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300 gegen 3: Die Berliner Polizei belagert einen Baum am Oranienplatz

Die drei letzten Aktivisten auf dem Oranienplatz wollen nicht gehen. Um mit ihnen zu sprechen, mussten wir uns durch einen ganzen Belagerungsring von Polizisten arbeiten.

Fotos: Grey Hutton. Thank you, Grey!

Am Oranienplatz ist einen Tag nach der Räumung durch einen Teil der Flüchtlinge immer noch dicke Luft. Die Strategie der Berliner Integrationssenatorin Dilek Kolat ging nur zum Teil auf. Nachdem sie einen Teil der Flüchtlinge durch vage Versprechungen zum Abriss des Lagers bewegen konnte, machten die sich daran, die Behausungen auch gegen den Willen derer einzureißen, die dem Kompromiss nicht zugestimmt hatten.

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Dadurch sparte man sich eine gewaltsame Räumung durch die Polizei—die Flüchtlinge erledigten das sozusagen untereinander. Und Kolat konnte bei der Pressekonferenz ihre „Hochachtung“ gegenüber den Flüchtlingen ausdrücken, die ihr die Drecksarbeit abgenommen hatten. Die unzufriedenen Flüchtlinge und ihre Unterstützer traf diese Aktion völlig unvorbereitet, so dass es fast zu einem völlig reibungs- und geräuschlosen Ende der anderthalbjährigen Besetzung des Platzes gekommen wäre. Aber nur fast.

Im Laufe des Nachmittages schafften es die Unterstützer, eine gewisse Menge an Demonstranten auf dem Oranienplatz zu versammeln, so dass die grüne Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann sich schließlich doch gezwungen sah, genau das anzufordern, was man die ganze Zeit vermeiden wollte: massive Polizeipräsenz, die zuerst den Platz abriegelte und die Demonstrierenden dann nach und nach nach Hause schickte oder verhaftete. Nur zwei Flüchtlinge und ein Aktivist, die auf eine Platane mitten auf dem Platz geklettert waren, weigern sich bis heute, ihren spontan gewählten Protestort zu verlassen.

Amir, Ingo und Napuli sind die letzten Besetzer auf dem Oranienplatz.

Die Polizei hat gewohnt verhältnismäßig reagiert und das Umfeld des Baumes großflächig abgesperrt. Die erste Reihe bilden Bauzäune, bewacht von mindestens hundert Polizisten, die sich wiederum selbst durch rot-weißes Absperrband vor der Außenwelt schützen. Diese Blockade sei vom Bezirksamt angefordert worden, um zu gewährleisten, dass die Neubegrünung des Platzes ungestört vorangehen kann, erklärte mir ein Pressesprecher der Polizei. „Die drei stören nicht bei dem Begrünen, also haben wir mit den Maßnahmen fortgefahren.“

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Von Begrünungsarbeiten war allerdings nichts zu sehen. Viel wichtiger schien den Polizisten, dass niemand den drei im Baum Ausharrenden Decken oder Nahrungsmittel zukommen lassen kann, die ihnen den Protest etwas erleichtern würden. Wir konnten nur mit Amir, Ingo und Napuli sprechen, nachdem wir unsere Presseausweise geschwenkt und hoch und heilig versprochen hatten, „denen nichts hochzureichen“. (Die Polizei hat dann auch ziemlich gekränkt reagiert, als wir das Versprechen später gebrochen haben.)

Amir, Flüchtling

Hast du die Nacht auf dem Baum verbracht?
Ja, es ist Folter. Das ist Polizei-Folter, was die hier mit uns machen! Wir bekommen kein Essen, keine Decken, nicht mal Tabak! Die lassen niemanden durch! 
Auf Deutsch zu den Polizisten: Mord, Folter, Deportation—das ist deutsche Tradition!

Was wollt ihr durch euren Protest erreichen?
Wir wollen, dass die Behörden zeigen, dass sie ehrlich sind. Dass sie nicht weiter versuchen werden, uns zu trennen, wie sie das auf dem Oranienplatz gemacht haben. Wir wollen einen Info-Point, einen Meeting-Point und ein Zelt. Wir wollen, dass sie zugeben: Wir sind am Leben, wir sind politische Aktivisten! Und die zwingen uns zum Hungerstreik.

Warum bist du mit der Räumung gestern nicht einverstanden?
Es war tragisch. Sie machen das hier mit Kolonialmethoden wie in Afrika, sie spalten die Menschen, und dann kommen die und zerstören unsere Zelte. Da in der Ecke stand ein Zelt mit dem Namen Allahs drauf, das haben sie auch einfach weggerissen. Ich bin nicht religiös, aber wie können die so was machen?

