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VICE-Adventskalendar

Leben aus dem Müll

Die Weihnachtszeit ist wie Kapitalismus auf Speed, doch dieser Typ zeigt dem Konsumismus den Mittelfinger.

Freeganismus setzt sich zusammen aus Free und Veganismus. Wie das bereits vermuten lässt, handelt es sich um eine politisch orientierte Lebensweise, bei der versucht wird, sich komplett aus der Konsumgesellschaft herauszunehmen. Das hier ist Ben. Ben lebt in Berlin zusammen mit sieben oder acht Leuten in einer Kommune und bezeichnet sich selbst als Freeganer. Für Ben bedeutet es unter anderem, dass er vegan lebt, dafür aber kein bis wenig Geld ausgibt, weil er nachts in Supermarkthinterhöfen auf Lebensmitteljagd geht.

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Hier seht ihr Ben in einem Umsonstladen, in dem er nicht nur regelmäßig seine wunderbar schrägen Klamotten bekommt, sondern in dem wir uns auch mit ihm trafen, um ihn bei einer abendlichen Container-Tour zu begleiten und uns ein paar nützliche Fachkenntnisse anzueignen.

Die richtige Ausrüstung zum Containern ist sehr wichtig. Rücksäcke und Tüten solltest du in jedem Fall mitnehmen (du wirst ein Menge zu schleppen haben). Ein Handschuh schützt deine zarten Finger vor Senf, Kaffeesatz und Joghurt—der Geruch von diesem Mix wird sich nachhaltig  genug in deine Erinnerung einbrennen. Profis wie Ben tragen als Erkennungsmerkmal eine Kopflampe. Ich bin mir nicht sicher, ob er die Lampe wirklich getragen hat, um in die Container leuchten zu können, denn wann immer wir uns einem der Behälter näherten, sprang durch einen Bewegungsmelder mindestens eine flutlichtähnliche Beleuchtung an. Eventuell wollte er auch nur beim Fahrradfahren nicht von einem Auto umgerammt werden—aber auch das wäre sehr vorbildlich von Ben.

Als erste Station des Abends hatte Ben einen besonders schönen Hinterhof einer großen Supermarktkette ausgesucht. Freundlicherweise hatten die Mitarbeiter die Lebensmittel bereits in unterschiedliche Behälter für uns vorsortiert. Ben, der Veganer, übernahm die Gemüseabteilung, ich hielt nach Joghurt, Shrimps und Kartoffelsalat Ausschau und wurde für meine Mühe reichlich belohnt. Auch Ben konnte vor Verzückung kaum noch still halten.

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Während er genüsslich in einen Apfel biss und erklärte, dass der kein bisschen nach Abfalleimer roch, erzählte er mir von seiner Mediengeilheit. Wir legten also eine Fotosession ein und Ben posierte mit den Mülleimern und einer matschigen Frucht („Die geht noch“). Leider waren wohl auch die Supermarktmitarbeiter durch meine Anfeuerungsrufe auf uns aufmerksam geworden und wir mussten kurze Zeit später die Flucht ergreifen.

Auf unserem Weg zurück zum „Zwischenlager“ fuhren wir mit unseren Rädern durch ein Wohngebiet. Ben fand Gefallen an diesem Christbaum, der uns von einem Balkon förmlich entgegen strahlte. Schließlich hatte auch er allen Grund zur Freude, denn mit seinem zerbrochenen Schokoweihnachtsmann hatte er schon jetzt ein erstes Weihnachtsgeschenk im Sack.

Wir schlossen die Fahrräder ab und fuhren dekadent mit der Straßenbahn zur nächsten Station der Freeganertour. Das Ziel lag nur zwei oder drei Stationen entfernt, weshalb ich mich wunderte, warum wir hierfür nicht auf den Fahrrädern blieben. Ben gestand, dass er bei seiner Auskundschaftstour am Mittag bereits zwei große Regale gesehen hatte, die er unbedingt haben wollte, aber nicht alleine tragen konnte. Ich sollte also sein blöder Packesel sein—das hatte er sich fein ausgedacht.

