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Ich war einen Nachmittag lang eine Meerjungfrau

Mit einem Meerjungfrauen-Schwimmkurs erfüllte ich mir einen jahrelangen Traum.
Alle Fotos von Claude Hurni

Seit dem Jahre 1877 gibt es die ersten Zeichentrickfilme und somit auch einen neuen Sinn in unseren Leben. Wir alle teilen ähnliche Erfahrungen mit handgezeichneten Bildern, die hintereinander abgespielt werden: Wir lachten mit Jerry über Tom als diesem Ambosse auf den Kopf fielen, wir weinten zusammen als Scar Mufasa von der Klippe stiess, als Bambis Mutter erschossen wurde oder als der Glöckner von Notre-Dame von der Kirche stürzte. Obwohl Disneys Hang zu Dramatik und Tod einige ungeklärte Fragen aufwirft, waren und sind diese Filme ein wichtiger Teil meiner Entwicklung, welche mich heute zu dem macht, was ich bin.

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In den USA gibt es keine Meerjungfrauen. Bestimmt auch wegen der Wasserkrise:

Einer der bekanntesten Disney-Trickfilme ist Arielle, die kleine Meerjungfrau: Die rebellische, rothaarige Nixe, die sich von ihrem Vater, dem König, nichts verbieten lässt. Während ich diese Zeilen schreibe, wird mir klar, dass mich Disney wahrscheinlich unterbewusst dazu verleitet hat, meine ursprüngliche Haarfarbe aufzugeben und mich ebenfalls dem rebellischen Rot anzuschliessen—nur schon dadurch beeinflusst Disney mein Leben stärker als gedacht.

Als kleines Kind habe ich diesen Film geliebt. Auf den ersten Blick scheint die ganze Story ja auch wie gemacht für kleine, verträumte Mädchen, die unsere Welt gerade erst kennengelernt haben und immer noch voller Hoffnung auf ihren Traumprinzen sind. Erst mit dem Älterwerden habe ich gemerkt, was für eine sexistische Scheisse uns Disney eigentlich andrehen möchte.

Sieht man genauer hin, so wird ziemlich schnell klar, dass der Medienkonzern mit dem gezeichneten Arielle-Rollenbild die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, sagen wir mal, nicht gerade auf direktestem Weg anzielt. Ich meine, eine Frau, die ihre Stimme, ihre Flosse und ihr zu Hause—also alles, was sie hat—für einen Mann hergeben würde, der dann vor Verblendung fast eine andere heiratet? Ist das dein Ernst, Disney?

Obwohl es auch umgekehrt fragwürdig ist, wieso Menschen freiwillig auf ihre Beine und somit auf die wertvollsten Extremitäten, die sie haben (ausser vielleicht ihre Daumen) verzichten, tat ich es ihnen gleich und verwandelte mich für einen Nachmittag in eine Meerjungfrau. Und ja, es war genau so abgedreht wie es sich anhört.

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Mit pochendem Kopf und flauem Magen machte ich mich am heissen Samstagnachmittag auf den Weg zu meiner Schnupperstunde im Meerjungfrauendasein. Ich begann, die zahlreichen Wodka-Lemon vom Abend zuvor zu bereuen. Die Angst, mich bald ins Schwimmbecken übergeben zu müssen, ging den Weg zum Schwimmbad eng an meiner Seite.

Alle Fotos von Claude Hurni

Im Hallenbad angekommen, wurde schnell klar, dass ich nicht das einzige Mädchen bin, welches ihre unerfüllten Meerjungfrauen-Träume verwirklichen will—aber die Älteste. Mit acht Zehnjährigen stand ich mit einem gemischten Gefühl aus Unbehaglichkeit und Würgereiz da, während unsere Kursleiterin die Monoflossen (der wichtigste Bestandteil einer Meerjungfrauen-Existenz) verteilte und uns zeigte, wie man diese über die Beine stülpt. „Welche Farbe möchtest du gerne?"

Während meine zehnjährigen Freundinnen darüber stritten, welche Farbe am besten zu ihrem Bikini-Oberteil passen würde, bekam ich den gewünschten lilafarbenen Meerjungfrauenschwanz und das Gefühl, Disney erziehe die Generation Z tatsächlich zu heranwachsenden Prinzessinnen. Und wie es der Zufall so will, war ich nicht die einzige Medienvertreterin: Die Kollegen vom Blick fotografierten uns fleissig. Wäre sonst ja fast nicht peinlich geworden.

Aber wieso streben die meisten Mädchen nach diesem plüschigen Prinzessinnendasein? Verleiht Disney der heranwachsenden Jugend heutzutage wirklich ein falsches Bild von Emanzipation oder verweist es lediglich auf alte Werte, die zu jener Zeit üblich gewesen sind? Schliesslich ist Sexismus nicht zum ersten Mal Diskussionsthema in der Zeichentrickfilm-Branche. Von Johnny Bravo bis zu American Dad werden Kindern immer wieder frauenfeindliche Beispiele vor Augen geführt, die die Stellung einer Frau als Anhängsel oder Objekt der Begierde eines Mannes nur noch bekräftigen.

