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Die Rape Culture wurde nicht importiert – sie war schon immer da

Wer nach den Vorfällen in Köln einen #aufschrei aus feministischen Kreisen fordert, hat gar nichts verstanden. Ein Gastbeitrag von Stefanie Lohaus und Anne Wizorek.
Foto: imago | Christian Mang

Ein in Sachen sexualisierter Gewalt halbwegs sensibilisierter Mensch kann sich dieser Tage nur verwundert die Augen reiben—wenn er nicht schon vor Wut schäumt. Die Gewalt am Kölner Hauptbahnhof als singuläres Ereignis darzustellen, als Ausnahme, die von außen über uns hereingebrochen ist, schadet von Gewalt Betroffenen mindestens so sehr wie die Verwendung des Begriffs „Antanzen" für die Art der Übergriffe: Ein Wort, das sexualisierte Gewalt und Raub verharmlost, bagatellisiert und exotisiert. Plötzlich sprechen alle möglichen Medien von Rape Culture—und meinen damit die Rape Culture woanders, also in Tunesien oder in Indien, weil die polizeibekannten Intensivtäter „arabisch" oder „nordafrikanisch" aussehen, also keine weißen Männer waren. Und die Deutsche Polizei-Gewerkschaft (DPolG) vermeldet, dass es „unwahrscheinlich" sei, den Tätern „individuell und konkret" Straftaten nachweisen zu können. Somit sei ungewiss, „ob es im Fall der Übergriffe in Köln auch nur zu einer einzigen Verurteilung kommen wird."

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Dass die Gesellschaft und ihre Institutionen nicht in der Lage sind, Betroffene von Gewalt zu schützen und Täter zur Rechenschaft zu ziehen, ist jedoch keine Überraschung und mit Sicherheit nicht der Tatsache geschuldet, dass es hier bisher keine sexualisierte Gewalt gegeben hätte: Die Rape Culture ist längst da. Dieser Begriff beschreibt Gesellschaften, in denen sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung verbreitet sind und weitgehend toleriert werden.

Bei allen Großereignissen, wie etwa dem Oktoberfest, kommt es immer wieder zu sexuellen Übergriffen und auch Vergewaltigungen: „Allein der kurze Weg zur Toilette ist der reinste Spießrutenlauf. Drei Umarmungen von wildfremden, besoffenen Männern, zwei Klapse auf den Hintern, ein hochgehobener Dirndlrock und ein absichtlich ins Dekolleté geschütteter Bierschwall sind die Bilanz von dreißig Metern", schrieben die Autorinnen Karoline Beisel und Beate Wild 2011 in der Süddeutschen Zeitung. Und weiter: „Reagiert man abweisend, wird man auch schon mal als ‚Schlampe' beschimpft – oder schlimmer." Laut einem Artikel der taz werden im Schnitt allein zehn Vergewaltigungen pro Oktoberfest gezählt, die Dunkelziffer wird auf 200 geschätzt. [Anmerkung der Redaktion: In der ursprünglichen Form dieses Artikels war der Beitrag der taz noch nicht verlinkt. Die Pressestelle des Polizeipräsidiums München dementierte die genannten Zahlen jetzt außerdem gegenüber der FAZ.]

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Erlebnisse wie diese, die Beschimpfung als „Schlampe", das Angrapschen in der vollen U-Bahn, die Verfolgung bis vor die Haustür, Vergewaltigung durch Freunde der Familie oder eine Polizei, die nichts davon glauben mag: Das alles sind Erfahrungen, die unter #aufschrei geteilt wurden. Doch was gab es damals von rechtskonservativer Seite als Reaktion? Das sind halt ein paar Männer, die doch eigentlich nur missverstandene Flirtversuche aussenden, und Frauen sollten sich mal nicht so haben, sondern diese als Kompliment annehmen. Sie seien ja schließlich selbst schuld daran, wenn sie freizügig herumliefen.

