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In Hannover wurde ein Kurde von türkischen Nationalisten niedergestochen

In ganz Deutschland eskalierte am Wochenende die Gewalt zwischen Kurden und „Grauen Wölfen". In Hannover wäre das fast tödlich ausgegangen.

Am Wochenende kam es in ganz Deutschland und in der Schweiz zu teils heftigen Auseinandersetzungen zwischen Kurden und türkischen Nationalisten. In Hannover wurde ein Kurde sogar lebensgefährlich mit einem Messer verletzt. Die Ausschreitungen stehen in direkter Verbindung mit den bürgerkriegsähnlichen Zuständen, die die Kampagne der türkischen Armee gegen die PKK über die Südtürkei gebracht hat.

Seit Wochen tobt in der Türkei die Auseinandersetzung zwischen Kurden auf der einen und türkischen Nationalisten und Islamisten auf der anderen Seite. Nachdem das türkische Militär begonnen hatte, gegen Stellungen der kurdischen Guerilla-Organisation PKK in Syrien vorzugehen, hatte sich der Konflikt auch auf türkisches Staatsgebiet ausgeweitet. Die PKK und nahestehende Gruppen begangen Anschläge auf Polizisten und Soldaten, die türkische Armee und die Polizei gingen gegen Städte im kurdischen Teil der Türkei vor. In der letzten Woche belagerte das türkische Militär die 120.000-Einwohner-Stadt Cizre im Südosten. Cizre ist eine Hochburg der nach Autonomie strebenden Kurden. Der Belagerung und der gleichzeitigen Ausgangssperre fielen, nach Angaben kurdischer Organisationen, 21 Zivilisten zum Opfer. Im Netz wurden Bilder von getöteten Greisen und Kindern verbreitet. Nach Ende der Ausgangssperre demonstrierten am Sonntag Tausende Kurden in Cizre gegen das türkische Militär.

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Während auf offizieller Seite Militär und Polizei gegen die Kurden vorgehen, haben sich in den vergangenen Wochen auch türkische Nationalisten und Islamisten zum Mob zusammengeschlossen, um gegen Kurden vorzugehen. 130 Büros der kurdischen Partei HDP wurden in der vergangenen Woche angegriffen und teilweise in Brand gesteckt. Unzählige kurdische Zivilisten wurden attackiert und teilweise schwer verletzt. An vielen Orten schaute die Polizei bei den anti-kurdischen Pogromen tatenlos zu.

In Mersin wurden bei einem Anschlag auf ein HDP-Büro im Mai sechs Menschen getötet. Foto: imago/Xinhua

Kurdische Organisationen sehen die AKP von Präsident Erdoğan als Drahtzieher hinter den Angriffen. „Civaka Azad", das kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, schreibt in einer Stellungnahme: „Die Osmanischen Vereine, die sich mittlerweile in 73 türkischen Städten organisiert haben, sollen auf Befehl Erdoğans gegründet worden sein und gelten als Handlanger und „Schlägertrupp" der sogenannten islamistisch-nationalistischen Gesinnung, wie sie durch die AKP repräsentiert wird." Für die Kurden ist das Ziel der Attacken eindeutig: Die AKP will bei den anstehenden Neuwahlen den Antritt der HDP erschweren, um in Zukunft wieder alleine regieren zu können. Bei der letzten Wahl im Juni hatte die AKP die angestrebte Zwei-Drittel-Mehrheit verfehlt, weil die HDP es geschafft hatte, die 10-Prozent-Hürde zu überwinden.

Der Konflikt zwischen kurdischen Gruppen und türkischen Nationalisten schwappt nun auch nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz. Am Donnerstag hatten 25 mutmaßliche PKK-Anhänger in Bielefeld eine Moschee der „Grauen Wölfe", einer faschistischen türkischen Organisation, angegriffen. Autos wurden beschädigt, PKK-Parolen gesprüht. Von kurdischer Seite war es das bisher an offensiven Aktionen im Bundesgebiet.

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Am Wochenende eskalierte dafür die Gewalt auf Seiten der türkischen Nationalisten. Angriffe auf Kurden in Berlin, Hamburg, Mannheim, Bern und Hannover. In Bern war ein Anhänger der „Grauen Wölfe" mit seinem Auto in eine kurdische Demonstration gerast. Es gab 20 Verletzte, Gerüchte um einen getöteten Kurden. Auf kurdischen Internetseiten wurden schnell das Kennzeichen des Autos und Name und Adresse des Halters bekanntgegeben. In der Schweiz kann jeder diese Daten im Netz abrufen. Es wurde zu Rache-Aktionen aufgerufen, die bis jetzt ausgeblieben sind. Verwandte des Amokfahrers geben an, er sei aus purer Not in die Menge gefahren. Sein Auto sei vorher mit Steinen und Eisenstangen attackiert worden.

