durchmachen. Auch wenn du bisher immer Raubbau an ihm betrieben hast, wirst du schnell feststellen, dass es besser miteinander als gegeneinander klappt. Ich hatte während meiner Krankheit Gewichtsschwankungen von um die 50 Kilo. Mein Maximalgewicht lag bei 110 Kilo, mein geringstes Gewicht bei 59 Kilo. Und das innerhalb von zweieinhalb Jahren. Das kam dadurch, dass ich während der hoch dosierten Cortison-Therapie gegen die Abstoßungsreaktion meines Darms zwar mehrere Monate künstlich ernährt wurde, aber trotzdem ohne Ende Flüssigkeit eingelagert habe. Auch meine Muskulatur ist komplett weggeschmolzen und nach ein paar Wochen auf der Intensivstation war ich nicht mehr in der Lage, alleine aufzustehen, geschweige denn zu laufen. Später konnte ich mich nicht einmal mehr alleine aufrichten. Meine Unterarme sehen nach den beinahe täglichen Blutabnahmen aus wie nach einer jahrelangen Drogenkarriere im Frankfurter Bahnhofsviertel, und mein Körper ist übersät von sogenannten Schwangerschaftsstreifen, Narben und Hautveränderungen durch eine Gürtelrose. Knochen haben sich verformt, Teile meiner Nasenscheidewand sind weg, meine Finger- und Fußnägel reißen ein oder brechen ständig ab, ich habe Sklerose an den Beinen, also quasi nur noch eine dünne, pergamentartige Haut, ich kann oft schlecht sehen, kann schlecht und nicht weit laufen, habe oft Schmerzen, darf mich nicht anstrengen, weil mein Herzmuskel ständig entzündet ist, und noch viele weitere „Kleinigkeiten“. Aber es sind Kleinigkeiten, verdammt, weil ich immer noch lebe und gemerkt habe wie es sein kann, wenn es noch schlechter ist! Ich habe meinen Schwerbehindertenausweis zwar nicht ohne Grund, aber ich antworte auf die Frage, wie es mir geht, grundsätzlich mit: „Gut, den Umständen entsprechend natürlich.“

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Es sind die kleinen Dinge im Leben. Noch mal das Meer sehen. Auch wenn man gerade nicht mehr laufen kann, weil das Cortison deine Muskeln vernichtet und dich aufschwemmt wie ein Michelin-Männchen. Foto von Philipp Küpperbusch

SOULCLEANING
Aber auch nur theoretisch, denn natürlich kommt nach ein paar Monaten zu Hause trotzdem irgendwann Langeweile auf, und du stellst dir die Frage, ob du den ganzen Mist durchgemacht hast, um den Rest deines Lebens mit belanglosem Kram zu verplempern. Denn du hattest zwar Krebs, aber du bist ja nicht auf den Kopf gefallen. Du wirst das Leben mittlerweile mit ganz anderen Augen sehen und weißt definitiv die kleinen Freuden des Lebens zu schätzen, ich weiß, es klingt unglaublich kitschig, aber es ist nun einmal so. Wenn du morgens zwei Stunden zum Aufstehen gebraucht hast, weil du Angst vor dem Schmerz beim Aufrichten hattest, beginnst du das Leben einfach irgendwann anders zu sehen. Dir wird klar, dass es nicht mehr so sein wird wie früher, weil die ganzen körperlichen Einschränkungen es nicht mehr zulassen, und all die Pläne, die du früher hattest, tolle Reisen um die Welt zu machen, der krasse Job, die dicke Kohle und im Zweifelsfall sogar eigene Kinder einfach nicht mehr drin sind. Aber was soll’s? Irgendein Zufall und der Fortschritt der Medizin haben es dir ermöglicht, dass du dir überhaupt noch Gedanken machen kannst, also nutze diese Chance und entwickle neue Perspektiven für dich. Wofür hast du die ganze Scheiße denn sonst durchgemacht? Und ja, es werden neue Rückschläge kommen, irgendeine nervige und schmerzhafte Komplikation wird wieder auftreten, also noch ein Grund mehr, jeden Tag so zu leben, als sei es dein letzter. Yolo! Du kannst der gechillteste Mensch der Welt werden, denn wer soll dir bitte jetzt noch querkommen? Du bist eine moralische Instanz, die meisten anderen Menschen in deinem Umfeld können sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, was du real durchgemacht hast, und was es dir bedeutet, einfach nur zu leben. Nervig ist zwar, dass du ständig bemitleidet wirst, weil du so krank bist, aber da stehst du mittlerweile drüber. Denn dieselben Menschen laufen unglücklich durch die Gegend und bedauern sich, weil irgendeine Kleinigkeit nicht so läuft, wie sie es gerne hätten. Das kann dir nicht mehr passieren. Was soll jetzt, außer zu sterben, noch dramatisch schiefgehen? Dazu kommt, dass du moralisch beinahe unbesiegbar bist (es sei denn, wir treffen uns), denn wer soll dich besiegen, wenn du es noch nicht einmal selber geschafft hast? Life is beautiful!

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Erster Ausflug nach vier Monaten Isolation auf der Intensivstation. Ohne richtiges Immunsystem müssen Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden. Foto von Philipp Küpperbusch

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