Anne Wizorek bei einem Vortrag zu den Auswirkungen von #aufschrei 2013. Foto: re:publica | Flickr | CC BY-SA 2.0

aufschrei war dabei keine Reaktion auf den Stern-Artikel „Der Herrenwitz". #aufschrei war erst recht kein Shitstorm gegen Rainer Brüderle. #aufschrei war eine Ad-Hoc-Kampagne, bei der Betroffene ihre Erfahrungen mit Alltagssexismus und sexualisierter Gewalt schilderten. Ein Befreiungsschlag, um endlich über all die Dinge zu sprechen, die sonst tabuisiert oder gar normalisiert werden. Die Belege aus erster Hand hierfür sind nicht zuletzt im Netz schon lange frei zugänglich. Wer heute also immer noch behauptet, #aufschrei sei ein bloßer Angriff auf Brüderle gewesen, ist mindestens uninformiert und möchte feministischen Aktivismus lediglich in das Narrativ der hysterischen Empör-Emanzen pressen, die sich zwar über „doofe Sprüche an der Bar" aufregen können, aber eben nicht über massive Übergriffe. Die Sache ist nur: Feminist_innen kritisieren das ganze Jahr, dass wir nicht genügend über Sexismus sprechen, dass sexualisierte Gewalt tagtäglich passiert und wir ein so großes gesamtgesellschaftliches Problem trotzdem kaum öffentlich diskutieren, geschweige denn Lösungen thematisieren.

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Und nun fragen unter anderem Jens „Frauen essen die ‚Pille Danach' wie Smarties" Spahn, der Chef der Polizeigewerkschaft Rainer Wendt und Birgit „Mach doch die Bluse zu" Kelle doch tatsächlich, warum es denn keinen „Aufschrei" wegen der Ereignisse in Köln gegeben hätte. Dabei muss die Frage vielmehr lauten: Wo gucken diese Menschen eigentlich mit ihrem beschränkten Weltbild hin? Die öffentliche Debatte ist dominiert von den Ereignissen, unzählige Menschen drücken ihr Mitgefühl für die Betroffenen aus und wünschen eine angemessene Bestrafung der Täter.

Screenshot: Twitter

Dass viele von ihnen erst Anfang der Woche von den Ereignissen und ihrem Ausmaß erfahren haben, liegt daran, dass die überregionale Berichterstattung erst spät einsetzte und eben auch in Zeiten von Social Media eine Ferienzeit, und damit eine gewisse Trägheit in der Verbreitung, nicht zu unterschätzen ist. Daraus aber den Vorwurf zu stricken, gerade Menschen, die sich bereits jahrelang gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt engagieren, würden sich nicht um das Geschehen in Köln und anderswo scheren, ist eine perfide Unterstellung—aber das wissen die entsprechenden Protagonist_innen freilich selbst.

Realitäten in Deutschland

Die unter #aufschrei geteilten Erlebnisse decken sich mit dem, was Statistiken über die Situation in Deutschland sagen. Die Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland", bei der 2004 10.000 Frauen zu Gewalterlebnissen befragt wurden, ergab, dass 13 Prozent aller Frauen in Deutschland strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt erfahren haben. Der Skandal: Nur acht Prozent dieser Frauen haben überhaupt eine Anzeige bei der Polizei erstattet. Rechnet man Mehrfachanzeigen raus, verringert sich die Quote noch weiter, auf fünf Prozent. Das heißt, unfassbare 95 Prozent aller Frauen, die in Deutschland sexuelle Gewalt erleben, bringen diese nicht zur Anzeige. Taten werden schlichtweg nicht angezeigt—und damit auch nicht sichtbar.

Das ist kein Zufall, denn Betroffene von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gehen ein hohes persönliches Risiko ein, wenn sie diese anzeigen: Sie könnten als Lügner_in abgestempelt werden. Denn bei 87 Prozent aller Verfahren werden die Täter nicht verurteilt. Medien sprechen trotzdem lieber lang und ausführlich über die falschen Beschuldigung und Anzeigen, obwohl diese marginal sind: Sie rangieren je nach Statistik und Land zwischen einem und 9 Prozent aller angezeigten Fälle, für Deutschland wird ein Wert von 3 bis 5 Prozent angenommen.