Auf dem Rückweg stiegen wir nicht die Bahn, sondern schleiften die Regale über 15 Minuten lang zu Fuß mit uns mit. Die Logik dieser Aktion ist mir bis jetzt noch nicht zu 100 Prozent klar.

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Von Hinweisen wie diesem darfst du dich nicht abhalten lassen. Habgierige Supermarktbesitzer versuchen so wahrscheinlich, den besten Müll für sich selbst aufzuheben.

Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist, aber Ben und ich waren durch die Mülldämpfe wohl in eine Art Mitnahmerausch geraten. Auf dem Weg zu unserem nächsten Ziel beschlossen wir, noch einen kurzen Umweg einzulegen. Der Supermarktbesitzer machte uns jedoch einen Strich durch die Rechnung, denn er ließ seinen Abfall bewachen, als handle es sich um die letzten, verdammten Braunbärbabys der Welt.
Langsam verlies mich die Lust—nicht nur auf Essen, sondern auch auf das weitere Containern. Doch Freeganer-Ben wäre nicht Freeganer-Ben, hätte er sich für den Schluss nicht ein besonderes Schmankerl aufgehoben.

Und so gelangten wir als letzte Station des Abend ins Paradies der weggeworfenen Backwaren. Ben war ein wenig enttäuscht, weil der Container wohl am Tag zuvor geleert worden war und das Behältnis in Größe meiner Küche nicht bis unter den Rand die Moral der Wegwerfgesellschaft zeigte. Er sprang also mit den Füßen voraus in die Brötchen und machte sich auf die Suche nach seiner Quarktasche, für die er gerne ein Vegan-Pause einlegen wollte. Als er zwischen ganz exquisitem Mohnkuchen und Kürbiskernbrötchen vom Vortag endlich das Objekt seiner Begierde gefunden hatte, stieß er ein euphorisches Glucksen aus und schlang im Bruchteil von Sekunden die Quarkspeise in sich hinein. Brüderlich ließ er mich noch davon probieren—ich glaube aber nur deshalb, weil er in der Zwischenzeit zwei weitere gefunden und in seine Tüte gestopft hatte.

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Bei Ben zu Hause angekommen, machten wir uns an die Aufteilung der Lebensmittel. Hierfür drapierten wir unser Errungenschaften auf einem Tisch und Ben versuchte sich in einer modernen Interpretation von da Vincis Letztem Abendmahl. Wir hatten nicht nur die köstlicheren Lebensmittel erstanden—sein Heiligenschein sieht auch noch um einiges cooler aus als der von Jesus. Ha.

Der Gerechtigkeit wegen schlug Ben vor, dass wir der Reihe nach jeweils immer vier Lebensmittel aussuchen dürften. Ohne eine Antwort abzuwarten, schnappte er sich seine sechs bis sieben Lieblinge und bunkerte sie in seinem Rucksack.

Vier Stunden auf dem Fahrrad hatten uns mehr Waren eingebracht, als wir jemals vor dem Verfallsdatum (OK, Verschimmeldatum) hätten essen können. Daher packten wir die übrig gebliebenen Lebensmittel erneut in unsere Rucksäcke und brachten sie in ein nahe gelegenes Jugendzentrum, wo uns vor allem die Teilchen aus den Händen gerissen wurden. Zum Glück hatte Ben zuvor eines seiner geliebten Olivenbrötchen vernascht. So empfanden wir keinerlei Futterneid und konnten uns wie die Samariter lächelnd durch und durch gut fühlen, weil wir abgelaufenen Joghurt, weggeschmissene Backwaren und Shrimps über dem Verfallsdatum an Heranwachsende verschenkten.

Fotos: Sonja Weissberg