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Die Grünen versuchen, die letzten Flüchtlinge durch Polizeibelagerung zu zermürben

Die besetzte Schule in der Ohlauer Straße ist der letzte Zufluchtsort des Flüchtlingsprotestes. Die Kreuzberger Grünen wollen das Gebäude nun solange umstellen, bis die Bewohner „freiwillig“ gehen.

Ein Flüchtling auf dem Dach der besetzten Schule gestern abend. Foto: Björn Kietzmann.

Das Drama um die besetzte Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg erreicht gerade seinen Höhepunkt. Nachdem die grüne Bezirksverwaltung gestern den Großteil der Bewohner mithilfe eines massiven Polizeieinsatzes zum freiwilligen Auszug überredet hat, haben sich zwischen 30 und 40 Flüchtlinge auf das Dach des Gebäudes geflüchtet und weitere 40 im Gebäude verschanzt. Sie weigern sich, weiter mit dem Bezirk zu verhandeln, solange die Polizei das Gelände umstellt hat. Und sie drohen, sich vom Dach zu werfen, sollte die Schule gewaltsam geräumt werden. Die Situation hat sich zu einem Albtraum für die Kreuzberger Grünen entwickelt, die sich sonst gerne menschenfreundlich geben.

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Polizisten führen einen Bewohner ab, der zurück in die Schule wollte.

Als die Flüchtlinge die Schule Ende 2012 besetzten, hatte die grüne Bezirksverwaltung sich noch bereit erklärt, die Flüchtlinge für eine gewisse Zeit in der leerstehenden Schule zu dulden. In den anderthalb Jahren, die sie dann besetzt blieb, hat sich die Schule für die einen (zusammen mit dem Oranienplatz) zu einem Zentrum des Flüchtlingsprotests in Deutschland entwickelt. Für die anderen (vor allem den Berliner Innensenator Frank Henkel von der CDU) entstand mitten in Berlin ein „rechtsfreier Raum“: niemand wusste, wer dort eigentlich wohnte, die Schule war ein „Unterschlupf für Drogendealer und Kriminelle“, und im April wurde ein Bewohner bei einer Auseinandersetzung erstochen.

Die Wahrheit ist: das Leben in der Schule war bestimmt nicht angenehm, niemand lebte dort zum Spaß. Eines wurde in Gesprächen mit den Flüchtlingen immer wieder deutlich: hätte man ihnen die Möglichkeit gegeben, sich irgendwie in Deutschland ein eigenverantwortliches Leben aufzubauen, hätten die allermeisten sie sofort ergriffen. Aber solange die Rückkehr in die verhassten „Lager“ die einzige Alternative blieb, wollten viele Flüchtlinge die Schule auch nicht verlassen.

Sind die Lager so schlimm, dass man sich lieber umbringt, als zurückzugehen? Ein Teil der Flüchtlinge scheint das zu glauben. Um zu verstehen, warum die in der Schule Verbliebenen zu so verzweifelten Schritten bereit sind, muss man ihre Erfahrungen mit den Berliner Politikern kennen.

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Die Forderungen der Flüchtlinge—Abschaffung der Lager, Abschaffung der Residenzpflicht und Asyl für alle Protestierenden—können die Berliner Lokalpolitiker nicht erfüllen, und die Bundesregierung will es nicht. Um die unschönen Protestlager trotzdem irgendwie loszuwerden, verlegte sich die Berliner Politik auf eine Zermürbungstaktik: Während die harten Lebensbedingungen den Protestierenden auf Platz und Schule zusetzten, wurden in endlosen Verhandlungen zahllose Kompromisse präsentiert, die den Zusammenhalt der Gruppe langsam erodierten.

Foto: Björn Kietzmann

Trotzdem dauerte es bis April, bis es dem Senat gelang, einen Teil der Protestierenden auf dem Oranienplatz zum Abzug zu überreden. Als die kompromissbereiten Flüchtlinge gleich das ganze Lager abbrechen wollten, kam es zu unschönen Szenen. Die vom monatelangen Protest erschöpften Flüchtlinge gingen aufeinander los, und schließlich gewannen die „Vernünftigen“: das Lager am Oranienplatz wurde geräumt. Das Problem ist nur, dass fast alle Versprechungen des Senats sich seitdem in Luft aufgelöst haben—die Flüchtlinge haben ihr Protestlager praktisch umsonst aufgegeben. In der Gerhart-Hauptmann-Schule wurde dieser Ausgang genau beobachtet.