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Der Grund für die niedrige Verurteilungsquote von Sexualstraftätern liegt darin, dass nach deutschem Strafgesetzbuch § 177 für eine Verurteilung vor allem das Verhalten des Opfers relevant ist. Damit der Täter verurteilt wird, muss das Opfer nachweisen, dass es Widerstand gegen die Gewalt geleistet hat. Eine vollkommen absurde Regelung, die auf zahlreichen Mythen basiert, wie und warum sexualisierte Gewalt ausgeübt wird. So kommt es, dass die Schockstarre, eine häufige natürliche Reaktion auf Gewalt, dazu führt, dass Täter nicht verurteilt werden. Man stelle sich vor, dass die Beurteilung eines Diebstahl danach bewertet würde, ob der/die Bestohlene sich ausreichend gewehrt hätte: „Sorry, du hast die Handtasche nicht genug festgehalten, du bist selbst schuld." Auch der Vorschlag von Kölns Bürgermeisterin Henriette Reker, Frauen im Karneval sollten #eineArmlänge Distanz halten, geht in diese Richtung.

Diese Regelung und vor allem die Entstehung dieser Regelung ist Teil von Rape Culture, von Annahmen, wie Gewalt und Vergewaltigung passiert, was Sex ist, wie sich ein „richtiges" Opfer zu verhalten hat. Und es sind Regelungen wie diese, die Täter in Sicherheit wiegen lassen. Dabei ist es vollkommen egal, welche Hautfarbe oder Religion diese Täter haben. Bei den Ereignissen in Köln werden wir sehen, ob die stattgefundenen sexuellen Übergriffe im gleichen Ausmaß verfolgt werden können wie die gleichzeitige Entwendung von Wertgegenständen: Bisher haben 90 Frauen Anzeige erstattet, laut Zeit Online handelt es sich bei 75% davon um Anzeigen wegen „Sexualdelikten" (wie es im Beamtendeutsch heißt). In zwei Fällen geht es konkret um eine Vergewaltigung.

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Was zu tun ist

Es bleibt festzuhalten: Sexualisierte Gewalt zieht sich durch alle Schichten, sie findet zu allen Tageszeiten statt, an sämtlichen Orten und sie kann alle Geschlechter betreffen. In den meisten Fällen trifft es aber nach wie vor Frauen. Es geht nicht darum, die schrecklichen Silvestervorfälle in Köln und anderen Städten zu relativieren. Vor allem ist zu hoffen, dass den Betroffenen ausreichende Hilfe zukommt, damit sie das Trauma dieser Nacht überwinden können.

Screenshot: Twitter

Wenn wir über die Ereignisse sprechen, müssen wir dies aber im gesamten Kontext von Rape Culture tun. Dazu gehört unter anderem auch, die zu großen Teilen unsägliche Berichterstattung zu kritisieren, in der mitunter von „Sex-Banden", „Sex-Attacken" oder einem „Sex-Mob" die Rede ist. Sexualisierte Gewalt hat niemals etwas mit Sex zu tun. Begriffe wie diese verschleiern den Machtaspekt, der immer mit sexuellen Übergriffen einhergeht. Genauso wie es journalistisch unverantwortlich ist, Zahlen zu verbreiten, die einfach nicht der Faktenlage entsprechen, dafür aber Pegida und Co. neues Futter geben.

Die #aufschrei-Debatte war jedenfalls nie vorbei. Wir haben nun die Gelegenheit, wieder daran anzuknüpfen, um endlich darüber zu reden, wie Sexismus und sexualisierte Gewalt zusammenhängen—und was wir als Gesellschaft dagegen tun können. Wichtig ist, dass wir diese Probleme als gesamtgesellschaftlich anerkennen und nicht so tun, als würden sie ausschließlich von einzelnen Menschengruppen, etwa muslimischen Männern, ausgehen.

