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Ich habe mir den ganzen Abend Märchen von nackten Männern vorlesen lassen

Warum nacktes Vorlesen DAS neue Ding sein sollte.

Foto: Christa Holka

Manche Veranstaltungstitel sollte man wörtlich nehmen: Ich war bei den Naked Boys Reading und habe mir den ganzen Abend lang von nackten Typen vorlesen lassen. Das war ziemlich schräg. Aber auch ziemlich gut.

Die Veranstaltung ist sozusagen der kleine Bruder von Naked Girls Reading, was seinen Ursprung in Chicago hat. Schon dort hatte der Macher des männlichen Ablegers, R Justin Hunt, seine Finger im Spiel. Jetzt moderiert er als Dragqueen Dr. Sharon Husbands in London und Brighton die Lesebühne mit den nackten Jungs, die alle kurz NBR nennen. Justin sieht das Ganze reichlich intellektuell—bei unserem Gespräch merke ich schnell, dass er Akademiker ist. Er unterrichtet an der Uni zu Themen wie Queerness und Performing Arts. Und als das sieht er die NBR auch—als queere Performance.

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Das hört sich erstmal trockener an, als es eigentlich ist. Denn trocken bleibt nichts, wenn nach der Anmoderation die Vorleser die Bühne betreten—weder Kehle noch Augen noch Höschen. In guter britischer Manier leere ich Pint um Pint. Justin hat mir davor noch gesagt, dass bei den Events immer viel gebechert wird. „Betrunken sehen die Jungs halt noch besser aus." Der Alkoholpegel macht sich auch beim Rest des Publikums bemerkbar. Nach der ersten Leserunde geht es schon ausgelassener zu, es wird gepfiffen und Zwischenrufe ertönen in breitestem Cockney.

Foto: Vanek London

Das Thema des Abends ist „Fairy Tales". Justin erklärte mir, dass immer thematische Texte gelesen werden. Entweder sucht ein Kurator die Texte für die Jungs aus oder sie bringen ihre eigenen mit. Heute sind es also Märchen. Sharon Husbands hat sich passenderweise als The Evil Queen verkleidet. Schon nach der ersten Leserunde ist mir klar: Nichts kann deine schönsten Kindheitserinnerungen so nachhaltig zerstören wie ein nackter Mann. Auf der Bühne im schicken ACE Hotel in London steht Guido. Er gibt Rapunzel zum Besten, auf Deutsch und Englisch. Bei jedem „Rapunzel, lass dein langes Haar herunter" hat er die Lacher auf seiner Seite. Der Text kommt gut an, einer der Macher der NBR hat deutsche Wurzeln und freut sich über die vertrauten Klänge. Und ich bin dankbar, dass ich auch mal was fehlerfrei verstehe.

Foto: Vanek London

Als ein Typ namens Bryan auf die Bühne kommt, bin ich schon zu betrunken, um ganz zu folgen. Irgendwas mit einer Katze und ihren neun Leben. Das spielt aber auch keine Rolle mehr, viel interessanter ist zu sehen, wie das Publikum reagiert. Die paar Frauen, die aus der Menge herausstechen, schauen freundlich-interessiert. Bei ein paar Typen bin ich mir nicht sicher, ob sie vor ihrem inneren Auge masturbieren. Was aber ganz erstaunlich ist—die meisten Leute hören echt gespannt hin. Es ist ein Effekt eingetreten, den mir Justin vorher beschrieben hat: Nach einer Weile merkst du gar nicht mehr, dass die Typen auf der Bühne nackt sind. Das ist so, als wenn der immer gleiche Peniswitz gemacht wird—irgendwann ist er einfach nicht mehr lustig. Lustig hingegen ist Hal. Er hat sich für den Abend Gedichte von Roald Dahl ausgesucht—die sind eh schon grandios. Cinderella wirst du aber erst in all seiner Tiefe verstehen, wenn es dir ein nackter blonder Twink vorliest.

Zwischendurch gibt es immer wieder Musik von Sharon Husbands' Sidekick, The Duchess of Pork. Die Duchess hat deutsche Verwandte und wir unterhalten uns danach noch eine Weile über nackte Jungs, englisches Bier und warum es die NBR eigentlich nur in UK gibt. „Wir wollen schon lange nach Berlin", verrät mir die Duchess. Es gibt sogar schon feste Pläne: Am 4. April kommen die NBR in die Karaoke-Bar Monster Ronson's—nicht zum Singen, aber zum Lesen. Das Motto des Abends ist, na ja, sehr ausgefallen: Berlin. „Aber das wird großartig", versichert mir Justin. Die dort bekannte Dragqueen Pansy ko-moderiert das Event und es soll ein paar geniale Überraschungen geben. Wenn das literarische Quartett mit Schwänzen gut läuft, können sich die beiden Hosts auch vorstellen, dass es einen dauerhaften Ableger in Berlin gibt. Bevor ich mein „Danke" an die zwei lallen kann, sind sie aber auch schon wieder weg und nur verschmierter Lippenstift und Glitzer bleiben auf meiner Wange zurück—ganz wie im Märchen.