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Das Leben von Obdachlosen ist in Berlin nun eine Touristenattraktion

Carsten Voss war in seinem früheren Leben Manager in der Modebranche. Dann kam der Burnout und er landete auf der Straße. Wie das damals für ihn war, zeigt er mir und 29 anderen Neugierigen in Berlin auf einer Obdachlosentour. Hier komme ich dem...

Carsten Voss war in seinem früheren Leben Manager in der Modebranche. Dann kam der Burnout und das Leben auf der Straße. Doch das ist Vergangenheit. Nur noch der fehlende Eckzahn erinnert an sein früheres Leben. Heute führt Voss mich und 29 andere Neugierige durch Berlin-Schöneberg um uns zu zeigen, wo man als Obdachloser am besten Pfandflaschen sammeln, in Suppenküchen essen und auf der Straße schlafen kann. Das alles ist eine neue Touristenattraktion in Berlin. Es ist heiß und stickig; 32 Grad. Der Schweiß läuft mir mittlerweile in Bächen den Rücken herunter. Nur meinen Fotografen, Oscar, scheint die Hitze nicht zu stören. Bei diesem Wetter suchen Obdachlose einen kühlen Ort, wo es nicht ganz so heiß ist, erzählt uns Carsten Voss. Das würde auch erklären, warum wir auf der ganzen Tour nur wenige Obdachlose sehen werden. Allerdings sei das eh nicht das angestrebte Ziel dieser Tour, sagt mir Katharina Kühn, ehrenamtliche Organisatorin, später. Vielmehr geht es darum, Aufmerksamkeit zu erwecken. Das Ganze soll kein Zoobesuch werden. Deswegen wird auch bewusst darauf verzichtet, mit dem moralischen Zeigefinger auf den Rand der Gesellschaft zu zeigen.

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Neben den wenigen interessierten Gästen befinde ich mich in guter Pressegesellschaft. Die holländische, brasilianische und deutsche Journalie (Spiegel) ist nämlich ebenfalls mit an Bord, teilweise sogar mit Videokamera. Katharina sagt mir später, dass das keine Seltenheit sei. Die Obdachlosentour läuft erst seit etwas über einem Monat, aber jeden Sonntag ist mindestens ein Pressevertreter dabei, der die Strecke mit abläuft. Die Probleme der Obdachlosen scheinen wieder en vogue zu sein. Dass wir "Medienleute" die ganze Tour mit unseren Fragen und Kameraeinstellungen aufhalten, scheint dabei niemanden zu stören.

Alte Kleidung sollte man nicht in den Kleidercontainer werfen, sagt Voss—sondern lieber an eine Unterstützungsorganisation für Obdachlose spenden. Teil der Tour ist neben einer Wohnungslosentagesstätte und diversen Plätzen auch der Bahnhof Zoologischer Garten. Bekannt geworden durch die Junkie- und Strichervergangenheit, wie sie im Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" erzählt wird, sieht es hier mittlerweile echt schick aus.

Riesige Hotels und imposante Restaurants; Banken statt Bänke mit schlafenden Trinkern. Verändert hat sich hier allerdings wenig, erzählt Voss. Die sozialen Probleme sind dieselben wie damals 1981, das Jahr in dem „Christiane F.", der Film zum oben genannten Buch, erschien. Nur weniger sichtbar seien sie. Die wahre Realität der Wohnungslosen, der minderjährigen Sexarbeiter und der Drogen spiele sich in den Schatten ab. Drüben bei der alten Bahnhofsmission und in der Nacht, wenn man sich mit anderen von der Gesellschaft Vergessenen im Park zu Schnaps und Bier trifft.

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Der Verbrauchermarkt Ullrich, die erste Anlaufstelle für Obdachlose, wenn es um die Abgabe von Pfandflaschen geht.

Teil dieser Realität ist auch Ulrichs Supermarkt neben dem Bahnhof, eine Institution in der gesellschaftlichen Schicht der Obdachlosen und Pfandflaschensammler. Jeden Sonntag Vormittag sieht man hier 40 bis 50 Personen, die in langen Schlangen vor den Pfandautomaten stehen, um ihre Beute der letzten Nächte zu Geld zu machen.

Mittlerweile gibt es wohl auch einen Fernseher über den Geräten—zur Unterhaltung dieser Menschenmassen. Doch das ist nicht die einzige Änderung. Direkt neben der Kasse steht ein komplettes Regal für Obdachlose und Trinker: billiges Discounter-Bier und kleine Schnapsflaschen, von vielen als „Pennerglück" bezeichnet. Die Ökonomie passt sich also auch hier an, wer hätte das gedacht.

Der Brite Robert vor dem neuen Waldorf Astoria. Dann doch noch ein Obdachloser, den wir an der Kreuzung hinter dem Bahnhof Zoo treffen. Mein Fotograf fragt, ob er ein Foto von ihm vor dem neu gebauten Superhotel Waldorf Astoria machen kann; des starken Kontrastes wegen. Der Obdachlose, ein Engländer namens Robert, freut sich über die Aufmerksamkeit und stimmt zu.

Erst als wir fragen, ob wir ihm vielleicht zwei Euro dafür geben können, wird er wütend. Darauf ist er nicht angewiesen, sagt er. Das deckt sich mit der Aussage von Carsten Voss: „Viele Leute, die auf der Straße leben, sind mit ihrem Lebensweg sehr zufrieden. Sie wollen auch keine Almosen oder Mitleid. Nur Wegschauen soll man nicht", sagt er. Nichts sei so schlimm, wie ignoriert zu werden.

Einer der wenigen Obdachlosen, dem wir auf der Tour begegnen, bettelt vor dem Bahnhof Zoo um Geld. Als ich Voss frage, ob es nicht doch etwas gebe, dass er von damals vermisse, meint er: „Die Zeit. Damals habe ich auf meinen Streifzügen durch den Kiez mehrere Schuhsohlen durchgelaufen und täglich Neues entdeckt. Das ist heute zeitlich nicht mehr möglich." Außerdem vermisst Voss manchmal die Kameradschaft unter den Obdachlosen. Wenn jemand zu Geld kam, gefunden oder sonst wie beschafft, wurde geteilt und jeder bekam ein Stück vom großen Kuchen; oder einen Schluck Doppelkorn. Nur Freundschaften, die gab es nie wirklich. Jeder Obdachlose war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Ähnlich wie bei uns: den Leuten, die nicht auf der Straße leben. In diesem Augenblick bekommt das Wort „Parallelgesellschaft" für mich eine neue Bedeutung.

Fotos: VICE Media