Flüchtlinge in der Schule versuchten sich gestern abend mit Fußball abzulenken. Foto: Björn Kietzmann

Es war also abzusehen, dass es nicht leicht werden würde, die Flüchtlinge in der Schule zum Aufgeben zu bewegen. Die grüne Bezirksverwaltung hat sich nun trotzdem dazu entschlossen—nur geht sie dabei deutlich ungeschickter vor als der Senat. Am frühen Dienstagmittag wurde das Gebäude in der Ohlauer Straße von 900 teils mit Maschinenpistolen bewaffneten Polizisten umstellt, die den Bewohnern beim „freiwilligen Umzug“ helfen sollten.

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Foto: Björn Kietzmann

Das Gelände wurde weitläufig abgeschirmt, eine spontane Sitzblockade aufgelöst, zunächst erhielten weder Journalisten noch Politiker anderer Parteien Zutritt zum Gebäude. „Wir brauchen hier und heute keine Presse,“ erklärte Bezirksstadtrat Hans Panhoff, der für die Aktion verantwortlich ist. Kurz darauf fuhren Busse vor, die die ersten Bewohner einluden und wegfuhren. Die Bewohner hatten genau dieselben Garantien erhalten wie die vom Oranienplatz.

Kurz darauf lief die Operation aus dem Ruder. Ein Teil der Bewohner flüchtete sich aufs Dach, während andere anscheinend Benzin auf den Fluren der Schule verschütteten und drohten, es in Brand zu setzen. Politiker von den Linken und den Piraten kritisierten das Vorgehen des Bezirksamts massiv. Auf den Straßen Kreuzbergs sammelten sich immer mehr wütende Aktivisten, gegen abend gelang es einer Spontandemo beinahe, am Kottbusser Tor die Polizei zu überrennen. Im Internet brach eine Welle von Protest über die Kreuzberger Grünen herein, mittlerweile gibt es sogar schon einen eigenen Anti-Grünen-Blog. Heute nachmittag wurde das Büro der Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann für kurze Zeit besetzt.

Protest am Kottbusser Tor wird mit Pfefferspray befriedet.

Nachdem der letzte Bus mit „Freiwilligen“ die Schule gestern gegen neun Uhr abends verlassen hat, ist die die Situation momentan ziemlich festgefahren. Weil ihnen die Berichterstattung wohl nicht gefallen hat, lassen die Grünen Journalisten jetzt nicht mal mehr auf die Straße vor der Schule. Der Sprecher des Bezirksamts, Sascha Langenbach, wiederholt schon seit gestern abend das Mantra, dass man sich weiterhin um Verhandlungen bermühe. Allerdings musste er zugeben, dass er selbst sich nicht mehr zu den Flüchtlingen traue, weil sie ihn mit Flaschen beworfen hätten. Die Flüchtlinge bestätigten heute vormittag ebenfalls, dass es keine Verhandlungen gebe.

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„Wir sind wirklich daran interessiert, deeskalierend zu arbeiten und einen Freizug der Schule auf freiwilliger Basis zu ermöglichen,“ erklärte er den Journalisten hinter der Absperrung. Nur zeugt es eben von einer eigenartige Auffassung von Freiwilligkeit, wenn man eine Gruppe Menschen so lange von 900 Polizisten belagern lässt, bis sie „freiwillig“ gehen. Seit heute morgen dürfen die Flüchtlinge auch keine Unterstützung in Form von Lebensmitteln mehr bekommen.

Die Flüchtlinge wollen trotzdem nicht aufgeben. „Wir kommen nicht runter, bis sie uns unsere Rechte geben. Wir haben genug von den Spielchen der Berliner Politiker“, erklärte ein Flüchtling per Telefon den in einer Bäckerei versammelten Journalisten—die Grünen hatten die Pressekonferenz in der Schule kurzerhand verboten. „Wir sind in dem ganzen verfickten Gebäude verteilt,“ rief eine aufgebrachte Frau ins Telefon. „Wir vertrauen denen nicht, wir kommen nicht raus! Sie werden dasselbe mit uns machen wie am Oranienplatz!“

Womit sie gar nicht so unrecht hat. Nur dass es diesmal der Bezirksverwaltung schwer fallen wird, die Flüchtlinge gegeneinander auszuspielen. „Die sind entschlossen, hier zu bleiben, koste es was es wolle“, erklärte die Integrationsbeauftragte der Grünen Canan Bayram am Telefon. „Das Haus ist voller Vorräte. Rein von den Umständen wäre es schon möglich, längere Verhandlungen einzugehen.“

Wenn sie die Flüchtlinge aus der Schule haben wollen, werden die Kreuzberger Grünen also entweder selbst Gewalt anwenden oder die Flüchtlinge solange weiter belagern müssen, bis sie „freiwillig“ aufgeben. Oder ihnen ein Angebot machen, das ihnen eine echte Perspektive bietet.

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