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Niemand verneint, dass auch Männer mit Migrationshintergrund oder muslimischem Glauben sexuelle Straftaten begehen. Aber so zu tun, als wären sie die einzigen und sogar noch aufgrund ihres kulturellen Hintergrunds darauf „programmiert", während für die Straftaten weißer „Einheimischer"alle möglichen Formen von Entschuldigungen und Verharmlosungen gefunden werden, ist und bleibt rassistische Hetze—und wird unsere Probleme nicht lösen. Vielmehr sollten in der Debatte endlich muslimische Männer zu Wort kommen dürfen, die sich für Gleichberechtigung stark machen. Frauenrechte und Feminismus für Rassismus zu instrumentalisieren, darf nicht Konsens der Geschlechterdebatte werden—ob nun von der Neuen Rechten ausgehend oder von innerfeministischen Kreisen (Looking at you, Alice Schwarzer).

Foto: Kecko | Flickr | CC BY 2.0

Doch wie können Lösungen jetzt aussehen? Mehr denn je brauchen wir nun zum Beispiel das von Rechten gerne als bloße Geldverbrennung diffamierte Gender-Mainstreaming. Darunter kann die Einführung einer geschlechtersensiblen Pädagogik fallen. Wenn heutzutage immer noch aus Kindergärten zu vernehmen ist, dass ein Mädchen sich nicht beschweren darf, sobald sie von einem Jungen gehauen wird und dies mit „er mag dich halt und kann es nicht anders zeigen" erklärt wird, macht das deutlich, wie früh bereits schädliche Geschlechterstereotypen am Werk sein können.

Auch eine Stärkung der Strukturen derjenigen, die sich in Beratungsstellen, Notrufen und Frauenhäusern für die Opfer von sexualisierter Gewalt engagieren, ist längst überfällig. Denn diese arbeiten mit sehr wenigen finanziellen Mitteln, häufig ehrenamtlich, immer unter Rechtfertigungsdruck und mit dem stereotypen Vorwurf konfrontiert, männerhassende Hysterikerinnen zu sein. Wenn irgendetwas Gutes aus dieser Geschichte wachsen sollte, dann eine höhere Wertschätzung und bessere finanzielle Unterstützung dieser Arbeit, denn sie ist dringend nötig. Genauso wie es mehr Therapieplätze und einen leichteren Zugang zu diesen für von Gewalt Betroffene geben muss.

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Warum die Aufklärung der Straftaten von der Silvesternacht in Köln so schwierig ist.

Ein weiterer Punkt ist es, die Polizei stärker für das Problem sexualisierter Gewalt in ihren verschiedenen Ausformungen zu sensibilisieren, zum Beispiel auch speziell für Taten, die im Rahmen von Großereignissen wie Karneval oder Oktoberfest verübt werden. Überfällig ist ebenso die Reform des §177, dem Paragrafen zu sexueller Nötigung und Vergewaltigung. Am 1. August 2014 trat das Übereinkommen des Europarats über die „Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt", die sogenannte Istanbul-Konvention, in Kraft. Deutschland konnte diese nicht ratifizieren, weil es die Defizite bei der Strafverfolgung, aber auch bei Opferschutz und -entschädigung gibt. So gilt das „Nein" einer betroffenen Person bisher nicht als Grundlage dafür, eine Vergewaltigung auch als solche anzuerkennen. Ein untragbarer Zustand.

Was aus der Debatte um die Ereignisse in Köln bisher am Deutlichsten wurde: Wir haben ein Sexismus- und ein Rassismusproblem. Beide sitzen tief und sind keineswegs „importiert". Es liegt allein an uns als Gesellschaft, dafür zu sorgen, dass wir keinen Nährboden für Diskriminierungen und Gewalt liefern. Wir müssen weg von einer Kultur des „Du willst es doch auch!" und hin zu einer Kultur des „Willst du auch?". Weg von einer Rape Culture und hin zu einer, die einvernehmliches Miteinander auf Augenhöhe zelebriert und Grenzen respektiert. Und das gilt für alle Menschen, denn jeder sexuelle Übergriff ist einer zu viel—egal wo und von wem er ausgeübt wurde.

Folgt Stefanie und Anne bei Twitter: @slow_haus @marthadear.


Titelfoto: imago | Christian Mang