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Wie lange wollt ihr bleiben?
Bis der Senat kommt und mit uns redet. Wir haben keine andere Möglichkeit, für unsere Rechte zu kämpfen.

Ingo, Unterstützer

Warum bist Du auf dem Baum?
Um gegen die Räumung des Platzes zu protestieren. Die Vereinbarungen haben deutlich gesagt, dass die Flüchtlinge selbst das Lager räumen würden. Das ist nicht passiert! Nicht alle Bewohner waren einverstanden, aber da wurden andere Flüchtlinge, teilweise aus dem Wedding gebracht, die das erledigt haben.

Was sind eure Forderungen?
Wir fordern einen vernünftigen Infostand, wie er uns versprochen wurde, mit einer vernünftigen Größe. Außerdem fordern wir das Zirkuszelt, das dazu gehört. Und als Drittes fordern wir ein Zelt für die Flüchtlinge, die jetzt nicht untergekommen sind. Es sind ja längst nicht alle irgendwo untergekommen! Das sind doch keine überzogenen Forderungen, oder?

Wie lange wollt ihr da oben bleiben?
Wir wollen, dass Frau Kolat hierher kommt und mit uns spricht. Solange bleiben wir hier.

Napuli, Flüchtling

Warum bist du auf dem Baum?
Weil sie mir mein Zuhause genommen haben. Wir haben da gelebt, und plötzlich zerstören sie unser Zelt. Wo soll ich denn hin?

Glaubst du, ihr könnt so etwas erreichen?
Wir brauchen erstmal dieses Infozelt, um über Flüchtlingspolitik zu informieren. Wir brauchen ein Zelt, um darin zu schlafen. Dann können wir über die echten Forderungen sprechen: Ende der Residenzpflicht, die Lagerpflicht. Seit 2012 haben wir nichts bekommen!

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Hast du die Nacht auf dem Baum verbracht? Wie war das?
Eiskalt, es hat geregnet. Sie geben uns nichts, nichts zu essen. Sie zwingen uns, hier einen Hungerstreik zu machen. Wir haben doch keine Wahl! Wir haben gar nichts mehr, keine Würde mehr. Wenn ich nicht arbeiten darf, wozu bin ich dann gut? Ich dachte immer, Deutschland ist das Land der Demokratie. Wo ist eure Demokratie? Wo sind die Menschenrechte? Was ist der erste Paragraph in eurem Grundgesetz?

Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Genau! Sind wir keine Menschen? Wo ist unsere Würde? Vergesst nicht: Niemand will ein Flüchtling sein, niemand sucht sich das aus. Aber wir haben keine Wahl! Sie behandeln uns wie Sklaven.

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Während wir uns unterhielten, versuchte eine Frau, durch die Absperrung zu gelangen, und wurde sofort von den Polizisten gegriffen und in einen Einsatzwagen geschleift. Auch von den Flüchtlingen, die sich auf der anderen Seite des Platzes versammelt hatten, wurde zwischendurch einer abgeführt.

Als wir versuchten, ebenfalls auf den Baum zu klettern, verhinderten die Polizisten das sofort, und als wir Amir eine halbe Zigarettenschachtel hochwerfen wollen, wurden sie richtig böse. „Verstehen Sie das nicht?”, rief ein aufgebrachter Beamter. „Wir möchten, dass keinerlei Unterstützungshandlungen in Form von Essen oder Ähnlichem gegeben wird“, erklärte mir der sofort herbeigelaufene Pressesprecher. „Sie können jederzeit runterkommen und hingehen, wo sie wollen.“ Wir durften dann auch gehen.

Canan Bayram

Hinter der Absperrung traf ich eine sehr nachdenkliche Canan Bayram, die Abgeordnete für Friedrichshain/Kreuzberg und Sprecherin für Integrationspolitik in der Grünen-Fraktion. Ich fragte sie, was sie von dem Polizeiaufgebot hielt. „Zuviel blau, und zuviel grün“, lachte sie. „Was soll ich sagen? Die armen Leute.“ Die Frage, ob es die richtige Entscheidung ihrer Parteigenossin Monika Herrmann war, diesen Einsatz anzufordern, fand sie schwierig. „Ich bin ja keine Bezirkspolitikerin. Aus bezirklicher Perspektive sieht sie wohl, dass es keinen anderen Weg gibt, eine Wiederbesetzung zu verhindern“, grübelte sie. „Ich kann das ehrlich gesagt nicht nachvollziehen.“