FYI.

This story is over 5 years old.

News

Die Stimmen, die nicht zählen

Nicht jeder hat heute das Privileg bei dieser letzten Wahl des Superwahljahres 2011 seine Stimme in eine Urne zu werfen.

Nicht jeder hat heute das Privileg bei dieser letzten Wahl des Superwahljahres 2011 seine Stimme in eine Urne zu werfen. Manche haben nicht einmal eine feste Anschrift in dieser Stadt. Wir haben uns mit drei Obdachlosen unterhalten, um zu erfahren, was sie von der Politik halten, die ohne ihre Partizipation gemacht wird.

Marie (65) Obdachlose aus Odessa

Vice: Hallo Marie, bist du zufrieden mit Deutschland?

Anzeige

Marie: Seit ich hier hergezogen bin nicht mehr.

Woher kommst du?

Ich wurde in Odessa geboren, viel kann ich dir nicht zur Politik sagen, obwohl ich seit 30 Jahren hier lebe. Ich darf wegen meiner Staatsbürgerschaft nicht wählen.

Das ist nicht weiter tragisch, du hast ja sicher trotzdem eine Meinung. Welchen Eindruck haben die diesjährigen Wahlen auf dich gemacht?

Ich war gestern am Alexanderplatz, „Die Partei“ oder wie sie heißt, haben einen riesen Zirkus veranstaltet. Warum hat man die zugelassen? Politik ist doch kein Witz! Wenn man seine Stimme verschenkt, ist man nicht besser als die, die hier alles mit ihrem Desinteresse den Bach runtergehen lassen. Früher kam man vom Osten nach Deutschland, weil man dachte, hier würde es besser sein. Das hat sich geändert, die Politiker sind hier auch nicht mehr ehrlicher, stecken auch Geld ein und lügen. Wir brauchen hier vielleicht so etwas wie diesen Obama.

Franz Waldemar Peter (62) / Obdachlos

Am Sonntag sind Wahlen, Franz. Gehst du hin?

Franz: Nein, das wird nichts. Ich habe sowieso niemanden, der mich hinbringt.

Möchtest du deine Stimme nicht vergeben?

An diese Schweine nicht. Unser schöner Park wird bald für einen weiteren Parkplatz weichen müssen – das wenige Grün, dass wir hier noch haben und der Ort, an dem ich meine Freunde treffe und dabei wenigstens kurz vergesse, dass wir´s nicht einfach haben. So etwas wird natürlich ohne uns entschieden, wo wir dann aber hin sollen, können sie uns nicht sagen.

Anzeige

Das sind harte Worte. Wenn du eine Partei gründen könntest, was wäre das für eine?

Meine Partei wäre in Deutschland nicht möglich, weil hier alle so feige sind. Ich sehe es doch, wie sie einander ansehen und nichts sagen. Egal ob Türken, Afrikaner oder Deutsche. Sie sehen einander an, als wären sie Fremde, dabei ist Berlin für alle da. Hier sollte jeder mitentscheiden dürfen, wie sein Berlin aussehen soll, dafür muss man aber erst mal den Mund aufbekommen. Wenn man mal an Stuttgart 21 denkt, da haben die Leute zusammen gehalten und sich dagegen wehren wollen. In meiner Partei wären Rebellen, die sich zur Wehr setzen.

Lucky (56) / Ruhestand

Welche Partei würdest du wählen?

Ich denke ich wäre für die Linke, die machen viel wegen den Sozialwohnungen. Ich wohne seit August in so einer Wohnung, davor war ich Tag und Nacht auf der Straße, Winter wie Sommer. Kannst du dir das vorstellen?

Nein, aber das freut mich für dich. Wie bist du dazu gekommen?

Ein Freund hat mir geholfen, er kam mit den Anträgen und nahm mich mit auf Wohnungssuche. Ich wollte zuerst nicht, ich hatte Angst, erst in eine Wohnung zu kommen und dann irgendwann doch wieder auf der Straße zu landen, weil ich keine Arbeit habe. Aber es war anders – Ich wohne da und habe was ich brauche, seit langer Zeit mal wieder. Ich war heute Haare und Bart schneiden, davor hatte ich so langes Haar wie du (lacht).

Dann brauche ich sicher nicht fragen, ob du morgen wählen gehst.

Anzeige

Ich werde diesmal wirklich wählen.

Wieso diesmal?

Das letzte Mal, ich denke es war 2009, hat man mich nicht ins Wahllokal gelassen. Sie beschimpften mich, ich sei betrunken und hätte sowieso kein Recht mitzubestimmen, aber das war eine Lüge! Ich war nüchtern und wollte nicht per Briefwahl ankreuzen, sondern wie alle anderen wählen gehen. Dieses Mal ist es anders, ich habe einen festen Wohnsitz, kann mich zurecht machen.

Und die Frisur hast du auch. Zigarette?

(lacht) Gerne. Ja, ich bin mir sicher, dass es dieses Jahr anders wird.