Stell dir vor, dein neuer Nachbar ist ein Flüchtling
Comfort mit Tochter | Alle Fotos: Home Stories

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Stell dir vor, dein neuer Nachbar ist ein Flüchtling

Eine neue Webseite zeigt Geflüchtete in ihren Wohnungen—und gibt ihnen so ein Stück ihrer Würde zurück.​

Ein Dach über dem Kopf zu haben, gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen, das ist jedem bewusst. Trotzdem hat sich der Großteil der Deutschen bis vor Kurzem wohl eher selten darüber Gedanken machen müssen, wie wichtig eigener Lebensraum wirklich ist. Durch die Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge hat sich das schlagartig geändert: Die Flüchtlingskrise ist vor allem auch eine Unterbringungs- und Wohnraumkrise.

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Die deutschen Behörden sind von der Masse der Menschen, die es plötzlich unterzubringen gilt, immer noch völlig überfordert. In der Not entstanden überall in Deutschland Zeltstädte und Container-Siedlungen. Turnhallen und Baumärkte wurden zu Erstaufnahmezentren umfunktioniert. In solchen Massenunterkünften lebt man auf engstem Raum zusammen, Privatsphäre gibt es so gut wie keine. Für Menschen, die vorher oft wochenlang unter schwierigsten Bedingungen auf der Flucht waren und jetzt vor allem dringend Ruhe brauchen, ist das noch um einiges belastender. Je schneller sie in eine eigene Wohnung einziehen können, desto besser.

Comforts Sohn | Foto: Home Stories

Die Webseite „Home Stories: Unsere neuen Nachbarn" zeigt Geflüchtete in ihren eigenen Wohnungen—also in gewisser Weise die, die es geschafft haben. Dem Dortmunder Projekt, das von der Kommunikationsdesignerin Alexandra Breitenstein ins Leben gerufen wurde, geht es dabei um zwei Sachen: Auf der einen Seite will sie den Geflüchteten durch die intimen Porträts in den eigenen vier Wänden die Individualität zurückgeben, die in der öffentlichen Wahrnehmung des „Flüchtlingsproblems" oft zu kurz kommt. Zum anderen will sie zeigen, wie wichtig dezentrales Wohnen für eine gelungene Integration sein kann. Wir haben mit Alexandra über das Projekt gesprochen.

VICE: Warum legt das Projekt einen so starken Fokus auf die Wohnungen der Geflüchteten?
Alexandra Breitenstein: Weil man durchs Wohnen Persönlichkeit zeigt. Wenn man diese Menschen so in der Masse sieht, wird ihnen die Persönlichkeit erstmal aberkannt. Ich zeige viele Details in den Bildern, und diese vielen Details ergeben ein Bild.

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Bei Comfort zu Haue | Foto: Home Stories

Wie bist du auf diese Idee gekommen?
Ich habe diese Refugee-Geschichte von Anfang an verfolgt und fand irgendwann unschön, dass diese Leute selber nicht gefragt werden. Dann habe ich durch einen Freund Kontakt zu dem Projekt „Ankommen" bekommen. Die helfen Leuten, Wohnungen zu finden, mit Vermietern zu verhandeln, zu renovieren. Es ist ziemlich schwierig, dezentrale Unterbringungen zu finden. Durch den Kontakt mit dem Verein, bin ich irgendwann auf die Idee gekommen, das journalistisch zu begleiten.

Die Fotos sehen manchmal fast ein bisschen wie ein Inneinrichtungsblog oder „Freunde von Freunden" aus, ist das Absicht?
Ja, das habe ich schonmal gehört. Aber vergleichen kann man das nicht, die Leute haben nunmal keine stylishen Wohnzimmer und keine stylishen Küchen, die haben nur wenige Sachen. Es geht aber nicht darum, das als was Schlechtes zu inszenieren—ich will zeigen, dass sie mit dem Wenigen etwas Schönes improvisieren.

Bie Hassam | Foto: Home Stories

Das heißt, du willst so ihre Persönlichkeiten zeigen?
Ja. Da gibt es zum Beispiel Hassan, der sich die ganze Wohnung mit Masking Tape zugeklebt hat, weil er Dekorieren mag und es schön haben will. Oder Mohammed, der Maler und Inneneinrichter war und versucht hat, es sich mit ganz wenig Geld schön zu machen. Das sieht man natürlich ganz heruntergebrochen schon in der Unterkunft: Wenn die Leute eine Ecke haben, hängen sie ein Bild auf.

Hassam | Foto: Home Stories

Aber in der eigenen Wohnung ist das natürlich viel besser. Das möchte ich mit den Bildern ja auch zeigen: Die dezentrale Unterbringung funktioniert. Dass die Integration dadurch besser läuft.

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Woran merkst du das?
Wenn man mit den Leuten redet, dann merkt man sofort, dass sie sich über diesen Rückzugsort, dieses Zuhause freuen. Die freuen sich, einen einzuladen und ganz viel Essen anzubieten—das machen die meisten. Man ist erstmal Gast, und die sind sehr stolz, jemanden einladen zu können, weil sie wieder was eigenes haben.

Bei Esmail | Foto: Home Stories

Wie lange willst du das noch weitermachen?
Das Projekt läuft ein Jahr, dabei sollen 25 solcher Porträts entstehen. Es werden wohl eher mehr, weil jetzt immer mehr Anfragen kommen.

Was hoffst du, bei den Deutschen damit zu erreichen?
Die bekommen die Möglichkeit, sich das wirklich mal in Ruhe durchzulesen und die Fotos anzuschauen. Dann können sie selber sagen, ob sie davon was wissen wollen oder nicht. Idealerweise kann man damit Nachbarn, Vermieter und Wohnungsbaugesellschaften erreichen und deren Vorbehalte abbauen. Es geht um Aufklärung im weitesten Sinne.

Esmail | Foto: Home Stories