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The Moral Compass Issue

Ihr ganz eigener Aufstand

Anders als die protestfreudigen Franzosen waren die Briten schon immer etwas faul darin, Sachen anzuzünden und Pflastersteine auf Polizisten zu werfen.

Anders als die protestfreudigen Franzosen waren die Briten schon immer etwas faul darin, Sachen anzuzünden und Pflastersteine auf Polizisten zu werfen. Auch im letzten Jahr, als die Tories erneut an die Macht kamen und eine Regierungskoalition mit ihren liberaldemokratischen Freunden bildeten, herrschte Apathie in England. Zufrieden saß man zu Hause herum und jammerte über alles und jeden, aber für einen Protest reichte es nicht. Das änderte sich am 10. November 2010. Angesichts der immensen Staatsverschuldung beschloss die Regierung eine Erhöhung der jährlichen Studiengebühren von ungefähr 5.500 Euro auf 16.000 Euro. Tausende Studenten stürmten die Parteizentrale der Tories und blamierten die Metropolitan Police, weil die nicht in der Lage war, das Gebäude zu schützen. Der angerichtete Schaden belief sich auf mehr als 3,5 Millionen Euro. Einen Monat später war London immer noch in der Hand von Demonstranten. Sporadisch kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und die Regierung war erstaunlich unfähig, die sich schnell auf andere Universitäten ausweitenden Proteste unter Kontrolle zu bringen. Trotz des öffentlichen Drucks hat sich die Haltung der Regierung nicht verändert, es bleibt bei der Erhöhung der Studiengebühren. In den Augen der protestierenden Studenten sind die neuen Tories unter der Führung von David Cameron genauso schlimm wie die der Thatcher-Ära. Durch die Proteste sind die Teile der britischen Gesellschaft radikalisiert worden, die die Erhöhung um jeden Preis verhindern wollen. Die Gewerkschaften traf der Protest völlig unvorbereitet. Sie versuchten auf den fahrenden Zug aufzuspringen, riefen zum Streik auf und brachten schließlich im März rund 500.000 Menschen gegen die Sparpolitik der Regierung und die Rentenkürzungen auf die Straße. Die Demonstrationen blieben friedlich, bis der anarchistische Schwarze Block auftauchte. Er nutzte die Masse, um die Polizei von sich abzulenken, attackierte Banken und Fastfood-Ketten und warf Farbbeutel aufs Ritz. Die Stadt London blieb auf ungefähr 1,7 Millionen Euro Reinigungskosten sitzen und die Regierung musste erkennen, dass ihre Polizeibeamten komplette Deppen sind. In den Monaten darauf drückte die Regierung noch mehr Sparpläne durch und kündigte unter anderem Massenentlassungen bei der Polizei an. Die meisten würden wohl zustimmen, dass es eine weise Entscheidung war, Letzteres nicht zu tun. Denn nachdem am 4. August ein Polizeibeamter einen jungen Schwarzen in Tottenham erschossen hatte, kam es zu Protesten der Community, die sehr bald in ein allgemeines Chaos ausarteten. Während die Polizei noch damit beschäftigt war, zu verstehen, was da überhaupt abging, wurde London von Brandstiftungen und Plünderungen in die Knie gezwungen, gefolgt von Manchester, Birmingham, Leeds und selbst Orten wie Banbury. Die Kids waren in einem richtigen Plünderungsfieber, Gangs drehten durch und die Londoner Polizei war so schlecht besetzt, dass 16 andere Polizeieinheiten zur Hilfe geholt werden mussten. Insgesamt waren 16.000 Beamte im Einsatz. Abgesehen von den paar eingeschlagenen Schaufensterscheiben haben die Riots Fragen aufgeworfen, die von der Regierung lange Zeit ignoriert worden sind: Gangstrukturen, die innerstädtische Armut und der Mangel an Aufstiegsmöglichkeiten für große Teile der Arbeiterklasse. Es gibt viele, die die Straftaten der arbeitslosen Jugendlichen, denen jetzt Gefängnisstrafen für das Klauen von Turnschuhen drohen, weniger schwerwiegend finden als die der Banker, die in teuren Anzügen den Steuerzahler ausgenommen haben. Einige von ihnen verwandelten die brennenden Kaufhäuser in die Occupy-Bewegung. Am 15. Oktober schlug Occupy London Stock Exchange ein Camp vor der St. Paul’s Cathedral in London auf. Das war der letzte und am wenigsten gewalttätige Protest in einer langen Reihe von Unruhen. Die Protestler wollen auch weiterhin ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verleihen, bis man sie oder die Kirche zum Aufhören zwingt. Sie werden eine Menge Glück brauchen.