Auch in Köln haben am Samstag türkische Nationalisten demonstriert. Foto: Felix Huesmann

In Hannover wurde am Samstag ein kurdischer Demonstrant durch Messerstiche im Hals schwer verletzt. Auch hier machten Todesmeldungen die Runde. Etwa 600 türkische Nationalisten hatten am Mittag in Hannover demonstriert. Nach Ende der Demo sahen einige Demonstranten Kurden mit Fahnen Abdullah Öcalans am Rand des Steintorplatzes stehen. Eine erste Auseinandersetzung zwischen den verfeindeten Gruppen entwickelte sich, die die Polizei aber unter Kontrolle bekam.

Im Lauf des Nachmittags trafen immer wieder Kurden und türkische Rechte aufeinander und bewarfen sich mit Flaschen. Die Auseinandersetzungen verlagerten sich immer wieder an verschiedene Plätze der Innenstadt. Irgendwann war es dann auf dem Steintorplatz so weit.

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Ein Augenzeuge sprach von „Alle gegen Alle", und dass er nur schwer einordnen konnte, wer sich da gerade mit wem prügelt. Auf angrenzenden Straßen fuhren Autos, aus denen Fahnen geschwenkt wurden und die immer wieder attackiert wurden.

„Es ist ein Wunder, dass niemand überfahren wurde", schildert der Augenzeuge. Am Rand des Platzes wurde ein 26-jähriger Kurde von einem 50-jährigen Anhänger der „Grauen Wölfe" in den Hals gestochen. Die Polizei schirmte den Verletzten schnell ab, erste Hilfe wurde geleistet. Doch bis ein Krankenwagen kam, dauerte es 20 Minuten.

Die Polizei war an diesem Nachmittag in Hannover heillos überfordert, sagten mehrere Beobachter der Szenen in der Innenstadt. Bis zum Abend war die Situation um das Steintor sehr angespannt. Immer wieder provozierten türkische Nationalisten die Kurden, die am Ort des Verbrechens auf Nachrichten aus dem Krankenhaus warteten. Nachdem Todesmeldungen verbreitet worden waren, rief die kurdische Studentenorganisation YXK zur Rache auf und forderte ihre Anhänger auf, nach Hannover zu kommen. Später, als klar wurde, dass der kurdische Demonstrant überlebt hatte, löschte die Organisation ihren Aufruf zur Rache.

Im Laufe der Auseinandersetzungen wurden 30 pro-kurdische Demonstranten von der Polizei in Gewahrsam genommen. Bei den „Grauen Wölfen" gab es vorerst keine Festnahmen. Unter Hannovers Kurden heizte dies die Stimmung weiter an. Erinnerungen an Halim Dener wurden wach, einen kurdischen Jugendlichen, der 1994 beim Anbringen von Plakaten mit dem Symbol der PKK von der Polizei erschossen wurde. Wie angespannt das Verhältnis zwischen Kurden und der Polizei am Samstagabend war, wird auch dadurch deutlich, dass die Polizei sich mit Maschinenpistolen vor dem türkischen Konsulat in Stellung brachte.

Am Sonntag konnte die Polizei dann eine für die Kurden positive Nachricht verbreiten. Der 50-jährige Messerstecher hatte sich gestellt. Die Polizei ermittelt wegen versuchter Tötung. Trotzdem demonstrierten 2.000 Kurden am Nachmittag in der Innenstadt. Die Stimmung während der Demo war von Wut geprägt. Auch die Polizei wirkte sehr angespannt, die Straßenzüge, durch die die Demonstration lief, waren weiträumig abgesperrt. Nur einmal wurde es hektisch, als türkische Nationalisten die Demo aus einem Haus provozierten. Plastikflaschen flogen gegen die Fassade. Die Ordner der Demo und die Polizei bekamen die Situation im Zusammenspiel aber schnell in den Griff.

Das vergangene Wochenende war seit Jahren das erste, an dem sich türkische Rechte und Kurden auf Deutschlands Straßen in so großem Ausmaß gegenüber standen. Der Konflikt in der Türkei schwächt sich derzeit nicht ab, und so muss auch in den kommenden Wochen mit Auseinandersetzungen in Deutschland gerechnet werden.