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Worauf die Macher solcher rollenzuweisender Trickfilme abzielen und ob sie sich ihrem Einfluss auf kleine Kinder bewusst sind, bleibt kontrovers. Sicher ist jedoch, dass sich Kinder leicht beeinflussen lassen. Das Weltbild eines Kindes mit Veranlagungen, das zusieht wie Höhlenmenschen ihre Frauen an den Haaren ziehen, wie Johnny Bravo gerne alles flachlegen würde, das sich bewegt, oder Stan seine geliebte Francine für eine College-Studentin verlassen möchte, wird in eine bestimmte Richtung gelenkt—unter anderem in eine, die mit einem „das macht man nicht" nicht wieder zurechtgerückt werden kann. Vielleicht hätte Arielle ihren geliebten Prinzen besser mit in die See nehmen sollen.

Wir fingen mit ein paar Trockenübungen an, um beim anschliessenden Sprung in den Pool nicht kläglich zu ertrinken. Dann durften wir uns endlich ins Wasser wagen. In meine jungen Jahre zurückversetzt, kam ich mir nur mässig blöd vor, als ich mit einer Gruppe noch nicht pubertierender Mädchen mit Schuhgrösse 32 einem hilflosen Fisch gleich in einem Schwimmbad herumpaddelte, in dem ich mit der evolutionären Errungenschaft "Beine" stehen könnte. Alles schön und gut, aber wars das jetzt? Natürlich nicht, schon waren die Challenges an der Reihe:

Die Sonne hat geblendet. Ich schau nicht immer so.

Die erste Aufgabe bestand darin, durch zwei Reifen auf dem Beckenboden zu schwimmen ohne diese zu berühren. Meine halb so grossen Neu-Kolleginnen meisterten das ohne Probleme—während ich mir wie der weltgrösste Trampel vorkam und beide Reifen hinter mir herschleifte. Dem Auftrieb ausgeliefert ist es gar nicht so einfach so eine Riesenflosse in Schach zu halten.

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Auch bei der nächsten Challenge stiess ich an die Grenzen meiner nachmittäglichen Flossen-Existenz: Ich musste auf eine meiner neuen Freundinnen zuschwimmen, ihr unter Wasser einen High Five geben und wieder zurückschwimmen. Leichter gesagt als getan: Der Ohrendruck machte mir zu schaffen, das Chlor im Wasser zerfrass meine Augäpfel und die Luft länger als dreissig Sekunden anzuhalten, wurde für mich langsam aber sicher zu einem Problem. Während meine neue beste Freundin und High-Five-Partnerin nicht einmal den Anschein von Müdigkeit machte, stiess ich langsam an meine Grenzen. Meine „Sport ist Mord"-Einstellung zeigte deutlich ihre Auswirkungen.

Ich fühlte mich erleichtert, als einige meiner Mit-Meerjungfrauen ebenfalls Anzeichen von Erschöpfung äusserten: Eine der Kleinen hatte ein Problem mit ihrer Monoflosse, die Füsse taten ihr weh (yeah, endlich!). Sie fing fast an zu weinen, während ihre Mutter sie beruhigte: „Du chasch de Kurs ja spöter nomol mache". „Aber, aber—ich lieb doch Meerjungfraue … ", schluchzte die Kleine. Ich schaute rüber zu der Kursleiterin, die sichtlich nervös zu der Blick-Reporterin schielte und stellte mir schon die nächste Blick-Schlagzeile vor: „Weinende Kinder bei Meerjungfrauenschwimmkurs". Ich hatte Mitleid mit meinem Flossen-Guru, musste aber trotzdem schmunzeln.

Die Schnupperkurslektion neigte sich langsam dem Ende zu. Wir bekamen noch zwanzig Minuten freie Zeit, um unsere Meerjungfrauen-Gelüste auszutoben. Für mich bedeutete das ein Unterwasser-Fotoshooting à la Germany's next Topmodel—schliesslich darf die Erfüllung eines über zwanzig Jahre aufgebauten Kindheitstraums nicht undokumentiert bleiben. Wie eine richtige Nixe räkelte ich mich—mittlerweile meine Existenz als Halbfisch akzeptierend—aalgleich entlang der Schwimmlängen, um meinem Fotografen die Möglichkeit zu geben, die Einzigartigkeit dieses Arielle-Momentes einzufangen.

Völlig erschöpft, glücklich und mit gefühlt mehr Chlor als Sauerstoff in der Lunge, nahm meine Meerjungfrauen-Schnupperlektion ein Ende. Die Leiterin verabschiedete sich von uns und verteilte allen ein Abschiedsgeschenk: Eine echte Muschel. Egal wie blöd ich mir zwischen meinen halb so alten Freundinnen vorkam, hat es schlussendlich trotzdem Spass gemacht. Trotz einschränkendem Swimmingpool wurde meine traumhafte Verwandlung in einen Disneycharakter real, mein Mageninhalt hat sich nicht mit dem klaren Poolwasser vermischt und ich durfte tatsächlich einen Nachmittag lang eine Flosse mein eigen nennen. Im Grossen und Ganzen war es die 49 Franken also wert—fast.

Noch mehr über Meerjungfrauen gibt's auf Twitter: @saschulius

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